"Putin will den Eisernen Vorhang zurück"

23. März 2022. Der lettische Regisseur Alvis Hermanis hält die deutsche Sicht auf Russland für romantisch verklärt. Die Mehrheit der Russen unterstütze Putin und werde sich auch von den Sanktionen nicht beeindrucken lassen. Diese könnten sogar Teil seines Plans sein.

Ein Interview von Esther Slevogt

 

Alvis Hermanis beim Videointerview | Screenshot

23. März 2022. Alvis Hermanis, Sie wurden in Lettland als Bürger der Sowjetunion geboren. Als Lettland 1991 von der UdSSR unabhängig wurde, waren Sie 25 Jahre alt. Sie sind Intendant des Neuen Theaters in Riga. Als Regisseur haben Sie sowohl in West- als auch in Osteuropa gearbeitet. Besonders hat zuletzt ihre Inszenierung "Gorbatschow" am Theater der Nationen in Moskau für Aufsehen gesorgt. Wie blicken Sie auf den Krieg in der Ukraine?

Alvis Hermanis: Ich glaube, was gerade in der Ukraine geschieht, ist historisch einschneidender als alles, was bisher zu unseren Lebzeiten stattgefunden hat – einschneidender auch als der Zusammenbruch der Sowjetunion. Die Ukrainer verteidigen gerade die Werte und die Freiheit Europas. Und sie bewahren die Welt vor einem Atomkrieg.

In Kriegszeiten zeigt sich auch immer das wahre Gesicht der Dinge. Im Krieg kann sich niemand verstecken. Es ist ja kein Geheimnis, dass in diesem Konflikt Deutschland das letzte Land war, das Russland gegenüber eine klare Haltung eingenommen hat: Deutschland war das letzte Land, das den Sanktionen gegen Russland zugestimmt hat, Deutschland war das letzte Land, das Waffenlieferungen für die Ukraine zugestimmt hat. Ich weiß auch, dass die Ukrainer irritiert sind von Ihrer unklaren Haltung. Das hat auch President Selensky neulich vor dem Bundestag in höfliche Worte zu fassen versucht. In den vielen Jahren, in denen ich in Deutschland gearbeitet habe, war es für mich immer verwirrend festzustellen, dass die Deutschen eine sehr romantische, ja naive Beziehung zu Russland und der kommunistischen Ideologie haben. Und wie wir jetzt ganz klar sehen, hat sich diese Ideologie auch nicht geändert. 

Ein romantisches Verhältnis zu Russland, wie meinen Sie das?

Ein Beispiel: Vor etwa 10 Jahren bekam ich einen Anruf von André Schmitz …

… damals Staatssekretär für Kultur in Berlin …

… der mir anbot, Intendant des Maxim Gorki Theaters zu werden, als Armin Petras ging. Das erste, was ich ihm daraufhin sagte war, meine Bedingung wäre, den Namen des Theaters zu ändern. Weil: ein Stadttheater mitten in Berlin, das den Namen des wichtigsten Propaganda-Schriftstellers der kommunistischen Sowjetunion trägt, das war für mich unerträglich. Stellen Sie sich vor, Sie sollten in einem anderen Land ein Theater übernehmen, das den Namen eines Nazischriftstellers trägt. Aber das war für André Schmitz natürlich schwer zu schlucken.

Aber Sie haben doch selbst schon Stücke von Gorki inszeniert.

Gorki ist ein starker Dramatiker und ich sehe kein ethisches Problem darin, seine Texte zu inszenieren. Soweit ich mich erinnere, hat sich auch niemand gewundert, dass sich Rimini-Protokoll mit Mein Kampf beschäftigt hat. Wenn wir erst mal damit anfangen würden, müssten wir zu viele Autoren disqualifizieren. Fangen wir mit zwei berühmten Antisemiten wie Wagner und Dostojewski an, oder mit Brecht, der Stalin bewunderte. Ich halte es allerdings für ein großes Statement, einem Theater mitten in Berlin den Namen Gorkis zu geben. Denn das lässt einen über die Werte dieses Theaters ins Nachdenken kommen. Das sowjetische Regime, das von Gorki inspiriert wurde, war sehr blutig und hinterließ Millionen Tote.

