Realität ohne Alternative

28. März 2022. Sollen auch russische Künstler:innen international für den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine sanktioniert werden, selbst wenn sie nicht offen für Putin Partei ergreifen? Muss die "große russische Kultur" nicht insgesamt unter antikolonialistischer Perspektive neu gedacht werden?

Von Lena Myhashko

Nina Khyzhna in dem polnisch-ukrainischen Recherche-Projekt "My father was digging. My grandfather was digging. But I will not." von Roza Sarkisian und Agnieszka Blonska, 2016 beim Gogol-Fest in Kyiv. (Auf dem Schild steht "Die Krim gehört uns"). © Valeriia Landar

28. März 2022. Die Kriege der Gegenwart sind hybride Kriege, ihre Kämpfe finden an vielen Fronten gleichzeitig statt. Seit Beginn der russischen Invasion setzen Institutionen wie das ukrainische Kulturministerium oder das Ukrainische Institut den Kampf auf ihre Weise fort.

Inzwischen haben sich mehr als 70 Kulturinstitutionen weltweit darauf geeinigt, so genannte "Kultursanktionen" gegen russische Institutionen und Künstler:innen zu verhängen, und ihre Zahl ist weiterhin steigend. Immer stärker wird unter internationalen Kulturschaffenden und ukrainischen Künstler:innen die Frage diskutiert, in welchem Maß die russische Kultur "gecancelt" werden sollte: Sollen wir nur jene Personen und Gruppen verbieten, die die "Militäroperation" offen unterstützen? Was ist mit den stillen Befürworter:innen? Reicht die Friedenstaube aus, die führende Theater in Moskau und Sankt Petersburg jetzt als Avatare gewählt haben, um ihre Anti-Kriegs-Haltung zu signalisieren?

Stark zentralisierte russische Kulturlandschaft

StIch denke, dass diese Frage besonders in Deutschland, wo traditionell eine enge Verbindung zur russischen Theaterkultur besteht, hochaktuell sein dürfte. Es ist kein Geheimnis, dass die Kultur in Russland zurzeit extrem zentralisiert ist und selbst der liberale Teil, der eigentlich für eine westliche russische Kultur steht – etwa das Garage-Museum oder das Kulturzentrum GES-2 –, großzügig aus dem Staatshaushalt unterstützt wird. In ihrem Vortrag auf der Biennale in Kyiv Allies 2021 wies die russische Philosophin Katy Chukhrov darauf hin, dass das hierarchische Verhältnis von Administration und Programmabteilung sowohl wesentliches Merkmal als auch entscheidender Nachteil des russischen Kunstbetriebs ist. Im Gegensatz zur ukrainischen Kunstlandschaft, die andere Charakterisika und Leerstellen aufweise, gebe es in Russland kaum nennenswerte unabhängigen Gruppen oder Projekte.

Es ist längst offensichtlich, dass sich diese Tendenz zur Zentralisierung in Russland zu einer Realität ohne Alternative verfestigt hat – wo man inzwischen ins Gefängnis kommen kann, wenn man einen Krieg "Krieg" nennt. Eine russische Kultureinrichtung zu sein bedeutet heute, entweder regierungstreu zu sein oder nicht mehr zu existieren. 

Fallstricke, die der Westen nicht sieht

Trotzdem ist es wert festzuhalten, dass keine der zeitgenössischen Kunstgalerien und Theater in Russland die Invasion in der Ukraine direkt verurteilt hat. Das Moskauer Teatr.doc, bisher eine führende Plattform für zensierte Stimmen, und seit Jahren im Kampf für die Demokratie in Russland aktiv, beschloss, seine Pläne und sein Repertoire nicht zu ändern. Am 5. März schrieben sie eine Art öffentlichen Brief auf Facebook: "Wir werden unseren Zeitplan nicht ändern, wir werden die Aufführungen spielen, die geplant waren. Ja, es sind friedliche Themen. Der Frühling ist da. Die Liebe existiert. Und wir müssen über persönliche Dinge sprechen." Im Februar, gleich nach Beginn der Invasion, riefen sie ihr Publikum sogar dazu auf, eine Aufführung für Kinder zu besuchen - "weil diese Aktivität viel besser ist als das Lesen des täglichen Newsfeeds". Diese Art von Brief ist bisher die einzige öffentliche Botschaft eines Theaters, das seine Eigenschaft, Klartext zu reden, einmal zum wesentlichen Merkmal seines ästhetischen Programms erklärt hat.

