Rettet wieder kein Schwein die Welt?

1. November 2023. Kein schlechtes Gewissen beim Biss in das Wurstbrot? Miriam Tscholls interaktive Performance "Pigs" an den Münchner Kammerspielen kann das ändern. Hier steht das Publikum Frage und Antwort, um die eigene Doppelmoral zu ergründen. Jetzt ist das Stück nach Hannover weitergereist

Von Martin Jost

"Pigs" in den Münchner Kammerspielen © Judith Buss

14. März 2022. Hat man denn keinen Moment seine Ruhe? Nein, hat man nicht. Man kann jederzeit ein Mikrofon hingehalten bekommen und über die eigene Doppelmoral ausgefragt werden. So war es bereits bei der Premiere an den Münchner Kammerspielen, und so ist es jetzt auch im koproduzierenden Schauspiel Hannover. Ein Trost:  Wenigstens ist man kein Schwein. Schweinen ergeht es ja noch viel schlimmer.

Expert:innenstimmen

Wir sitzen in Schweinekoben aus feuerverzinktem Stahlrohr, mutmaßlich authentisches Schweinekoben-Material. Genau 30 Koben für Publikum gibt es, angeordnet im Kreis. In der Mitte des Raums ein ebenfalls kreisrundes, weißes Podest, das aussieht wie eine große Torte. Auf dem Podest erleben wir Martin (Martin Weigel) und André (André Benndorff) in kurzen Spielszenen und Musikeinlagen, wenn sie uns nicht gerade ausfragen und Mikros hinhalten. Auf unseren Barstühlen, bezogen mit Rauhleder (echt?), können wir uns aber auch umdrehen. Dann sitzen wir mit dem Rücken zur Tortenbühne und haben einen Monitor vor der Nase, auf dem Expertinnen und Experten uns ihre Sicht auf Tierhaltung und Fleischverzehr erläutern. Sechs von dreißig Expert:innen wird jede:r von uns im Laufe des Abends hören: Zum Beispiel den überzeugten, handwerklich arbeitenden Metzger; die Tierrechts-Aktivistin; oder den Wissenschaftler, der Netzwerke von Agrarpolitiker:innen und Fleischlobbyist:innen erforscht hat.

PigsEs spielen: André Benndorff, Simone Oswald, Hardy Punzel, Martin Weigel Konzept & Regie: Miriam TschollAusstattung: Bernhard SieglVideoproduktion: Michael KleinhennAudiovisuelle Gestaltung & Programmierung: Georg WernerMusik: Polly EsterDramaturgie: Xenia Bühler, Rania MleihiTheaterpädagogik: Philipp BoosIn der partizipativen Inszenierung von Miriam Tscholl kann man sich wie ein armes Schwein fühlen © Judith Buss

Martin und André singen am Anfang die mosaischen Speiseverbote im Stil eines Gospel, später referieren sie über die Folgen der Erderwärmung und wie sich die Tierhaltung auf den CO2-Ausstoß auswirkt. Dann werden Infografiken auf die Bühne projiziert, das runde Podest wird zum Tortendiagramm in der Bühne von Bernhard Siegl. Auch ziemlich zu Anfang haben die beiden Schauspieler einen Schlachtvorgang nachgestellt. Dafür hat Martin den bis auf die Unterhose ausgezogenen André mit Theaterblut bemalt, einmal sogar hochgehoben und wieder hingeworfen. Begleitet immer von seinen Erläuterungen, was einem Schwein bei der industriellen Schlachtung widerfährt. Wir lernen, dass zehntausende unter Millionen getöteter Schweine nicht ordentlich betäubt sind, wenn sie in den Brühkessel eintauchen und dass selbst eine vorschriftsmäßige Betäubung eine ziemliche Quälerei sein kann.