sommergaeste2 2347 560 thomas aurin uMaxim Gorkis "Sommergäste", von Alvis Hermanis 2012 an der Berliner Schaubühne inszeniert © Thomas Aurin

Was ich damit sagen will: Ich selbst kämpfe immer damit, die deutsche Haltung zu verstehen. Vielleicht haben die Deutschen zu den Russen ein anderes Verhältnis, weil die Russen den Zweiten Weltkrieg gewonnen haben und die Deutschen ihnen verdanken, die Nazis losgeworden zu sein? Aber die Deutschen haben nie wahrhaben wollen, dass die Sowjets und später die Russen die gleiche Ideologie wie Nazi-Deutschland vertreten. Doch ich glaube, in einer Situation wie jetzt müssen klare Haltungen bezogen werden. Es gibt kein Dazwischen. Das gilt auch für die russische Theater-Community. Es ist ziemlich offensichtlich, dass die Mehrheit hier entweder Putin bei diesem Krieg unterstützt oder sich auf eine neutrale Position zurückzuziehen versucht.

Aber es gibt doch auch Beispiele von Dissens und Kritik in der Szene. Russische Künstler:innen haben Angst um ihre Integrität oder gar ihr Leben. Einige haben bereits das Land verlassen.

Ich kenne all diese Beispiele. Aber das sind ein paar wenige, Marina Davydowa, Chulpan Khamatova oder mein Freund Roman Dolzhansky, der Dramaturg und Festival-Kurator. Ich habe übrigens die russische Schauspielerin Nr. 1, Chulpan Khamatova, eingeladen, sich dem Ensemble unseres Neuen Rigaer Theaters anzuschließen. Es gibt vielleicht noch drei oder vier weitere Beispiele von mehr oder weniger bekannten Schauspielerinnen und Schauspielern, die Russland verlassen haben. Der ganze Rest spielt einfach jeden Abend weiter, als wäre nichts geschehen. Sie helfen auf diese Weise dabei, in der russischen Gesellschaft den Eindruck aufrecht zu erhalten, alles wäre normal. Ich selbst habe gleich nach Beginn des Krieges über meine Social Media Kanäle Erklärungen in russischer Sprache verbreitet, unter anderem an die russische Theaterszene, dass sie, wenn sie weiter als Kollegen respektiert werden wollen, wenigstens aufhören sollen, jeden Abend Theater zu spielen und ihr Publikum zu unterhalten.

Auch Ihr Bundeskanzler Scholz hat schrecklich unrecht, wenn er – wie vor ein paar Tagen – sagt, man solle nur Putin anklagen, aber nicht die Russen. Mehr als siebzig Prozent der Bevölkerung in Russland unterstützen diesen Krieg, das haben demoskopische Untersuchungen ergeben. Denn wer sollen etwa diese Zehntausende sein, zu denen Putin neulich im Luschinkski-Stadion sprach? In der russischen Gesellschaft – und das können Sie mir wirklich glauben – ich spreche russisch und verfolge das russische Lager ziemlich genau – gibt es eine monumentale, ja geradezu enthusiastische Unterstützung für Putin und seine Aggression.

Denken Sie nicht, dass die Sanktionen gegen Russland auch im Inneren Widerstand gegen das Regime produzieren werden? Selbst wenn man bedenkt, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung sehr prekär lebt. Trotzdem gab es jetzt fast zwei Jahrzehnte Internet, Zugang zu Informationen. Werden es sich die Menschen in Russland wirklich gefallen lassen, dass sie jetzt wieder zurückgeworfen und von der Welt abgeschnitten werden?

Sehen Sie, ungefähr 300 000 Menschen haben zwar in den letzten drei Wochen Russland verlassen, weil sie nicht in einem Nordkorea leben wollen, in das Putin das Land gerade verwandelt. Aber in Russland leben 145 Millionen Menschen. Für die ist das kein Problem. Für durchschnittliche Russen spielen rationale, pragmatische Werte und Lebensqualität keine so große Rolle. Was ich damit sagen will: Wenn Sie ihnen jetzt deutsche Autos, Instagram, Facebook oder MacDonalds wegnehmen ist das für Russen noch lange kein Grund, ihre Meinung oder gar ihren Kurs zu ändern. Ich glaube sogar, dass Putin die Sanktionen als Konsequenzen bewusst in Kauf genommen hat, als er beschloss, die Beziehungen seines Landes zum Rest der Welt zu radikalisieren, den Eisernen Vorhang wieder zu schließen, um das Land zu isolieren und hermetisch abzuschotten.