Das Garage Museum zum Beispiel beschloss als einzige Antwort auf ein so einschneidendes Ereignis wie den von seinem Land entfesselten Krieg, höflich eine "Arbeitspause" einzulegen.

PashaLee Photo from Pashas social media profileDer bekannte ukrainische Film- und Theaterschauspieler Pasha Lee. Er meldete sich freiwillig zur Armee und starb am 6. März in Kyiv Foto: https://www.facebook.com/pasha.li.39

Dieses trostlose Bild aus heuchlerischen und gezwungenen Stimmen könnte zu der Frage führen, inwieweit westliche Institutionen nicht nur die Ukrainer:innen, sondern auch die verfolgten russischen Künstler:innen unterstützen sollten. Um es kurz zu machen: Aus ukrainischer Perspektive würde ich sagen, nein, das sollten sie nicht tun. Und sie sollten auch nicht weiter der Idee von einer völlig anderen russischen Kultur anhängen, die nicht mehr – oder noch nicht – existiert.

Denn dies ist der Weg zur Duldung eines kolonialen Projekts, auf dem es mehrere Fallen gibt, die von westlichen Beobachtern vielleicht nicht so leicht erkannt werden können.

Erstens – und das ist für Ukrainer:innen von größter Bedeutung – darf es keine Diskussion über "die ukrainische Krise" ohne Beteiligung der Ukraine geben. Genausowenig dürfen die Ukraine und Belarus mit Russland in einen Topf geworfen werden – ein Vorgehen, das möglicherweise von der Idee herrührt, dass sowohl die Ukraine als auch Belarus gleichermaßen als "Opfer des Putin-Regimes" betrachtet werden. Ein solcher Ansatz jedoch führt uns zu dem gefährlichen und manipulativen Gedanken, die Menschen dieser Länder seien noch immer "Brüdervölker", die irgendwie ihre Wurzeln, ihre Kultur und auch ihre Zukunft teilen.

Keine Kraft zum Zusammenschluss 

Die Wahrheit indes ist, dass das unersättliche russische Imperium eine ganze Reihe von Kulturen über Jahrzehnte und Jahrhunderte unterdrückt und kulturelle Vielfalt nicht zugelassen hat. Aber selbst Personen und Gruppen, die unter Putins Regime leiden, verfügen über andere Handlungsspielräume: Handlungsspielräume, die nicht vergleichbar sind mit der Situation der direkten Bedrohung von Menschenleben durch Raketen und andere Waffen.

Der Hauptunterschied, so scheint mir, besteht darin, dass sich die Ukrainer:innen bereits entschieden haben, wie sie auf Putins Ambitionen reagieren, die Demokratie in anderen Ländern wieder abschaffen zu wollen. Sie haben sich entschieden zu kämpfen und ihr Leben zu riskieren. Und diese Entscheidung ist schon lange vor Beginn der Invasion gefallen – spätestens nach der Annexion der Krim. Die russische Opposition, die nach den letzten großen Protesten fast zerschlagen wurde, hat in der Zwischenzeit nicht die Kraft gefunden, sich zusammenzuschließen und darauf zu reagieren.

Was Diskussionen und Programme gegen diesen Krieg ohne ukrainische Stimmen angeht, möchte ich betonen, dass es hier für die Ukraine darum geht, als Subjekt zu agieren – statt Objekt der Entscheidungen und Manipulationen anderer zu sein.