Didaktisch, aber wirkungsvoll

In der Mitte des Stücks wird das Publikum interviewt. Regisseurin Miriam Tscholl, Expertin für Partizipation, hat uns zu einer Art Bürgerversammlung einberufen. Wir müssen eine Frage beantworten, woraufhin wir uns für jemand anderen eine neue Frage aussuchen dürfen. Ideen für Fragen finden wir an unserem Platz auf laminierten Menüzetteln in einer kunstledernen Wirtshaus-Speisekarte. "Wer war schon mal bei einer Schlachtung dabei und würde davon erzählen?" "Ist Metzger ein ehrbarer Beruf?" Und: "Welche Doppelmoral hast du?" Das ist alles irrsinnig didaktisch, aber wirkungsvoll. Der schnelle Wechsel von Medien und Genres hält einen bei der Stange. Präsent ist man aber schon deshalb, weil man jederzeit etwas gefragt werden könnte. Die Chance, dass man kein einziges Mal etwas ins Mikro sagen muss, ist verschwindend gering. Dazu kommt, dass selbst zwei Personen, die in derselben Vorstellung waren, ganz verschiedene Tier- und Fleischexpert:innen gehört haben und sich darüber austauschen können.

PigsEs spielen: André Benndorff, Simone Oswald, Hardy Punzel, Martin Weigel Konzept & Regie: Miriam TschollAusstattung: Bernhard SieglVideoproduktion: Michael KleinhennAudiovisuelle Gestaltung & Programmierung: Georg WernerMusik: Polly EsterDramaturgie: Xenia Bühler, Rania MleihiTheaterpädagogik: Philipp BoosZeigen, wie Schlachten (nicht) funktioniert: André Benndorff, Simone Oswald, Hardy Punzel und Martin Weigel © Judith Buss

"Pigs" ist die erste künstlerische Koproduktion der Münchner Kammerspiele mit der ebenfalls städtischen Schauburg, dem Theater für junges Publikum. Einen Tag später hat das Stück seine zweite Premiere: Simone Oswald und Hardy Punzel spielen die gleiche Inszenierung, ebenfalls in der Therese-Giese-Halle. Die Schauspielerin und der Schauspieler von der Schauburg werden "Pigs" vor allem vor Schulklassen geben. Ihre Figuren dürften andere sein als André und Martin. Deren Dynamik hat etwas von "Guter Bulle, Böser Bulle". Der rote Faden in den Szenen ohne Publikumsbeteiligung ist der moralische Druck, ein nachhaltiges Leben zu führen und so die Welt zu retten. Sind dafür echte Opfer nötig, oder nur das Überwinden von ein bisschen Bequemlichkeit? Martin fordert von André Fleischverzicht, später legt er aber noch einen drauf: Wir sollten vielleicht keine Kinder in die Welt setzen, um die Erde zu entlasten.

Stresslevel: Schweinen geht es schlimmer

Martin ist kontrolliert, gibt den sanften Riesen, aber er ist auch gnadenlos. André verkörpert die Widersprüche, die ihn förmlich zerreißen, bis zur Hysterie. Es wird zwar viel gekämpft und geschrien, aber die emotionale Wirkung hält sich in Grenzen. Die Affekte in diesen Szenen sind eher schrill als mitreißend. In der Aktivierung unserer Empathie hätte das Stück noch ein bisschen aufrüsten können, wo es uns so offensichtlich von etwas überzeugen will. Die titelgebenden Schweine fehlen praktisch ganz. Von ihrer Ähnlichkeit mit uns Menschen, ihrer Intelligenz und ihren individuellen Persönlichkeiten ist zwar viel die Rede, in zwei Schweineaugen blicken wir aber nie. Andererseits: "Pigs" lässt uns auch so schon nicht in Ruhe. Ein Schwein in einer Schlachtfabrik würde über unser Stresslevel nur milde lächeln. Aber dass wir uns bei der Rettung des Planeten noch mal zurücklehnen und einfach nur zuschauen dürfen, können wir uns abschminken.

 

Pigs
von Miriam Tscholl
Regie: Miriam Tscholl, Bühne und Kostüme: Bernhard Siegl, Musik: Polina Lapkovskaja, Dramaturgie: Xenia Bühler, Rania Mleihi, Audiovisuelle Gestaltung & Programmierung: Georg Werner, Videoproduktion: Michael Kleinhenn.
Mit: André Benndorff, Martin Weigel (Münchner Kammerspiele) bzw. Simone Oswald, Hardy Punzel (Schauburg)
Uraufführung am 13. März 2022
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

www.staatstheater-hannover.d

Disclosure: Der Autor ist im Hauptberuf Angestellter der Münchner Volkshochschule GmbH, die mit der Landeshauptstadt München dieselbe Gesellschafterin hat wie die Münchner Kammerspiele und die Schauburg.