In Moskau haben sie 2020 das Stück "Gorbatschow" gemacht, das beim nationalen Theaterfestival "Goldene Maske" in Russland in mehreren Kategorien für die Goldene Maske nominiert war.

Erst einmal möchte ich über die Geschichte meiner Zusammenarbeit mit Russland sprechen. In meinem Leben habe ich insgesamt überhaupt nur zwei Produktionen in Russland mit russischen Schauspielern gemacht. Die erste entstand vor etwa 15 Jahren, Schukschins Erzählungen. Die zweite war "Gorbatschow" vor zwei Jahren. Seit 2014 stand ich in Russland als "Persona non grata" auf einer schwarzen Liste des Außenministeriums. Nach der Besetzung von Krim und Donbass hatte ich mich geweigert, im Bolschoi Theater eine Inszenierung zu machen. Seitdem konnte ich nicht mehr nach Russland einreisen. Als mir das "Theater der Nationen" in Moskau 2020 dann eine neue Inszenierung anbot, haben wir uns darauf geeinigt, die Proben in Lettland zu machen. Ich hatte den Vorschlag gemacht, einen Abend über Gorbatschow zu machen, der einst mit seiner Leidenschaft für Glasnost und Meinungsfreiheit das sowjetische System zum Einsturz brachte. Russland war 2020 ja bereits wieder auf dem Weg, ein totalitäres und faschistisches Land zu werden. Ich bekam dann von Gorbatschow sogar persönlich eine Einladung und dadurch wurde möglich, dass ich vor Probenbeginn tatsächlich für einige Tage nach Russland reisen konnte, um ihn zu treffen. Aber die Proben für diese Inszenierung fanden außerhalb Russlands in Riga statt. 

Was waren Ihre Gründe, dieses Stück zu machen?

Russland ist ein sehr geheimnisvolles Land. Ganz oben gibt es immer einen Zaren, eine einzelne Person, die entweder rotes oder grünes Licht für etwas gibt. Die restliche Bevölkerung besteht mehr oder weniger aus Leibeigenen, die dem bedingungslos folgen. Dabei spielt es eigentlich keine Rolle, ob dieser Zar Stalin heißt, oder Iwan der Schreckliche, Peter I., Gorbatschow oder Putin. Es ist immer die gleiche hierarchische Struktur: Zar und Leibeigene. Im Fall von Gorbatschow habe ich eines Tages realisiert, dass er – neben meinem Vater und meiner Mutter – der Mensch gewesen ist, der mein Schicksal am stärksten beeinflusst hat. Ich wollte einfach verstehen, wie das überhaupt möglich war, dieses System zum Einsturz zu bringen. War es einfach nur ein Wunder?

GorbatschowvonAlvisHermanis IraPolyarnaya TheaterderNationen"Gorbatschow", 2020 am Moskauer Theater der Nationen entstanden. Jewgenij Mironow, der auch der künstlerische Leiter des Theaters ist, als Gorbatschow. Chulpan Khamatova, die Raissa Gorbatschow spielt, hat Russland kurz nach dem Überfall auf die Ukraine verlassen © Ira Polyarnaya | Theater der Nationen

