Solange wir am Leben sind

28. Februar 2022. Molotow-Cocktails zubereiten, Unterkünfte organisieren und Einheimischen eine Zuflucht bieten: Ukrainische Theaterschaffende wappnen und wehren sich gegen die Invasion des russischen Militärs in dem Angriffskrieg gegen die Ukraine. Theater werden zu Schutzräumen, in TikTok-Kanälen setzen Künstler:innen ein Gegengewicht zur Kriegspropaganda des Kremls. Ein Bericht aus Kyiv.

Von Lena Myhashko

Im Theater werden aus Büros, Bühnen und Kellerräumen Notunterkünfte für Geflüchtete und Ausgebombte © Lena Myhashko

28. Februar 2022. In diesen Tagen entscheiden sich ukrainische Theaterschaffende – Darsteller:innen, Regisseur:innen, Dramaturg:innen, Dramatiker:innen sowie die Mehrheit der Bürger:innen – dafür, sich der territorialen Verteidigung und Gruppen von Freiwilligen anzuschließen, um die ukrainische Armee beim Widerstand gegen die russischen Streitkräfte zu unterstützen.

Die wichtigste Aufgabe

Alle ukrainischen Kulturinstitutionen sind sich derzeit in einer Sache einig: In diesem absurden und qualvollen Krieg, den Russland im Rahmen seiner fortgesetzten Politik der Erweiterung der sogenannten "russischen Welt" entfesselt hat, ist kein Platz für feige Friedens- und Neutralitätserklärungen. Wir sind uns der Geschichte der Besetzung von Gebieten anderer souveräner Länder – Georgien und Moldawien – sehr bewusst, daher scheint der Schutz des Landes durch territoriale Verteidigung heutzutage die wichtigste Aufgabe für die Künstler:innengemeinschaft zu sein.

So sahen die ersten Tage der Invasion für manche Theatermacher:innen in meinem Land aus:

Yaroslava Kravchenko, eine Gründerin von The Wild Theatre, einer freien Theatergruppe, beschloss, sich am Freitag, dem 25.2., der Initiative zur Herstellung von Molotow-Cocktails am linken Ufer von Kyiw anzuschließen, als die ukrainische Regierung die widerstandsfähigen Ukrainer:innen aufrief, Panzer und andere Militärfahrzeuge daran zu hindern, auf die Straße zu gelangen. Der Molotow-Cocktail – in einer Reihe von Internet-Memes auch als "Willkommensgetränk" für Eindringlinge bezeichnet – ist eine Art Feuerbombe, die für fast jeden Bürger leicht herzustellen ist (erfordert Benzin, Motoröl, Spiritus und eine Glasflasche).

performance by the wild theatre the wild theatre uPerformance der Gruppe "The Wild Theatre" © "The Wild Theatre"

Als Institution hat das "Wild Theatre" von Anfang an konsequent Themen rund um Feminismusbewegung, häusliche Gewalt und die heutige Demokratie behandelt. So unterstützten sie beispielsweise zusammen mit dem Kultur- und Museumskomplex Mystetskyi Arsenal die letzten belarussischen Proteste in einem Projekt. Die Gruppe inszenierte auch Texte von Martin McDonagh, Michel Marc Bouchard und anderen zeitgenössischen Dramatiker:innen aus der Ukraine und dem Ausland.

Schutz im Keller des Theaters

Hier in der Hauptstadt der Ukraine haben wir auch ein Theaterstudio, das Produktionen in englischer Sprache herausbringt. Es funktioniert sowohl als Schauspielschule für erwachsene Laien als auch als Theaterstudio mit Aufführungen fürs Publikum. Alex Borovenskyi, ein Einsatzleiter, bat mich, den speziellen Namen des Theaters heute nicht zu nennen, da es sich direkt in einem Bezirk befindet, wo der Beschuss an diesem Wochenende fortgesetzt wurde. In den letzten Tagen ist es ihnen gelungen, in ihrem Keller einen Luftschutzbunker zu organisieren.

shelter in a studio 1 Lena Myhashko uLuftschutzunterkunft im Theaterstudio © Lena Myhashko"Seit dem ersten Tag der russischen Invasion haben wir mehr als 30 Einheimische und sechs Katzen beherbergt, Proberäume und Aufführungsbereiche werden in Schlafzonen umgewandelt. Die Atmosphäre ist nett und freundlich: Requisitenflaschen des Theaters stehen für Molotow-Cocktails bereit. Bewohner:innen der Theaterherberge haben einen Tik-Tok-Kanal – DSP News – eingerichtet, der die russischen Besatzungsbemühungen verspottet. Kunst kann eine Waffe sein", teilte Alex mit.

