Wahrheit oder Pflicht

11. März 2022. Was hat Werther in seinen letzten Stunden im Delirium post Kopfschuss gedacht: "Au, Backe, was war ich eine Rampensau und habe Liebe und Eigentum verwechselt"? Hm. Ewelina Marciniak knüpft sich Werther zum Male-Gaze-Exorzismus vor, ausgerüstet mit neuem Text, Choreo und Fragmentierungs-Skalpell.

Von Georg Kasch

"Werther" am Deutschen Theater © Arno Declair

11. März 2022. Es scheitert mal wieder an den Männern. Eigentlich könnte die Sache zwischen Werther, Albert und ihr ja als offene Beziehung, als Dreieck, als nicht weiter definierte Verbindung funktionieren, als Teil einer Gesellschaft, in der alle glücklich sind: "Ich dachte, die Liebe könnte stärker sein als das Eigentum." Allerdings ist Lotte in diesem Spiel kaum mehr als eine Projektionsfläche, ein Begehrlichkeitsobjekt, an dem beide Männer zerren.

Nun aber, kurz vor Schluss, kriegt sie endlich ihren Monolog. Schließlich sind wir bei Ewelina Marciniak, die so kraftvoll wie entschieden schon ganz anderen Klassikern den männlichen Blick ausgetrieben hat, Der Widerspenstigen Zähmung in Freiburg etwa oder der Jungfrau von Orleans in Mannheim. Für ihre "Werther"-Aneignung hat Jarosław Murawski einen "szenischen Text" geschrieben mit der Frage, was in Werthers Kopf vorgegangen sein könnte, als er nach dem tödlichen Schuss noch zwölf Stunden im Dämmerzustand weiterlebte. In seiner Mischung aus "Werther"-Kommentar, Ego-Monologen, Gesellschaftssatire und Szenen einer (offenen) Ehe bleiben von Goethes Briefroman nur ein sehr loser Handlungsfaden und ein paar wenig markante Sätze.

Grelles Licht, schlechte Dates

Natürlich kommen die Jungs hier nicht gut weg. Werther? Eine Rampensau, die sich in langen Monologen in ihren Gefühlen suhlt. Albert? Seine Lässigkeit ist nur Fassade, innen aber zerfrisst ihn die Eifersucht. Wilhelm? Ein ewig zu kurz Gekommener, vermutlich in Werther verliebt, auf jeden Fall eine arme Wurst. Dazu hat Murawski noch zwei Roman-Nebenfiguren zu Vertreter:innen der Gesellschaft aufgewertet: Herr und Frau S. behakeln einander aufgekratzt und kommen immer mal wieder mit lexikalischen Hintergründen zur Werther-Zeit um die Ecke.

Lotte hingegen ist eine Spielerin, der durchaus auffällt, dass die anderen sich vor allem um sich selbst drehen. Einmal wartet Werther in einem Café auf sie, verzehrt sich vor Sehnsucht und Ungeduld. Als sie endlich erscheint, schwafelt er gleich los, ohne zu merken, dass der Tisch für sie viel zu hoch ist und dass sie auch aus der gereichten Wasserflasche nicht trinken kann, so desinteressiert, wie er sie ihr hinhält.

Das Problem an diesem Moment, ja am ganzen Abend: All das ist grell ausgeleuchtet, bleibt ohne Geheimnis, ohne Sehnsucht. Manchmal flackert sie kurz auf, im "Wahrheit oder Pflicht"-Spiel von Lotte und Werther, im körperlichen Ringen von Werther mit Albert, das im Kuss mündet. Daneben aber geht wenig zusammen. Dominika Knapiks Choreografien, sonst Höhepunkte in Marciniak-Abenden, entwickeln sich nicht organisch, sondern bleiben merkwürdig fremd. Mirek Kaczmareks unterkühlte Bühne – die Spielfläche wird hinten von einer Wand begrenzt, in der sich manchmal ein Zimmer öffnet – wirkt unwirtlich und selbst dann leer, wenn Matratzen, Puppen, ausgestopfte Melancholiewolken herumliegen (später hängen sie auch im Bühnenhimmel). Natalia Mleczaks Kostüme zitieren zwar Werthers gelbe Weste, die hier schwach durch ein schwarzes Gazehemd schimmert. Sie wirken aber in ihrer Raumfahranzughaftigkeit seltsam beliebig. Auch die Musik tröpfelt unmotiviert vor sich hin, um dann die Spielenden bei einem der romantischen Kunstlieder der Kategorie "Leise flehen meine Lieder" zu unterstützen.

