Kriegsschauplatz Theater

17. März 2022. Drei Wochen nach Beginn des "Sonderoperation" in der Ukraine gehört das Theater zu den am stärksten belasteten Bereichen des russischen Kulturlebens: Stücke und ganze Festivals werden abgesagt, Dramatiker:innen und Regisseur:innen ziehen ihre Namen zurück, Theater ändern ihre Organisationsform. Wir dokumentieren einen Artikel aus der russischen Tageszeitung "Kommersant".

Von Alla Shenderova

"Gorbatschow" von Alvis Hermanis: Dem verwitweten Michail Gorbatschow (Jewgeni Mironow) erscheint seine Frau Raissa (Chulpan Khamatova) © Ira Polyarnaya / Theater der Nationen, Moskau

16. März 2022. Moskaus nationales Theaterfestival Die Goldene Maske verzeichnet weiterhin Verluste: Das Stück "Gorbatschow" des lettischen Regisseurs Alvis Hermanis, der Hit der vergangenen Saison und in den Hauptkategorien für den Preis des Festivals nominiert, darunter auch die Kategorie "Beste Schauspielerin", ist aus dem Wettbewerb für das beste großformatige Drama ausgeschieden. Die Preis-Kandidatin Chulpan Khamatova hat die Russische Föderation inzwischen verlassen. (1)

Das Musical "Miss Saigon", das unter der Regie von Cornelius Baltus am St. Petersburger Musical Comedy Theatre gezeigt wird, wurde aus dem Musikwettbewerb zurückgezogen (allerdings noch nicht endgültig: das Festival läuft noch bis zum 17. April). Der offiziellen Begründung zufolge konnte einer der Darsteller nicht an der Aufführung teilnehmen. Das Musical über die tragische Liebe zwischen einem amerikanischen Soldaten und einem vietnamesischen Mädchen wurde nun durch eine weniger verfängliche, allerdings nicht für die "Goldene Maske" nominierte Arbeit ersetzt: "My Fair Lady" in der Regie von Grigory Dityatkovsky.

Tantieme an ukrainischen Hilfsfonds

Auch Inszenierungen der Stücke von Ivan Wyrypajew verschwinden aus dem Repertoire hiesiger Bühnen: Am 8. März gab der Regisseur und Dramatiker in den Medien eine Erklärung ab, die sich an vierzig russische Theater richtete, die seine Stücke aufführen. Darin erklärte er, er beabsichtige, seine Tantiemen an den Hilfsfonds für die Ukraine zu überweisen. "Natürlich (und das möchte ich betonen) wird dieses Geld nur für friedliche Zwecke verwendet", fügte der Dramatiker hinzu. Und er schlug vor, dem Publikum mitzuteilen, dass ein Teil des Geldes, das sie für die Eintrittskarten bezahlt haben, dem Flüchtlingshilfsfonds zugutekommen solle.

Am 11. März wurde auf der Website des Fjodor-Wolkow-Theaters in Jaroslawl darüber informiert, dass eine Aufführung des Stücks "Sunny Line" von Ivan Wyrypajew leider nicht möglich sei. "Wir wollen nicht, dass durch Theaterkunst eine einseitige politische Position durchgesetzt wird", hieß es. Andere Theater – darunter das St. Petersburger Balletttheater (der Abend "Excitement" mit Alisa Freindlich in der Hauptrolle wurde von Wyrypajew inszeniert) und das Theater der Nationen (Viktor Ryzhakovs, 2020 mit der "Goldenen Maske" ausgezeichnete Inszenierung von Wyrypajews Stück "The Iranian Conference") – haben ihre Vorstellungen für März und April kommentarlos oder "aus technischen Gründen" abgesagt.

Die Leiterin des Wsewolod-Meyerhold-Museums, Natalia Makerova, und die des Michail-Schtschepkin-Haus Museums (beide Einrichtungen sind Zweigstellen des Bakhruschin-Museums), Natalia Pivovarova, wurden entlassen. Das Meyerhold-Museum ist geschlossen (aus technischen Gründen, wie das Bakhrushin-Museum mitteilt), während das Schepkin-Haus mehr Glück hat – sein Museum ist noch geöffnet.