Die "große russische Kultur" muss neu überdacht werden

Die zweite – und vielleicht umstrittenere – Aussage, die von unserer Künstler:innen-Community mehrheitlich unterstützt wird, lautet, dass ein Moratorium zur russischen Kultur nicht nur jene Projekte betreffen sollte, die von der Regierung gesponsert wurden oder mit staatlichen und Oligarchen-Geldern im Zusammenhang stehen. In ihrem Artikel "Warum wir eine postkoloniale Linse brauchen, um die Ukraine und Russland zu betrachten" vertritt meine Kollegin Daria Badoir – ebenfalls Kritikerin – die These, dass selbst in der Antikriegsrhetorik russischer Emigrant:innen mitunter vergessen wird, dass die so genannte "große russische Kultur" aus einer Perspektive der Entkolonialisierung neu gedacht werden muss. Anschaulichstes Beispiel dafür ist die sowjetische Avantgarde, die heute von vielen westlichen Kulturinstitutionen im Wesentliche als russische Avantgarde betrachtet wird.

Dies aber spiegelt kaum das tatsächliche Bild dieser Bewegung wider, da die UdSSR ein Zusammenschluss von mehreren Republiken und Regionen war. So wurde etwa der Einfluss der ukrainischen Kultur auf Künstler wie Kazimir Malewitsch und Dawid Burliuk, die in der Ukraine geboren wurden, bislang kaum erforscht. Früher oder später muss dieses sowjetische Narrativ, in dem Russland und insbesondere Moskau eine Art Zentrum darstellen, neu geschrieben werden, damit die anderen Kulturen ebenfalls ihren Platz in dieser Geschichte einnehmen können.

Auf Nationalität beruhender Hass ist kein Ausweg

Man kann sogar sagen, dass die kolonialistische Unterdrückung bis heute anhält, in der Art, wie Russland einer anderen Kultur nun eine Pause aufzwingt. Während Menschen und Institutionen in Russland weiterhin die Möglichkeit haben, neue Bilder, Texte, Filme usw. zu produzieren, haben die meisten ukrainischen Künstler:innen aufgrund ihres gegenwärtigen Überlebenskampfes aktuell keine Chance, sich auf ihre künstlerische Arbeit zu konzentrieren. So gesehen steht die russische Invasion der Ukraine also nicht nur für Tausende von Toten, sondern auch für Hunderte von Veranstaltungen, Festivals, Bücher, Aufführungen oder Diskussionsrunden, die seit dem Überfall nicht stattfinden und erscheinen konnten.

LenaMyhashko Serhii PolovynkaLena Myhashko © Serhii Polovynka

Um diesen Essay zur Frage der Kultursanktionen gegen Russland abzurunden, möchte ich allerdings hinzufügen, dass Hass, der sich aus dem Kriterium der Nationalität speist, natürlich keine Lösung ist.

Aber ich möchte auch deutlich sagen: Ukrainische Künstler:innen und Theatermacher:innen sind davon überzeugt, dass die weltweite Künstlergemeinschaft (samt ihrer Festivals, Veranstaltungen, Künstler:innen oder Gruppen) Krieg und Gewalt nicht unsichtbar werden lassen darf. Ebensowenig dürfen die Menschen in den europäischen Ländern Krieg und Gewalt in blumiger Rhetorik ertränken. 

 

Lena Myhashko ist Theaterkritikerin, Journalistin und Chefredakteurin von Gwara Media. Darüber hinaus ist sie Expertin mehrerer Programme der Ukrainischen Kulturstiftung. Sie lebt in Kyiv in der Ukraine.

(Übersetzt von Christine Wahl unterstützt von DeepL)

Alle Texte zum Thema sind im Top-Thema Krieg in der Ukraine aufgelistet. Darunter auch Lena Myhashkos Bericht aus Kyiv unmittelbar nach dem Angriff Russlands.

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