Viele Schauspieler:innen, Musiker:innen, Performer:innen usw. haben sich ebenfalls der Territorialverteidigung angeschlossen. Antonina Romanova, eine nicht-binäre Performerin von der Krim, die mit dem PostPlay Theatre zusammenarbeitet, schloss sich einer dieser Gruppen an, um die Einheimischen zu schützen. "Heute halte ich zum ersten Mal ein Maschinengewehr in der Hand. Es zeigte sich, dass ich es sehr schnell mit Munition bestücken kann", so der Kommentar eines Darstellers. "PostPlay", bei dem Antonina als Regisseurin arbeitet, ist ein politisches Theater, das in der Vergangenheit mehrere Koproduktionen und Partnerschaftsprojekte mit dem Moskauer Theater.doc und dem deutschen Regisseur Georg Genoux hatte. Derzeit setzen sie ihre Arbeit als "PostPlay Lab" fort.

Inakzeptabel

Dies sind nur einige Geschichten, die ermöglichen sollen, sich die Atmosphäre hier in der Ukraine vorzustellen. Auch einige Kolleg:innen aus den Regionen teilten auf meine öffentliche Bitte hin ihre Aktivitäten mit: Schauspieler:innen und Regisseur:innen in Riwne stellen dieser Tage Tarnnetze zur Territorialverteidigung her, Theatermacher:innen in Charkiw sammeln Lebensmittel, Decken und andere Güter für Soldaten.
Wie wir sehen, unterstützen oder tolerieren inzwischen viele russische Kulturinstitutionen und Kulturschaffende diese Invasion, die aus Sicht der zeitgenössischen Demokratie inakzeptabel ist.

Dima Levytsky, ein ukrainischer Regisseur, der letztes Jahr eine monatelange Ausbildung bei dem Berliner Kollektiv Rimini Protokoll absolvierte, rief Institutionen und Künstler:innen weltweit dazu auf, die kulturelle Blindheit der Russen nicht hinzunehmen und die Ukrainer:innen auf jede erdenkliche Weise zu unterstützen:

"Mein Name ist Dima Levytsky. Ich bin ein Theaterregisseur aus der Ukraine. Ich erstelle Audiowalks im urbanen Raum. Aber jetzt ist es in meinem geliebten Kyiv unmöglich, auf den Straßen der ukrainischen Städte zu gehen – wegen der russischen Truppen. Sie töten Menschen, sie zerstören die Stadt, sie rauben unsere Häuser aus. Sie schießen aus Raketenwerfern, schießen aus Panzern und Maschinengewehren. Russische Truppen tun das! Das macht Wladimir Putin! Genau in diesem Moment. Vor unseren Augen. Ich fordere, keine Aufführungen mehr anzusehen, die von Russland finanziert werden, während Putin in Russland an der Macht ist. Boykottieren Sie auch russische Regierungstheater, solange der Mörder sie kontrolliert! Boykott ab heute. Touren und Einladungen stornieren! Ich glaube, dass in Russland sehr viele großartige Künstler:innen leben, aber solange der Krieg andauert, solange Putin an der Macht ist, sollten wir gegen ihn kämpfen!"

Das einzige, was ich hinzufügen kann, ist, dass wir bestrebt sind, das wahre Gesicht der Ereignisse in der Ukraine direkt von hier aus mit der weltweiten Gemeinschaft zu teilen – solange wir am Leben bleiben und dazu in der Lage sind.

 

LenaMygashko facebook LenaMygashko uLena Myhashko ist Theaterkritikerin, Journalistin und Chefredakteurin von Gwara Media. Darüber hinaus ist sie Expertin mehrerer Programme der Ukrainischen Kulturstiftung. Sie lebt in Kyiv in der Ukraine. 

 

Here is the English Version of Lena Myhashkosa report.

Aus der ukrainischem Stadt Lviv berichtet Oleksii Palianychka.

Aus der ukrainischen Stadt Lviv gibt es einen weiteren Report von Oleksii Palianychka.

Im Interview spricht die Autorin Sasha M. Salzmann über ihre Sicht auf das Geschehen.

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