In diesem Zusammenhang wollte ich Gorbatschow auch als Menschen verstehen. Als ich vor zwei Jahren seiner persönlichen Einladung folgen und ein etwa dreistündiges Gespräch mit ihm führen konnte, habe ich verstanden, dass er einfach ein sehr guter Mensch ist. Zwar ist er noch immer sehr überzeugt, vielleicht nicht vom Kommunismus aber doch von sehr, sehr linker Ideologie. Er erzählte mir, dass er noch immer Lenin bewundert und seine Werke liest. Er war immer noch unglaublich betroffen vom Zusammenbruch der Sowjetunion, das bedauert er wirklich sehr. Ich glaube, was mit unserer Geschichte damals passierte, beruht auf einer Art geheimnisvollem historischem Systemfehler: dass jemand wie Gorbatschow überhaupt in diese Position gelangen, und Zar werden konnte. In seinem Kopf herrscht darüber bis heute ein großes Durcheinander. Seine ideologischen Vorstellungen sind so naiv wie die der Studenten in den 1960er Jahren: alle Menschen werden Brüder und Schwestern – dieser ganze linke Unsinn eben. Aber was großartig an ihm ist: er ist ein unglaublich guter Mensch mit einem Herzen im XXXL Format. Als er für seine Idee von Glasnost und Meinungsfreiheit grünes Licht gab, hat er damit das ganze System erst paralysiert und schließlich zum Einsturz gebracht. Damit hat er die Tore geöffnet. Dann war Gorbatschow nicht mehr in der Lage, diese Freiheit zu kontrollieren und wir alle hatten das Glück, dem Gefängnis zu entkommen.

Und nun will Putin die Tore wieder schließen?

Ja, davon bin ich wirklich überzeugt. Ich glaube, dass China sein Vorbild ist – mit seiner seltsamen Mischung aus aggressivem Kapitalismus und totalitärem Kommunismus. Damit setzt sich auch meine letzte Inszenierung "Everything Under The Sky" auseinander, die am 11. März in Riga Premiere hatte. Margarita Zieda, die Autorin, lebt übrigens teilweise in Berlin.

Wie schätzen Sie die weitere Entwicklung ein?

In Osteuropa blicken wir auf eine sehr blutige Geschichte der Unterdrückung mit Russland zurück und sind uns vollkommen darüber im Klaren: wenn es Putin gelingen würde, in einem sogenannten "Blitzkrieg" die Ukraine zu erobern, dann wären Moldavien, die Baltischen Staaten, Georgien und wahrscheinlich sogar Polen als nächstes dran. Aber dieser Plan geht dank des ukrainischen Widerstands bisher nicht auf und wir erleben, dass das russische Militär ganz offensichtlich nicht in der Lage ist, die Ukraine zu besetzen. Doch gerade weil das russische Militär nicht erfolgreich ist, hat es nun die Taktik geändert. Jetzt versucht das russische Militär, in der Ukraine eine humanitäre Katastrophe anzurichten. Sie greifen Zivilisten an, zerstören Wohnhäuser, Städte und Infrastrukturen.

Es ist klar, dass die Ukraine diesen Krieg bereits gewonnen hat – und zwar nicht nur moralisch, sondern auch militärisch. Aber dieser Krieg kann jetzt noch sehr, sehr lange dauern – wie wir es aus Vietnam oder Afghanistan kennen. Das ist eine Tragödie für das ukrainische Volk. Denn sie kämpfen für uns alle. Sie schützen nicht nur uns und die anderen osteuropäischen Länder, sondern alle Länder in Europa. Und wenn ich mich hier noch einmal an die Deutschen wenden darf: Helfen Sie! Die osteuropäischen Länder, inklusive mein Land, also Lettland, haben inzwischen drei Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen. In Deutschland hat man mir vor sieben Jahren meine Haltung in der Flüchtlingsfrage übelgenommen. Es gibt nun einen großen Unterschied zur Situation 2015. Damals waren es im Wesentlichen starke junge Männer, die über die Grenzen nach Europa kamen. Nun sind es Frauen und Kinder. Die jungen Männer in der Ukraine fliehen nicht, sie kämpfen für die Freiheit ihres Landes.

Auch in Deutschland gibt es eine große Welle der Unterstützung und Hilfsbereitschaft. In Berlin hat es beispielsweise in den ersten Tagen des Krieges am Hauptbahnhof einen von den Berlinern in Eigenregie organisierten Flüchtlingshilfe gegeben. Theater im ganzen Land machen Solidaritätsveranstaltungen, sammeln Geld für humanitäre Zwecke.

Moralischer Support ist natürlich schön. Aber, wie es Präsident Selensky neulich schon Ihrem Parlament zu erklären versucht hat: Die Ukraine braucht Waffen, um sich verteidigen zu können. Es ist Krieg.