Unmenschlicher Einfluß von Facebook und Instagram

Bereits in vollem Gange ist eine im Rahmen eines Optimierungsprogramms plötzlich verstärkt betriebene Zusammenlegung von Moskauer Theatern unter städtischer Hoheit. In diesem Kontext sei darauf aufmerksam gemacht, dass das Meyerhold-Zentrum, das seine Leitung verloren hat (siehe Kommersant vom 2. März), mit dem Theater der Schauspielschule fusionierte. Das Theater von Oleg Tabakov wird mit dem Theaterzentrum "Kirschgarten" zusammengelegt, während das Theater ApArte mit dem Taganka-Theater zusammengelegt wird (dessen Ensemble wiederum erst kürzlich mit dem Ensemble der Taganka-Schauspieler fusionierte). Irina Apeksimova, die jetzt gleich drei Bühnen leitet, sagt dazu, alle Fragen bezüglich des Gebäudes, des Repertoires und der Truppe seien verfrüht. Aber das "ApArte" hat sich schon jetzt von seinem Publikum verabschiedet und in diesem Zusammenhang davon gesprochen, seine Produktionen würden bald verschwinden. Als nächstes ist das Puppenspiel an der Reihe: Zum Moskauer Puppentheater gesellt sich das Kinder-Kammerpuppentheater (DKT) – letzteres verliert seine Eigenständigkeit und wird zu einer Kammerbühne des ersten.

Nach Angaben mehrerer Moskauer Theater hat das Moskauer Kulturdezernat am Freitagabend, den 11. März, eine schrittweise "Anweisung zur Veröffentlichung von Beiträgen über den Verzicht auf Facebook und Instagram" an sie versandt. Darin wies das Dezernat die Theater an, zunächst auf ihren Webseiten die Entscheidung zu veröffentlichen, Facebook und Instagram wegen ihres "unmenschlichen Einflusses" zu verlassen. Außerdem sollten sie einen Screenshot dieser Beiträge anfertigen, dann beide Accounts löschen und neue Accounts auf VKontakte, Yandex.Zen und Odnoklassniki eröffnen. Weiter wurde den Theatern nahegelgt, ihr neues Internet-Leben mit Screenshots der Löschungen und einem Posting zu beginnen, der amerikanische Meta-Konzern habe sich „in eine extremistische Organisation verwandelt und die Nutzung von Facebook und Instagram sei gleichbedeutend mit der Unterstützung des Völkermords an der gesamten russischen Bevölkerung". Das Schreiben des Dezernats war nicht unterzeichnet.

Keine Zeit für Festivals

Leider beeilten sich einige Theater daraufhin sehr, ihre Accounts zu löschen und keine neuen einzurichten. Denn sie müssen befürchten, dass die genannten inländischen Social-Media-Kanäle mit russischen Geheimdiensten in Verbindung stehen. Am Samstag, den 12. März, lenkte die Behörde ein: Instagram- und Facebook-Accounts mussten nicht gelöscht, sondern sollten nur gesperrt werden. Doch nicht jede Institution konnte ihre bereits gelöschten Accounts wiederherstellen. Die seit Jahren etablierte Außenkommunikation der Moskauer Theater nahm dadurch schweren Schaden. 

In dieser Woche wurde bekannt, dass zwei Festivals, die demnächst eröffnet werden sollten, verschoben wurden: Der "Europäische Frühling" in Archangelsk soll erst 2023 stattfinden. Die Eröffnung des Festivals "Eins. Zwei. Drei" in Nowosibirsk wurde auf das vierte Quartal 2022 verschoben.(2) Im Fall des "Europäischen Frühling" heißt es in einer Erklärung: es sei "jetzt nicht die Zeit für Festivals, also haben wir beschlossen, dass es richtiger wäre, es zu verschieben". Im zweiten Fall war der Initiator der Verlegung das Kulturministerium von Nowosibirsk. Es gibt Gründe zu der Annahme, dass eine Ursache für die Absage die Inszenierung "Judith" von Boris Pawlowitsch war, die im Programm beider Festivals enthalten war. Die biblische Geschichte von Judith wurde von Klim (dem Pseudonym des Dramatikers und Regisseurs Volodymyr Klymenko) für die heutige Zeit adaptiert und von einer der brillantesten jungen Schauspielerinnen ihrer Generation, Kateryna Taran, in ihrer ukrainischen Muttersprache aufgeführt.

