Soviel Leid auf Erden

20. März 2022. Gelitten und gestorben wird viel, nicht nur in diesen Tagen. Aber mit welcher Haltung dem Leid begegnen? "Erbarmen" nennt die Regisseurin Alize Zandwijk ihren neuen Abend am Theater Bremen, untermalt mit Musik aus Bachs Matthäus-Passion, mit Elends-Berichten, kleinen Hoffnungen und Licht am Ende des Tunnels.

Von Andreas Schnell

Klagende und Leidende: "Erbarmen" von Alize Zandwijk am Theater Bremen © Jörg Landsberg

20. März 2022. Beginnen wir ausnahmsweise mit einer Szene, die sich nach der Premiere von "Erbarmen" abspielte. Vorm Eingang des Theaters am Goetheplatz standen noch einige Besucher:innen bei Zigaretten, als ein Mann kam und nach Kleingeld fragte. Einer aus der Gruppe fragte sich laut, ob das womöglich noch Teil der Inszenierung sei. Dieser in mehrerlei Hinsicht garstige Witz war insofern am Platz, als in den zwei Stunden zuvor unter dem Titel "Erbarmen“ wirklich reichlich Not zu sehen war – und nun die Gelegenheit zu etwas Erbarmen. Aber man muss ja wahrlich nicht erst ins Theater gehen, um zu wissen, wie es in der Welt zugeht, in der wir leben – nicht nur gerade in diesen Zeiten.

Wie im düsteren Wald

Zurück ins Theater: Ein ziemlich toter Wald ist das Bühnenbild, in dem Alize Zandwijk ein assoziatives Kaleidoskop des Elends entfaltet. Weniger eine als viele Passionsgeschichten gibt es hier zu erleben, getragen von Johann Sebastian Bachs um die Rezitative gestutzte Matthäus-Passion. Ausgeführt wird diese Musik hier lediglich von einem Streichquartett und Beppe Costa an der Mandoline. Das aus Mitgliedern der Bremer Opern- und Schauspielensembles sowie Gästen zusammengesetzte 15-köpfige Ensemble ist für die gesangliche Seite zuständig. Wobei bei der Premiere längst nicht jeder Ton saß, nicht nur bei den Schauspieler:innen.

Erbarmen2 1200 Joerg Landsberg uDüstere Prozession: das Ensemble in "Erbarmen" am Theater Bremen © Jörg Landsberg 

In Bachs berühmtem Werk geht es bekanntlich um Leiden, Tod und Wiederauferstehung Jesu, wobei das Leiden eindeutig den größten Teil beansprucht. Kein Stoff für Eskapisten also. Aber genau genommen ist das so etwas wie der Witz von Religion als solcher und der Matthäus-Passion im Besonderen: Mit Karl Marx gesprochen ist Religion zugleich Ausdruck wirklichen Elends und der Protest gegen dieses Elend, dessen Ende allerdings nicht nur im Christentum zuverlässig auf das Jenseits verschoben wird. Wie das geht, lässt sich an "Erbarmen" durchaus studieren.

Berichte vom Leiden und Sterben

Das Ensemble reiht in vielen kleinen, vermutlich teilweise biografisch inspirierten Geschichten und Szenen aneinander, was Menschen anderen Menschen antun, aber auch dem Planeten, auf dem sie leben. Da begibt sich Martin Baum in die Rolle des Obdachlosen, der wütend konstatiert, dass seine Not zwar in der Weihnachtszeit bemerkt wird, die schlimmste Zeit für ihn aber der Sommer ist, denn dann interessiert sich niemand dafür, dass er nach wie vor keine Wohnung hat. Da ist die Geschichte zweier Mütter, erzählt von Fania Sorel und Susanne Schrader. Beide haben bei einem Bombenanschlag ein Kind verloren – das eine ein unschuldiges Opfer, das andere einer der Attentäter.

Wir erfahren von den Härten der Arbeit in der Pflege von Bäumen, die Tausende von Jahren leben können, aber sozusagen im Babyalter abgeholzt werden und in die Wohnzimmer kommen, und noch einiges mehr. Immer wieder werden wir Zeugen der Vergeblichkeit menschlicher Suche nach Schutz und Hilfe, rackern sich die Schauspieler:innen und Tänzer:innen nicht nur körperlich ab, dem Leben einen Sinn abzuringen.

