Lady Sunshine und Mister Moon

5. März 2022. Franz Xaver Kroetz hat das neue Volksstück geprägt wie kaum ein anderer mit seinem harten Blick auf eine oversexed wie verklemmte Gesellschaft, nicht nur in der deutschen Provinz. Jetzt hat Lydia Steier "Der Drang" in München inszeniert und peppt die Tristesse musikalisch auf.

Von Thomas Rothschild

Ungehalten in Missionarsstellung: Christoph Franken als Kroetz' Otto, Nicola Kirsch als Hilde in "Der Drang" © Birgit Hupfeld

München, 5. März 2022. Otto ist fett, stets zum Ficken oder wenigstens zum Wichsen aufgelegt und deprimiert, als er entdeckt, dass sein Schwager Fritz einen viel größeren Pimmel hat als er. Der mit klassischer Musik untermalte Höhepunkt ist für ihn, wenn er bei Mitzi von hinten darf, was sich seine Frau Hilde verbeten hatte. Na wenn das nicht komisch ist!

Wenn sich einmal jemand daran macht, eine Geschichte des deutschen Dramas nach 1945 aus der Perspektive seiner Rezeption zu verfassen, wird der heute 76jährige Franz Xaver Kroetz einer der kuriosesten Fälle sein. Mit seinen mehr als 60 Theaterstücken, die von ihm selbst vernichteten nicht mitgerechnet, gehörte er lange zu den bei Publikum und Kritik erfolgreichsten Dramatikern. Er hat das Neue Volksstück in der Nachfolge von Ödön von Horváth und Marieluise Fleißer geprägt wie außer ihm vielleicht noch Martin Sperr.

Oversexed oder verklemmt?

Doch dann kam der Bruch. 2004 hörte er auf, fürs Theater zu schreiben, teils aus eigenem Entschluss, teils wegen gelegentlicher Schreibhemmungen, teils als Auswirkung einer feindseligen Kritik, deren Motive nicht unbedingt in der Qualität der Werke begründet waren. In Interviews hat Kroetz diese Entscheidung retrospektiv eher gelassen, ja positiv, als klagend betrachtet, mit einer Mischung aus Resignation und Altersweisheit, aus Müdigkeit und anhaltendem Kampfgeist. Für den Außenstehenden erscheint der Verlust, wie beispielsweise auch bei Wolfgang Koeppen, als Tragödie. Für den Betroffenen stellt er sich komplexer und widersprüchlicher dar. In ihm treffen Biographie und überindividuelle (Literatur-)Geschichte auf einander und lassen unterschiedliche Interpretationen und Bewertungen zu.

Fest steht jedenfalls, dass Werke, einmal in die Welt gesetzt, jenseits von ihrem Autor, ihrer Autorin ein Eigenleben führen. Franz Xaver Kroetz mag als Person weitgehend aus der Öffentlichkeit verschwunden sein. Seine Dramen existieren und werden immer wieder einmal durch Inszenierungen in Erinnerung gerufen. Da Intendanten keine Wohltäter sind, darf man daraus schließen, dass ihnen diese Stücke immer noch und möglicherweise auf ganz neue Art relevant erscheinen.

Streit um einen Mann

"Der Drang", 1994 als Bearbeitung des fast zwei Jahrzehnte älteren Stücks "Lieber Fritz" geschrieben, kam selten, aber es kam immerhin auf die Spielpläne. Jetzt fand, nach mehreren Verschiebungen, am Münchner Residenztheater seine Premiere statt, gegenüber von den Kammerspielen, wo "Der Drang" in der Regie des Autors und mit einer Traumbesetzung – Franziska Walser, Edgar Selge, Sibylle Canonica, Horst Kotterba – vor knapp 28 Jahren seine zum Berliner Theatertreffen eingeladene Uraufführung gefeiert hat.

Drang 2 BirgitHupfeld uTreuherzige Küchentisch-Runde in der deutschen Provinz: "Der Drang" von Franz Xaver Kroetz © Birgit Hupfeld

Lydia Steier, die sich mit aufwendigen Operninszenierungen einen Namen gemacht hat, gibt mit Kroetz' Stück im Kammerspielformat ihr Debüt am Resi. Geplant wurde es von der Intendanz, damals, vor dem Wechsel nach München, noch in Basel, als #MeToo in aller Munde war mit Filmproduzenten und Theaterdirektoren, die Abhängige sexuell missbraucht oder gar vergewaltigt haben.