Drohungen, Verbote, Entlassungen

Erschwerend kommt hinzu, dass der Verschiebungen der Festivals eine Welle von abfälligen Veröffentlichungen über sie in anonymen Telegramm-Kanälen mit den Namen "Podkoverka", "Zakuliska", "real cultras Z", "Orda mordora", "Kollaborant", "Nevminkult", "Bloodseeker" (die Liste lässt sich fortsetzen) vorausgegangen war. Dort war man schon vorher nicht gerade zurückhaltend mit Äußerungen, aber jetzt werden Drohungen nicht nur in Bezug auf Aufführungen, sondern auch konkreter Personen veröffentlicht: Regisseur:innen, Dramatiker:innen und andere Persönlichkeiten aus dem Kulturbereich, wobei diese Drohungen mit persönlichen Informationen wie Wohnadressen der Betroffenen ergänzt werden. Natürlich ist das alles schon vorgekommen. Vergleicht man die Telegram-Veröffentlichungen mit nachfolgenden Löschungsbeschlüssen liegt der Verdacht nahe, dass solche anonymen "Informationen" auch Behörden zur Verfügung gestellt werden, die berechtigt sind, Verwaltungsentscheidungen zu treffen.

Darüber hinaus ist das Majakowski-Theater immer noch ohne Direktion (Mindaugas Karbauskis ist am 25. Februar 2022 zurückgetreten). Unterdessen hat der herausragende ukrainische Regisseur Andriy Zholdak, der bis zum vergangenen Jahr viel in Moskau und St. Petersburg gearbeitet hat, vorgestern seinen Entschluss bekannt gegeben, seinen Namen von allen Plakaten seiner Opern- und Schauspielproduktionen, die in Russland aufgeführt werden, entfernen zu lassen. Die Informationen über russische Entlassungen, Annullierungen und Verbote im Inland werden leider stündlich aktualisiert.

 

Alla Shenderova ist Journalistin, Theaterkritikerin und stellvertretende Chefredakteurin der Zeitschrift Teatr. Sie studierte Informatik an der RGGU und Theaterkritik an der GITIS. Sie unterrichtet an der British Higher School of Design in Moskau. U.a. war sie Kuratorin des Programms "Freundschaft der Nationen" beim Inspiration Festival in Moskau 2019. Wiederholt hat sie als Jurymitglied mit dem Festival Goldene Maske zusammengearbeitet (2013 und 2019) sowie mit anderen russischen Theaterfestivals. Sie schreibt auch für die Moskauer Wirtschaftszeitung "Kommersant", wo der Artikel am 16. März 2022 zuerst erschienen ist

(Übersetzung mit Hilfe von DeepL: Esther Slevogt)

Siehe auch: Alla Shenderova: Der Vorhang fällt - Rücktritte + Appelle gegen den Krieg. (5. März 2022)

 

1) Anmerkung der Redaktion: Die Schauspielerin Chulpan Khamatova, die bei Alvis Hermanis Raissa Gorbatschowa spielt, hatte zu den Unterzeichner:innen einer Petition gegen den Krieg gehört und Russland kurz nach Beginn der "Sonderoperation" verlassen. 

2) Anmerkung der Redaktion: Das Performing-Arts-Festival "Eins. Zwei. Drei" in Novosibirsk zeigt Arbeiten mit einem bis drei Schauspieler:innen oder Performer:innen. Die Künstlerische Leiterin des Festivals seit 2017, Julia Churilova (Regisseurin und Leiterin des Pervyi Theaters in Nowosibirsk), wurde gestern entlassen.

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