 

Kritikenrundschau

"Nicht die x-te Volksbelehrungsveranstaltung geben zu wollen und doch immer wieder darauf zurückkommen zu müssen, weil sich ja etwas ändern muss, ist die Crux jedes Klima-Theater-Abends", schreibt Sabine Leucht in der taz (15.3.2022). "Da schlägt sich dieser schon ganz gut, weil er zumindest in den zugespielten Experten-Statements jedes Argument gelten lässt und keine Stimme lächerlich macht." So scheine die Komplexität des Themas insbesondere in den zugespielten Experten-Statements auf. "Die Aktionen der Schauspieler aber sind ungleich plakativer; sie spielen uns unsere Doppelmoral-Krämpfe und Zerreißproben vor und holen uns mit hartnäckigen Fragen wie 'Welche Stellung unter den Lebewesen gibst du dem Menschen?' aus unserer bequemen Zuschauerrolle. Das erwachsene Premierenpublikum lässt sich höflich darauf ein. Der Abend wird aber möglicherweise eine ganz andere Dynamik entfalten, wenn auf den drehbaren Stühlen zwischen Monitoren und bespielter Bühnenmitte eine Schulklasse sitzt."

"Am Ende fühlt man sich tatsächlich etwas überfüttert" von all den Informationen, so Barbara Hordych in der Süddeutschen Zeitung (online 14.3.2022). "Aber auch angespornt." Schließlich habe der Mensch anders als ein Schwein die Fähigkeit, Visionen zu entwickeln, zum Beispiel die von einer besseren Welt.

Der Abend "verstärkt das schlechte Gewissen und ringt einem bei einem finalen Ritual womöglich ein Versprechen ab", schreibt Michael Stadler in der Münchner Abendzeitung (16.3.22): Essgewohnheiten ließen sich "oft nur schwer durchbrechen", Veränderung tue aber not. "So ist der moralische Zeigefinger bei 'Pigs' durchaus und zwar zu Recht ausgestreckt und bohrt mit sanftem Druck ins eigene Fleisch", urteilt der Kritiker. 

"Ja, es ist unangenehm, plötzlich selbst im Fokus zu stehen, vom Scheinwerfer geblendet, moralisch hinterfragt", bekennt Melanie Brandl im Münchner Merkur (17.3.22). Aber gerade das wolle Regisseurin Tscholl mit ihrem partizipativen Stück erreichen: "Es soll wehtun, soll pieksen in unseren Wohlstandsspeck." Das Fazit der Kritikerin: "Spannend, kurzweilig, anregend, teilweise tatsächlich unbehaglich" habe sich der Abend angefühlt.

 

Kommentare  
Pigs, München: zu schade?
Schlimmstes pädagogisch-didaktisches Mitmachtheater, die Kammerspiele haben sich aus der Kunst verabschiedet. Und wieso spielt eigentlich für Schüler*innen ein anderes Ensemble als das im sogenannten Abendspielplan? Ist sich das Kammerspiele-Ensemble zu schade für Vormittags-Vorstellungen? Da sind andere Häuser, die nach aussen weniger dick politisch auftragen, sondern einfach inhaltlich und künstlerisch eine gute Arbeit machen schon viel weiter.
Pigs, München: Eindrücklich
Mich hat die direkte Ansprache dazu gebracht meinen Fleischkonsum ernsthaft zu überdenken.
Pigs, München: Großes Kino statt winziger Mode
Wenn's denn unbedingt sein muss, schlage ich vor: "Le sang des bêtes" von Georges Franju. Das ist 53 Jahre alt und kommt ohne prätentiöses Geschwätz von "interaktiv" und "digital" aus und lehrt einen das Grausen auch ohne den Zwang zum infantilen Mitmachen.
Kommentar schreiben