Appetit - Staatsschauspiel Dresden
Fern der Ackerkrume
25. Februar 2022. Wie sehr wir alle uns der industriellen Landwirtschaft ausgeliefert haben, beschäftigt die Dresdner Bürgerbühne. In ihrer Recherche-Performance verzichten sie dabei auf jeden verdauungspädagogischen Zeigefinger.
Von Michael Bartsch
25. Februar 2022. Nicht, dass stets zuerst das Fressen und dann die Moral käme! Brecht müsste seine Zeilen aus der Dreigroschenoper heute gewiss überprüfen, denn einfach so weiterfressen geht ohne Moralin für uns nicht mehr. Und wenn einem die Dresdner Bürgerbühne verdeutlicht, dass statistisch gesehen alle vier Sekunden ein Mensch verhungert, empfiehlt es sich, zwei Zeilen aus Brechts "Wovon lebt der Mensch?" weiterzulesen: "Erst muss es möglich sein auch armen Leuten, / vom großen Brotlaib sich ihr Teil zu schneiden."
Die Inszenierung "Appetit" im Kleinen Haus des Dresdner Staatsschauspiels greift indessen nicht auf Brecht zurück, sondern auf die Demeter-Erzählungen der griechischen Mythologie. Nicht von ungefähr, denn auch der erste deutsche Bio-Agrarverband wurde vor rund hundert Jahren im Namen der Fruchtbarkeitsgöttin gegründet. Das waren noch Zeiten, möchte man seufzen, als man sein Getreide für die Frühstücksbrötchen noch selber aussäen und die Wildtiere für das Sonntagsschnitzel noch selber jagen und ausnehmen musste! Denn die fünf Spielerinnen und Spieler möchten uns verdeutlichen, wie weit wir uns von der Scholle entfremdet und einer industriellen Landwirtschaft ausgeliefert haben und wie sehr unsere Ernährung eine künstliche geworden ist.
Harte Wirklichkeit in weicher Umgebung
Das tun sie auf beinahe poetische Weise, verzichten auf jeden verdauungspädagogischen Zeigefinger und unterscheiden sich damit wohltuend von manchen oft kommerziell orientierten Ernährungsagitatoren, die in einer auf Selbstoptimierung bedachten Gesellschaft ein leichtgläubiges Publikum finden. Die Besucher, ob nun schon durch ein Abendbrot aus dem Supermarkt gemästet oder nicht, treten auch nicht in einem Schulungsraum ein, sondern in eine Art Wohlfühl-Panometer. Auf der Bühne des Kleinen Hauses stehen keine Tribünen, sondern die Zuschauer nehmen auf gelben Quadern Platz, in einem ovalen Leinwandsaal, den geschickt angeordnete Beamer in Räume oder Landschaften verwandeln.
Es sind nicht mehr als zwanzig, die hineindürfen, also etwa so viel wie Mitwirkende. Ihre geringe Zahl kann nicht nur an den strikten Seuchenregeln liegen, denn der Raum ließe in seiner an den Bühnenpionier Appia vor 110 Jahren erinnernden Durchmischung von Akteuren und Publikum gar keine größeren Zahl zu. Diesen Besuchern zieht es schon auf dem Weg vom Foyer übrigens im Wortsinn die Schuhe aus. Denn der Bühnenboden besteht nicht etwa aus rauer karger Ackerkrume, sondern aus feinstem hellen Belag, dessen Unberührtheit sich über möglichst viele anstehende Repertoirevorstellungen erhalten soll.
Weltprobleme aus Regionalperspektive
Das Know How liefert die Hamburg-Berliner Costa Compagnie, eine dokumentarisch und rechercheorientiert arbeitende multimediale Performergruppe. Regie führt ihr Gründer Felix Meyer-Christian. Man möchte aber diese unpolemische Arbeit nicht auf Dokumentarisches reduzieren. Dafür ist sie zu sinnlich und atmosphärisch angelegt. Immer sitzen die Zuschauer mittendrin, zuerst in einer archaischen oder auch assoziativ mythologischen Landschaft, dann inmitten einsiedlerischer Höfe, Sandsteinfelsen der Sächsischen Schweiz, später in Laboren, Großmarktlagern oder alternativen Läden. Dazwischen mahnen Projektionen von Wäldern und Naturvideos immer wieder an die Umgebung unserer Vorfahren und an die Herkunft unserer bis heute nachwirkenden Prägungen.