Erbarmen3 1200 Joerg Landsberg uSchmetterlinge im Nichts als Zeichen der Hoffnung: Nadine Geyersbach und Ensemble © Jörg Landsberg

Aber es gibt eben auch die andere Seite der Religion: Hoffnung, Sinnstiftung angesichts einer Welt voller Ungemach, Armut und Gewalt. Die Geschichte eines Obdachlosen, der einmal im Jahr bei einem Nobelfriseur auf Kosten des Hauses die Haare geschnitten bekommt. Aus Schildern einer Demonstration, auf denen Dinge stehen wie "Go home", "Feind", "Nein danke", "Schmutz", macht das Ensemble "Home", "Danke", "Schutz". Und am Ende sprießt neues Leben aus den schwarzen Bäumen.

Bildgewaltig und sensibel

Es ist nicht das erste Mal, dass sich Zandwijk in Bremen damit befasst, mit welcher Haltung menschlichem Leid zu begegnen wäre, ohne dass es eine stringente Handlung gibt. Vor etwa fünf Jahren widmete sie sich beispielsweise in "Golden Heart" nach Lars von Trier dem Altruismus. Und auch damals konnte man sich fragen, ob es nicht interessant gewesen wäre, nach den Gründen dafür fragen, warum es denn das alles gibt, was sie auch hier wieder bildgewaltig, sensibel und oft anrührend zeigt. Eine Anleitung zum Gläubigsein ist "Erbarmen" allerdings ganz und gar nicht. Eher ein Appell an das Herz mit ein wenig Licht am Ende des Tunnels. Wozu eine kleine Geste passt, mit der wir wieder an unserem Anfang wären: Nach der Vorstellung gibt es Suppe für das Publikum.

 

Erbarmen
nach Johann Sebastian Bachs "Matthäus-Passion"
Regie: Alize Zandwijk, Musikalisches Konzept: Maartje Teussink, Musikalische Leitung: Julia Strelchenko, Bühne: Thomas Ruppert, Kostüme: Sophie Klenk-Wulff, Choreografie: Andy Zondag, Mitarbeit Choreografie: Tomas Bünger, Licht: Norman Platze-Narr, Dramaturige: Stefan Bläske, Brigitte Heusinger.
Mit: Annemaaike Bakker, Martin Baum, Emil Borgeest, Manuela Fischer, Christian Freund, Guido Gallmann, Nadine Geyersbach, Christoph Heinrich, Lieke Hoppe, Ulrike Mayer, Susanne Schrader, Marie Smolka, Fania Sorel, Paul Sutton, Sarah Weinberg.
Premiere am 19. März 2022
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.theaterbremen.de

Kritikenrundschau

Musikalisch sei Stück, das sich an der Matthäus-Passion entlang hangele, "noch nicht einmal ein gescheitertes Experiment", schreibt Benno Schirrmeister in der taz nord (22.2.2022). Das Arrangement von Komponistin und Kontrabassistin Maartje Teussink probiert seinem Eindruck zufolge "kaum mehr aus, als weiland James Last". Insgesamt habe man "ein Leidenspotpourri in einem Wald verkohlter Stümpfe angerührt, schwarze Bohnen bilden den Bodenbelag. Das gleitet nicht erst im letzten Bild in Kitsch ab, wenn Teussink von schwarzem Baumstumpf zu schwarzem Baumstumpf watet und per Seilzug daran grünes Blattwerk aufsprießen lässt, während alle anderen den tröstlichen Schluss­chor in c-Moll intonieren."

"Ein großer, zutiefst aktueller Abend, der dem Publikum die Musik der 'Matthäus-Passion' noch einmal in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt", jubelt Ute Schalz-Laurenze in der Kreiszeitung (23.3.22). Regisseurin Alice Zandwijk habe es "verstanden, ihre mit dem Ensemble erfundenen Geschichten mit der Musik von Bach höchst plausibel zu konstruieren".

"Das Stück stellt große und essentielle Fragen nach Leid, Mitleid, Mitgefühl, Sorge und Fürsorge", erzählt Anna Postels in ihrer Radiokritik auf Bremen zwei (23.3.22). Trotz der "schweren Themen" sei "Erbarmen" allerdings "kein Betroffenheitstheater", urteilt sie. "Einige Szenen berühren und regen zum Nachdenken an. Andere wiederum sind sehr abstrakt und verwirrend … Sie bieten Gelegenheit für offene Deutungen", so die Kritikerin.

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