 

Alvis Hermanis, 1965 in Riga (damals lettische SSR) geboren, ist Schauspieler, Regisseur und seit 1997 Intendant des Neuen Theaters in Riga.

(Das Gespräch fand via Zoom in englischer Sprache statt. Übersetzung: Esther Slevogt)


Alle Texte
zum Thema "Krieg in der Ukraine" hier.

Kommentare  
Interview Hermanis: unverständlich
Liebe Esther Slevogt,
muss es ausgerechnet Alvis Hermanis sein, den Sie zum Krieg in der Ukraine befragen? Erfährt man hier irgendetwas neues, was wir nicht schon wussten? Würden Sie uns bitte kurz erläutern, wie Sie dieses Interview inhaltlich einordnen. Ich kann mir das natürlich auch selbst analysieren. Kurzes Zitat aus einem Interview, das die österreichische Tageszeitung der Standard mit Hermanis 2015 geführt hat: "Ebenso wenig, wie die Deutschen imstande sind, ihre Frauen auf den Straßen zu beschützen, sind sie imstande, ihr kulturelles Erbe zu bewahren." Ich möchte ehrlich gesagt von Alvis Hermanis nicht über Putin, Russland und den Kommunismus belehrt werden.
Interview Hermanis: aufrüttelnd
Sehr aufrüttelnd und mahnend das gut geführte Interview. Ich glaube auch, dass die Bundesrepublik sehr selbstbezogen ist. Im Vordergrund stehen Wohlstandssorgen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck ist gegen Öl- und Gassanktionen und warnt, es drohten dann wirtschaftliche und gesellschaftliche Schäden schwersten Ausmaßes. Endzeitstimmung statt Entschlossenheit.
Auf der anderen Seite sehe ich, wie Putins Truppen Theater und Schulen in Mariupol bombardieren, und Städte ausradieren. Wohlstand oder Werte?
„Die Ukraine braucht Waffen, um sich verteidigen zu können. Es ist Krieg.“ Sagt Alvis Hermanis.
Eine Welt, in der ein Wladimir Putin nach einer Invasion eines anderen Landes "das Gesicht wahren“ kann, wäre keine friedliche Welt. Es würden immer wieder andere Länder folgen (Hermanis), Moldawien etwa, vielleicht später das Baltikum als ultimativer "Kick" gegen die NATO. Damit das klar ist: Ich bin auch für Verhandlungen. Aber mit Putin sind sie unmöglich.
Es ist Krieg.
Interview Hermanis: einig
Hallo Frau Slevogt,
sehr interessantes Interview, danke! Putin hat es geschafft, dass wir in Europa einig sind und auch, dass es auf nachtkritik gutes zu lesen gibt. Bitte ruhig mehr davon.

Eine Frage: wie würde Hermans das Maxim Gorki Theater nennen? Hat er Vorschlag?

Herr S. Bock: es ist relevant und wichtig, was Leute wie Hermanis denken. Wenn Sie schon alles wissen, ist es natürlich ein Problem.
Interview Hermanis: Baltikum hören
So streitbar Hermanis als Person ist, so wichtig scheint es mir, unter anderem baltischen und polnischen Stimmen in der deutschen Debatte (nicht nur aber auch und gerade über die Ukraine) mehr Gehör zu verschaffen. Gehör steht ja zunächst einmal vor allem für Respekt, Perspektivwechsel und Horizonterweiterung - und nicht zwingend für inhaltliche Zustimmung in allen Punkten. Die Debatte darf und soll dann ja (auch) mit diesen Stimmen fortgesetzt werden.