Werther2 Arno Declair uUnter den "Melancholiewolken" spielt sich Trauriges ab © Arno Declair

So stolpert der Abend mühsam vor sich hin, reißt hier eine Schublade und dort eine Schranktür auf, ohne wirklich Neues zum "Werther" zu finden oder auch nur zu den Befindlichkeiten junger Menschen heute. Spielfutter bietet er kaum. Regine Zimmermann und Marcel Kohler waren doch schon einmal ein Paar, das nicht zusammenkam, hinreißend damals in den Sommergästen: er so viel größer und so viel jünger als sie und tapsig in seiner Liebe; sie ein wenig kratzbürstig, angeraut, angstwund. Jetzt blitzen in den Begegnungen von Lotte und Werther nur müde Erinnerungen auf. Noch weniger Kontur gewinnen Paul Grills Albert (der auch Herrn S. verjuxen muss) und Thorsten Hierses Wilhelm. Das Unzusammenhängende an Textresten, durch das sich Natali Seelig als Frau S. spielen muss, ist wirklich eine Zumutung. Kein Wunder, dass hier kein Gedanke greifbar wird, nicht mal als Fragment.

Leise flehen meine Nerven

So etwas wie ein ganzes Gefühl gibt’s nur zu Beginn: Da sieht man Werther schwarzweiß in Großaufnahme mit der Waffe an der Schläfe, ganz langsam fährt die Kamera zurück, Tränen rinnen ihm über die Wange. Dann der Schuss, er stürzt ins Laub, Sanitäter kommen. Gut möglich, dass das ein falsches, ein gefährliches Pathos ist und man Werther so nicht mehr erzählen sollte (auch wenn Cosmea Spelleken mit werther.live das Gegenteil bewiesen hat). Dann allerdings kann man's auch lassen. Denn ein Werther, der nur noch aus Klischees, Versatzstücken und Negationen besteht, ist unerträglich.

Werther. Ein Spiel von Liebe und Freundschaft
nach Johann Wolfgang von Goethe, szenischer Text: Jarosław Murawski
Regie: Ewelina Marciniak, Bühne und Licht: Mirek Kaczmarek, Kostüme: Natalia Mleczak, Choreographie: Dominika Knapik, Musik: Jan Duszyński, Videoregie: Ewelina Marciniak / Przemyslaw Chojnacki, Videoproduktion: YANKI FILM, Dramaturgie: Jarosław Murawski, John von Düffel.
Mit: Marcel Kohler, Regine Zimmermann, Paul Grill, Thorsten Hierse, Natali Seelig.
Premiere am 10. März 2022
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

https://www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

Die eigentliche Essenz des Briefromans sei keineswegs die schnöde Dreieckskiste Werther, Lotte und Albert. "Es sind Werthers unruhige Gedanken zu Freiheit und Glück, Verantwortung und Tod, die eine Text-Durchpflügung auf der Bühne verdienstvoll machten." Davon seien an diesem länglichen Zweistünder aber nur wenige Eindrücke gelungen, schreibt Doris Meierhenrich von der Berliner Zeitung (11.3.2022).

Bei aller Formspielerei fehle die inhaltliche Stringenz und das Interesse an den Figuren, so Barbara Behrendt vom RBB (11.3.2022). "Ewelina Marciniak setzt auf eine oberflächliche, ermüdende Lustigkeit, die mit Liebe wenig zu tun hat." Die Kritikerin hatte den Eindruck, dass die Schauspieler sich nicht damit wohlgefühlt hätten, was sie verkörperten.