Die fünf Spielerinnen und Spieler, deren jüngste erst elf Jahre zählt, haben zum Text und zur Recherche viel beigetragen. Sie brechen die großen Fragen gesunder Ernährung, der Agrarstruktur und der Massentierhaltung, des Raubbaus zu Lande oder in den Meeren und der Ausbeutung von Erzeugern in anderen Erdteilen auf die regionale Ebene herunter. Es sind sächsische Professoren, Landwirte, Schlachthofarbeiter, Obstzüchter, Großhändler, alternative Bäcker oder ernährungsbewusste Ladenbetreiber, deren Videointerviews die Zuschauer dank des 360-Grad-Panoramas sozusagen live miterleben.
Zurück zu Demeter
Selbstverständlich geben die Akteure als Hülsenfruchtfans oder Diätassistenten ihren Bautzener Senf dazu, berichten von ihren persönlichen Geschmacksvorlieben. Eher sanft nehmen sie das Publikum mit in ihre reflektierende Distanz zum "Gewaltmonopol des Menschen" gegenüber der Natur. Sie führen uns die Lächerlichkeit unserer Wohlstandsansprüche vor, wenn wir etwa perfekt gestylte rote Äpfel erwarten, aber ein Drittel unserer Lebensmittel leichtfertig wegwerfen. Die schärferen Formulierungen weltpolitischer Gerechtigkeitsfragen bleiben dem Schweizer Martin Andersson vorbehalten, der namentlich herausgehoben werden soll, weil er mit seiner Bassklarinette auch wesentlich den illustrierenden Sound bestimmt.
Die Moral kommt dicke und bürgerbühnentypisch am Schluss, wenn die Spieler rührend ihre Wünsche und Visionen formulieren. Vernünftige und verantwortungsbewusste Ernährung, Schutzzölle für Waren des Südens, der Allmende-Gedanke. Demeter ist wieder da, wird in einer Apotheose über einem heilen grünen Fleck erhöht. "Die Göttin ist würdig des Liedes!"
Appetit
von Costa Compagnie
Regie, Text und Kamera: Felix Meyer-Christian, Bühne: Zahava Rodrigo, Kostüme: Sabrina Bosshard, Kerstin Grießhaber, Musik: Marcus Thomas, Video: Erik Kundt, Keren Chernizon, Dramaturgie: Sabrina Bohl
Mit: Martin Andersson, Toni Christoph, Fritzi Hamann, Susanne Heber, Emilia Xenodochius
Premiere im Kleinen Haus am 24.Februar 2022
Dauer: 1 Stunde, 50 Minuten, keine Pause
www.staatsschauspiel-dresden.de
Es gehe in "Appetit" um Herrschaft, Gerechtigkeit, den Umgang miteinander, schreibt Marcel Pochanke in der Sächsischen Zeitung (28.02.22). Stellenweise dramaturgisch bemüht erscheinen die Kniffe, mit denen zu Videoeinblendungen gewechselt wird, unnötig künstlich die Einbettung der Szenen in die mythische Erzählung des Demeterkults. "Appetit" sei reich an Eindrücken und Gedanken, lasse aber stärkere Thesen und Stringenz vermissen, sodass die stetig wechselnden Bilder ihre Relevanz nicht voll vermitteln könnten.
"Erbsen sieht man nach diesem Abend ganz gewiss in einem neuen Licht", prophezeiht Rico Stehfest in den Dresdner Neueste Nachrichten (26.02.22). Der Abend sei infomativ-unterhaltend. Durch die Vielzahl an Stimmen, mitunter in Videoeinblendungen, werde die Komplexität des Themas deutlich. "Unter allem liege der Impetus des Verantwortungsbewusstseins für uns selbst."
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