Daher vielen Dank von mir für dieses Interview!
Interview Hermanis: eins am Rande
Liebe Esther Slevogt, danke für das Interview und Ihnen, Herr Hermanis, danke für Ihre offenen und bitteren und wahren Worte. Ich fürchte, mit Ihrer Einschätzung der Lage in Russland und über das Verhältnis der Mehrheit zum Kriegsverbrecher Putin, stimmt. Dass ist bedrückend und wie wir alle, weiß auch ich nicht, was die Konsequenz daraus ist. Sicher ist für mich nur, in einem Land, was von Putin und seinen Handlangern beherrscht wird, möchte ich nicht leben. Leider hat auch heute wieder Kanzler Scholz ein Rohstoffembargo gegen Russland abgelehnt, wieder mit dem Verweis des Verlustes von hunderttausend Arbeitsplätzen. Was mich wütend und so hilflos macht, ist die Tatsache, dass ich es für Nötig halte, dass mir die Regierenden mehr dazu sagen, als nur dieses Szenario zu benennen. Möglicherweise stimmt das ja, aber ich finde ich und viele andere hätten es als denkende Bürger verdient, genauer darüber informiert zu werden. So bleibt für mich das üble Gefühl, dass wir zurzeit gerade den Krieg mitfinanzieren für den Preis, dass es bloß keine Unruhe im Volk geben möge. Die gäbe es bei offenen Worten vielleicht ja gar nicht.
Eins am Rande, Brecht bewunderte Stalin nie. Er war leider nicht mutig genug, sich gegen ihn zu äußern- und das lag an dem, was er erlebte und lebte.
Interview Hermanis: Marginalie
Dass Brecht Stalin "nie" bewundert hätte ist nachweislich falsch. Die Loblieder auf Stalin der 30er - Ansprache des Bauern, Erziehung der Hirse (und das kurz nach dem holodomor!!! - sind nicht wegzudiskutieren und Brechts peinliche Verteidigung der Säuberungen ist aktenkundig. Brecht war durch die Chruschtschow-Rede völlig konsterniert und hat sich offenkundig geschämt. Die Produktion des letzten Lebensjahres dokumentiert das. Aber für hagiografische Marginalien besteht echt kein Anlass.
Vielen Dank hingegen für das feine Interview, in dem sehr unangenehm die vorletzte Antwort berührt: "Es gibt nun einen großen Unterschied zur Situation 2015. Damals waren es im Wesentlichen starke junge Männer, die über die Grenzen nach Europa kamen. Nun sind es Frauen und Kinder. Die jungen Männer in der Ukraine fliehen nicht, sie kämpfen für die Freiheit ihres Landes." Tja. Das bestätigt doch noch mal, dass man sich 2015 zurecht über ihn aufgeregt hat.
Interview Hermanis: unpolitisch
Es ist mir schleierhaft, warum dieser Regisseur zu sehr komplexen Themen ein Interview gibt. Das ist ihm auch in der Vergangenheit nicht gelungen. Oberflächlich, unpolitisch, wie seine Arbeiten.
Interview Hermanis: freie Wahl der Verteidigung
Es sollte, werter Herr Hermanis, doch jedem starken jungen Mann (und auch sonst jedem Menschen) selbst überlassen werden, ob er oder sie etwas (Werte? Freiheit?) verteidigt und dafür sein Leben einsetzt.
Interview Hermanis: Kritische Fragen
Das Interview mit Herrn Hermanis irritiert mich in großem Maße.
Ich versuche einige Fragen zu formulieren.

Aber vorab:
Ich habe Verständnis dafür, dass ein Mensch, der in Lettland geboren und aufgewachsen ist, einen anderen Blick auf die aktuelle politische Lage hat.
Meine eindeutig deutsche Biografie verbindet mich sicher auch mit einem anderen
Blickwinkel.

Die Fragen:

Warum ist das zurückhaltende und zögerliche Verhalten der deutschen Regierung
negativ zu bewerten?
Ist es nicht gut, erst nachzudenken und dann zu handeln?
Ich beobachte in Berlin eine überraschend große Hilfsbereitschaft der Bewohner der Stadt mit den Menschen, die aus der Ukraine geflüchtet sind.

Warum ist es für Herrn Hermanis "verwirrend festzustellen", dass die Deutschen
"eine sehr romantische, ja naive Beziehung zu Russland und der kommunistischen
Ideologie haben"?
Romantisch heißt auch "gefühlvoll" - was ist daran merkwürdig oder kritisierbar?
Und was bedeutet die Gleichsetzung von Russland und kommunistischer Ideologie?
Ist das kommunistische Ideologie, was von Putin vertreten wird?
Wo bleibt in dem Gefüge der russische Mensch?