Kommentare  
Werther, Berlin: quälende Momente
Der Kritik von Georg Kasch ist wenig hinzuzufügen. Schade um diese begabte Regisseurin, die ihr Können schon mehrfach bewiesen hat!

Zwischen Herumalbern und pathetischem Leiden findet die Inszenierung nie den richtigen Ton. So ziellos wie die gesamte Inszenierung wirkt auch die Überschreibung von Marciniaks Dramaturgen Jaroslaw Murawski, die er als „Ein Spiel von Liebe und Freundschaft“ nach Goethe bezeichnete. Zu den quälendsten Momenten einer missglückten Aufführung zählen die mehrfachen, erfolglosen Versuche der Spieler, das Publikum in der ersten Reihe zum Mitmachen zu animieren.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/03/10/werther-ewelina-marciniak-deutsches-theater-kritik/
Werther, Berlin: unbeantwortet
eine überflüssige, langweilige Inszenierung, man hat den Eindruck, dass die Schauspieler bei diesem verordnetem Spiel nicht eins mit sich sind, die Frage was Liebe oder Freundschaft ist -bleibt unbeantwortet- schade
Werther, Berlin: Zu Empfehlen
Rezension

Ein gutes Trauerspiel


„So stolpert der Abend mühsam vor sich hin, reißt hier eine Schublade und dort eine Schranktür auf, ohne wirklich Neues zum ^Werther^ zu finden oder auch nur zu den Befindlichkeiten junger Menschen heute.“ Dies ist die Bemerkung des Autors Georg Kasch in seiner Rezension „Wahrheit oder Pflicht“, das Theaterstück: „Werther. Ein Spiel von Liebe und Freundschaft“ von der Regisseurin Ewelina Marciniak. Es wird derzeit im Deutschen Theater aufgeführt und handelt vom Selbstmord Werthers, welcher den Inszenierten Handlungsrahmen des Stückes ausmacht. Der hat sich bekanntlich aus Liebeskummer zu Lotte, welche mit Albert verlobt war, erschossen. Damit beginnt und endet das Stück. Der Inhalt dazwischen ist das Gedankengut Werthers in seinen letzten zwölf Stunden, bis er durch den Blutverlust stirbt. Diese Zeitspanne bietet viel Raum für Interpretationen.
Aus diesem Grund lehne ich die Behauptung Krachs, der Abend stolpere vor sich hin und man finde nichts Neues zum Werther, ab.
Am Anfang des Stückes sieht man den Titelhelden Werther auf einer Videoleinwand mit einer Pistole an der Schläfe. Diese Spannung wird vom Ensemble durch Pantomime und stand up Comedy gehalten. Dies wirkt für den Zuschauer erstmals innerhalb dieses doch sehr düsteren Rahmens befremdlich. Verbunden mit den schwer identifizierbaren Objekten, gar komisch. Zwischen diesen Kontrasten schafft dieses Stück den Zuschauer konstant zum genaueren hingucken zu animieren. Während des Stückes wird klar, dass die Dreiecksbeziehung von Werther, Lotte und ihrem Verlobten Albert, mehr darstellt als nur eine Sturm und Drang Geschichte. Es ist ein Spiel von Freundschaft und Liebe, aber auch von verpassten Möglichkeiten. Ewelina Marciniak schafft durch die Inszenierung der Darsteller und durch Aspekte wie das Einbinden in einen Gedankengang Werthers mit dem Publikum über die Liebe, neue Bedeutungen für die eigentlichen Aussagen des Briefromans zu erschaffen. Die dadurch aufgetanen Freiräume werden durch ein gutes Bühnenbild unterstützt und die Spannungsfelder Liebe und Gefühle erscheinen in einem anderen Licht. Damit wäre die Kritik des fehlendem „Neues“ auch widerlegt. Das Stück ist jedem zu Empfehlen, wenn man sich auf etwas anderes, als nur eine Nacherzählung des Romans einlassen kann. Es erwartet ein zwei Stunden wahre Kunst, die versprechen nicht langweilig zu werden.
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