Die Frauen allerdings, die Franz Xaver Kroetz entworfen und Lydia Steier jetzt inszeniert hat, müssen nicht erst zu irgendetwas genötigt werden. Sie halten vielmehr willig ihre Körperöffnungen hin und streiten sich um einen Mann, den sie, schwer nachvollziehbar, zu lieben vorgeben.

Komischer als gedacht

Lydia Steier entscheidet sich vom ersten Moment, vom ersten Stöhnen aus dem Dunkel an für derbe Komik anstelle der Tristesse, die man in dem Text, zumindest auch, durchaus entdecken kann. Sie drückt aufs Tempo. Von den berühmten Pausen des Autors ist nichts mehr vorhanden. Nichts von der Erbärmlichkeit einer scheinbar oversexten, in Wahrheit verklemmten Gesellschaft. Schlager liefern das Zeitkolorit. Conny Froboess ("Lady Sunshine und Mister Moon") und Peter Kraus ("Alle Mädchen wollen küssen") verweisen in die frühen sechziger Jahre.

Drang 3 BirgitHupfeld uAlle Mädchen wollen küssen? Liliane Amuat, Vincent Glander in "Der Drang" © Birgit Hupfeld

Mit keiner anderen Motivation als dass man das heute halt so tut, wird die Handlung durch eine Revuenummer ("I want to be evil") unterbrochen und am Ende mit Paul Abrahams "Reich mir zum Abschied noch einmal die Hände" ergänzt. Zur Erinnerung: Anfang der dreißiger Jahre, vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten, zählte Abraham zu den meistgespielten Bühnenkomponisten seiner Zeit. Danach war er über geraume Zeit vergessen, ehe er nach langer psychiatrischer Behandlung 1960 in Hamburg starb. An dieser Stelle scheint auch der Regie der Humor auszubleiben. Vielleicht hat ihr gedämmert, dass "Viktoria und ihr Husar" mit dem Quartett von Franz Xaver Kroetz so viel zu tun hat wie Fritz, der Ruhepunkt im Tohuwabohu, der zu Beginn des Stücks ankommt und am Ende wieder abreist, mit der aus den Fugen geratenen Welt.

Falscher Dialekt

Kroetz hätte es am liebsten, wenn Dialekt gesprochen würde, weil er "Farbe" bedeutet. Zur Not lässt er auch Hochdeutsch zu. Es sei "immer noch besser als ein schlecht nachgemachtes Bayrisch". Genau das aber spricht man jetzt im Münchner Marstall. Nur einer der vier Mitwirkenden stammt aus Bayern. Man hört's.

Auf einem Karussell kreisen die Klaustrophobie erzeugenden Räume reihum in den Vordergrund. Links und rechts davon sieht man die Insignien einer Friedhofsgärtnerei. Der Tod ist immer präsent. Freilich nur als Behauptung.
Der anwesende Autor bedankte sich mit Luftküssen beim Ensemble. War er höflich, oder gefiel ihm das? Den Drang, danach zu fragen, muss man unterdrücken. Was soll der Mann auch antworten?

Der Drang
von Franz Xaver Kroetz
Regie: Lydia Steier, Bühne und Kostüme: Blake Palmer, Musik: Dennis DeSantis, Video: Jonas Alsleben, Licht: Benjamin Schmidt, Dramaturgie: Constanze Kargl.
Mit: Nicole Kirsch, Christoph Franken, Liliane Amuat, Vincent Glander.
Premiere am 4. März 2022
Dauer: 2 Stunden, eine Pause

www.residenztheater.de

 

Kritikenrundschau

Man merke der Inszenierung die "profunde Musiktheaterexpertise" ihrer Regisseurin Lydia Steier an, die man vor allem als "bildgewaltige, einfallsreiche Opernregisseurin" kenne, schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (6.3.2022): Es herrsche "ein hochpräziser Mechanismus des durchgeknalltes Irrsinns". Die "süchtig machende Sprache von Kroetz" leuchte "in allen möglichen Kunstdialektfarben", und die Darsteller:innen spielten "aufgedreht herrlich", befindet der Kritiker. Zwar tendiere der Erkenntniswert "gegen null, aber das Publikum kichert und gackert unentwegt, der anwesende Autor ist glücklich, und man selbst fragt sich, ob man in diesen Zeiten lachen darf, wenn man lachen muss."