Was berechtigt Herrn Hermanis den Namen Gorkis mit dem eines Nazischriftstellers gleichzusetzen?
Der Name Maxim-Gorki-Theater in Berlin besteht schon lange,
und Nachdenken sollte man über ein Theater doch wohl in erster Linie angesichts
seines Repertoires und seiner Spielweise.
Und wieso war Gorki der "wichtigste Propaganda-Schriftsteller der kommunistischen Sowjetunion"? Ist es nicht wichtig, bei jedem Schriftsteller zu unterscheiden zwischen seinem Schreibanlass und dem Missbrauch, der mit seinen Werken aus Zwecken der politischen Propaganda getrieben wird?
(Das schließt dann auch nicht aus, dass der Schriftsteller sich in solche Verläufe verwickeln lässt. Der Beispiele sind weltweit viele.)

Beim Inszenieren der Stücke von Gorki hatte Herr Hermanis kein "ethisches Problem". Ich vermute: Das Honorar war angemessen.
Das ist nun keine Frage mehr, sondern eine Vermutung.

Die Behauptung, die Russen würden die gleiche Ideologie wie Nazi-Deutschland vertreten, müsste bewiesen werden. Kann das in einem Interview einfach so stehen bleiben?

Es gibt freilich eine demografische Untersuchung, wonach 70 Prozent der russischen Bevölkerung für Putins Krieg seien. Aber: Wer hat die Untersuchung gemacht?
Und die Fernsehbilder mit den geschwenkten Fahnen und den begleitenden Interviews sind sehr beunruhigend, aber für welchen Beweis sind sie auch tauglich?

(Frage in Klammern:
Ich kann den Eindruck nicht verdrängen, der Interviewte hat alles getan, um sich selbst in ein "auffälliges Bild" zu setzen.
Aber vielleicht tue ich ihm Unrecht?)

Sehr geehrte Frau Slevogt!

Herr Bock hat am Anfang dieser Reihe von Wortmeldungen eine Frage gestellt.
Ich erlaube mir, mich dieser Frage anzuschließen.

Mit freundlichen Grüßen

Peter Ibrik
Berlin-Pankow
Interview Hermanis : West-Splaining
Hört ihm zu, lasst ihn sprechen, anstatt zu west-plainen! Lasst uns unsere Phrasen überprüfen, besonders jetzt, wo sie zu Körpern werden. Euer Geschrei nach Berufsverbot und Stillstellen dröhnt deutlich schlimmer als sein Witz, dass die Deutschen sich gegenseitig nicht beschützen können. Oder der: Zehn Deutsche sind schlimmer als Eine/r.
Interview Hermanis: Aussagen ernst nehmen
#10 Anonyme "Deutsche" - wer sind Sie? Warum verbergen Sie sich? An wen sollen
sich Ihre Worte richten? Ihr Anonymus ist sehr mehrdeutig zu verstehen.

Ich kann die Meinungen von Herrn Hermanis nicht als Witze verstehen. (...)
Ich habe den Text ernst genommen und Fragen gestellt.
Ich habe (noch) keine Antworten bekommen - auch von Frau Slevogt nicht.

Immer noch mit freundlichen Grüßen

Peter Ibrik
Berlin-Pankow

––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
Anm. der Redaktion: Lieber Peter Ibrik, danke für Ihren Kommentar, wir haben ihn in gekürzter Form veröffentlicht, da Teile davon nicht unserem Kommentarkodex entsprachen. Nachzulesen ist dieser hier: https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=12&Itemid=102.

Viele Grüße aus der Redaktion!
Interview Hermanis: auseinandersetzen
@1 Sehen, und genau deswegen sollten Sie sich mit den Gedanken von Hermanis auseinandersetzen. Würde er genau sagen was Sie hören wollen, dann wäre es überflüssig. nur dann.
Interview Hermanis: linke Blindheit
Lenin und Stalin waren Massenmörder, Stalin hatte mehr Zeit, aber Lenin war pro Jahr gerechnet kaum weniger schlimm. Wieso Hermanis Gorbatschow dies nachsieht, und Gorki nicht, wäre interessant. Aber ansonsten, ja, dass der Name des Berliner Gorki Theaters nicht im Ansatz diskutiert wird zeigt die linke Blindheit, die man 1989 unflektiert geerbt hat. Wie die offen weiter als solche agierende SED, auch wenn sie ihren Namen zweimal geändert hat. Aber zum Teil noch nicht mal die agierenden Personen.
Interview Hermanis: moralische Selbstgerechtigkeit
Sehr geehrter Herr Ibrik,

Danke für Ihr persönliches Interesse, aber es gibt Gründe für die Anonymität. Sie mögen gerne spekulieren. Es ist nicht wirklich aufregend, aber notwendig. Es gibt hier keine Klarnamenpflicht, aber durchaus andere Regeln.

Alvis Hermanis hat sich mit seinem Theater und seinen Schauspielern in mein Herz gespielt seit SONJA 2007 (und danach noch einige Male). Am Kampnagel unter Amelie Deuflhard, die dann 2014 vielleicht am lautesten nach einem Berufsverbot geschrien hat. Die moralische Selbstgerechtigkeit des deutschen Theaters war selten deutlicher zu beobachten. Alle, die ihn vorher als neuen Star verehrt haben, sich mit ihrem Guru schmückten, haben es auf einmal schon immer gewußt. Es hat ihn verletzt, also ging er in die Oper und provozierte in seinen Interviews mit Vorliebe die deutsche Theater-Linke, die ihm den Gefallen tat, empört zu reagieren. Ja, das sind für mich Witze, eine Art politisches Kabarett.

Alvis Hermanis mag naiv sein, vielleicht von alter Schule, aber er weiß viel über Russland und es ist eben nicht so einfach, den Lett:Innen ihren Nationalismus vorzuwerfen und ihre konservativen Ansichten. Das braucht auch keine langen historischen Recherchen.

Aus dieser linken Verblendung und Selbstgerechtigkeit müssen wir raus (gerade die, die politisch handeln wollen), aber das ist nur meine Meinung, die ich hier äußern will, ohne, dass ein Schauspieler oder ein Berliner Theaterkritiker mich oder jemand anderen mundtot machen kann. Sie Renegaten.

Mit kämpferischen Grüßen.
Interview Hermanis: Schluss mit der Romantisierung
Der deutsche Blick gehört endlich erweitert
@1
Schön, dass sie nicht von Hermanis "belehrt" werden wollen, ich möchte nicht von Deutschen über Russland "belehrt" werden. Deutschland hat nämlich über die Jahre gezeigt, dass sein Verhältnis zu Russland naiv und verklärt ist. Wir hatten es in den letzten 20 Jahren mit einem Land zu tun, in dem ein einzelner! Machthaber tun und lassen konnte, was er wollte. Journalist:innen wurden ermordet, LGBTQ-Rechte gekappt, Menschen reihenweise verhaftet. Was war die Haltung Deutschlands? Wir bauen weiter an Gas-Pipelines und einflussreiche Politiker:innen und Lobby:isten haben sich damit privat ihre Taschen gestopft. Hat irgendein Theater das mal kritisch befragt? Nein, stattdessen haben alle bei Castorf und seiner Stalin-Romantisierung "uuuh" und "aaah" gerufen und alles für toll befunden, vor allem wenn leicht bekleidete Frauen in hochhakigen Schuhen Wodka gesoffen haben. Geil, dieser Osten! Voll der Rock'n'Roll. Die deutsche Nachsicht mit Russland und seine Fasziniertheit davon hat immer wieder zu Katastrophen in der Weltgeschichte geführt, wieso sollte es jetzt anders sein? Gerade den lettischen Regisseur Alvis Hermanis dazu zu interviewen, mal einen anderen Blick, als den eigenen zuzulassen, das ist spannend und nötig. Herzlichen Dank dafür.
"Belehren" tun sich die Deutschen nur immer wieder selbst und selbst belügen, dass sie an der jetzigen Situation keine Schuld tragen würden. Bestürzend ist das und traurig. Bitte wacht auf und nehmt eure Verantwortung wahr und rettet, was noch zu retten ist, anstatt wieder in der Analyse stecken zu bleiben. Kein Mensch braucht gerade das deutsche Stadttheater, wenn es nicht den Mut hat, sich gegen den neu erwachten Faschismus in Russland zu stellen. Die nach Corona halbleeren Märchen- und Dekonstruktionsbühnen braucht niemand.
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