"Das grenz­über­schrei­ten­de Eindrin­gen in die Privat­sphä­re eines ande­ren findet in Lydia Stei­ers Inszenierung in der Über­zeich­nung statt", so Teresa Grenz­mann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (7.3.2022) in der Doppelbesprechung mit "Gier unter Ulmen". Die Schauspieler:innen bilden ein um-werfend komi­sches Acht­zi­ger­jah­re-Quar­tett in der gelungenen Inszenierung.

"Lydia Steier hat sie mit Kroetzscher Sozialkritik und tragödisch umflorter Systemskepsis nichts im Sinn", schreibt Mathias Hejny in der Münchner Abendzeitung (7.3.2022). Einen erotomanen Grand Guignol zaubere sie auf die Bühne. Eine solche Kroetz-Interpretation sei "eine Möglichkeit, die Flucht nach vorne anzutreten" und "mit der entfesselten Komödiantik des darstellenden Quartetts lassen sich unter brüllendem Gelächter die Unterdrückungsmechanismen knirschen hören, die selbst unter der sexuellen Befreiung lauern".

Kommentare  
Der Drang, München: Dialekt
"Falscher Dialekt
Kroetz hätte es am liebsten, wenn Dialekt gesprochen würde, weil er "Farbe" bedeutet. Zur Not lässt er auch Hochdeutsch zu. Es sei "immer noch besser als ein schlecht nachgemachtes Bayrisch". Genau das aber spricht man jetzt im Münchner Marstall. Nur einer der vier Mitwirkenden stammt aus Bayern. Man hört's."
Witzig, im Programmheft gibt es eine relativ lange Interviewpassage mit Herrn Kroetz, in der er sich zu dem Thema einlässt. Da sagt er über Bayrischkenntnisse der Schauspieler:innen: "Das ist das Schlimmste, wenn es einer kann." Weiter: "In dem Augenblick, wo einer dabei war, der Bayrisch konnte und sich auch eingebildet hat, dass er es kann, den musste man als erstes unterdrücken." Und Herr Kroetz berichtet über Edgar Selge: "Der kann auch kein Bayrisch, aber der hat das kapiert, dass man eine Leidenschaft für diese Sprache entwickeln kann. Man muss sich da hineinwerfen und das kriegen, man muss es nur wie eine andere Sprache behandeln." Ingesamt sagt Krotz so ziemlich das Gegenteil von dem, was Herr Rothschild ihm hier in den Mund legt, da würde mich schon die Quellenangabe interessieren, wenn Herr Kroetz sich schon einmal so diametral anders geäußert hat (...)
Der Drang, München: mit Kroetz oder diametral anders rum
Verehrter Christoph, Ihr Wunsch ist mir Befehl. Die Quelle, die Sie interessiert, liegt nicht in Kroetzens Mund, sondern als vorangestellte Anmerkung in der Buchausgabe des Stücks, erschienen 1996 im Rotbuch Verlag. Was Kroetz über Selge sagt und in der zitierten Anmerkung nur andeutet, muss nicht für die Darsteller*innen der aktuellen Inszenierung gelten. Und ich bekenne: Ich lese vor dem Schreiben einer Besprechung grundsätzlich keine Programmhefte. Erstens fehlt mir die Zeit, wenn mein Bericht am nächsten Morgen im Internet stehen soll, und zweitens, wichtiger, bin ich der Ansicht (die Sie nicht teilen müssen), dass die Bühne mitteilen sollte, was Autor, Regie und Ensemble zu sagen haben, und nicht das Programmheft, wo - wie im gegebenen Fall - auch stehen kann, was namhafte Kritiker oder auch der Autor über vorausgegangene Inszenierungen geäußert haben. Wie auch immer: wenn's Ihnen gefallen hat, freut mich das, mit Kroetz oder auch diametral anders rum.
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