Man merkt die Absicht, und man ist beschwingt

von Jürgen Reuß

Freiburg, 23. November 2008. Vor einem halben Jahr entschlüsselte Burkhard Müller in der "Zeit" Wilhelm Hauffs "Das kalte Herz" als Parabel von der Globalisierung der Rohstoffreserven. Der Held des Märchens, der mit seinem Beruf unzufriedene Köhler Kohlenpeter-Munk und sein guter Feerich, das Glasmännlein, repräsentieren die im Niedergang befindlichen, waldverheerenden Branchen der Holzkohlegewinnung und der Glashütte. Der Gegenspieler Holländer-Michel ist der erste Global Player des Schwarzwalds. Müllers Analyse endet mit der Frage: "Wo würde heute unser 'Kaltes Herz' erzählt?"

Das Programmheft zur Freiburger Premiere von Hauffs "Das kalte Herz" greift diese Frage auf – und die Inszenierung von Regisseurin Meret Matter beantwortet sie: Im Coaching-Seminar für ins Trudeln geratene Winnertypen. Bühnenbildner Serge Nyfelder verwandelt das Kleine Haus folgerichtig in einen Schulungsraum mit Flipchart und Videovorrichtung.

Märchenhafte Seminaristen

Der Clou der Freiburger Seminarleiterin (Anna Böger) ist, die Teilnehmer anhand von Märchen zu coachen: Mit überstilisierter Penetranz nötigt sie ihre Seminaristen zum Rollenspiel. Jeder bekommt seine Figur zugewiesen: Der verlotterte Loser Manfred (André Benndorff) wird der Kohlenpeter, die Regelhörige Marke CSU-Bezirkschefin (Uta Krause) seine Mutter, die verhuschte Jane (Bettina Grahs) seine Frau, der jugendlich vergreiste Zwangspossenreißer Kirk (Jens Bohnsack) wird zum wunscherfüllenden Glasmann und der midlifekrisengeschüttelte Topmanager Theodor (Thomas Mehlhorn) zum Holländer-Michel.

Diese Inszenierungsidee bietet zunächst viel Tempo, Witz und eine gewisse Stimmigkeit. Würde ein sich zu Höherem berufener, köhlernder Prolet heute nicht zwangsläufig irgendwann im Privatfernsehen vorgeführt und dann genauso unbeholfen seine Motive in die Kamera stammeln, wie das Seminarist Manfred für seinen Coach tut? Würde der gewitzte Flößer Holländer-Michel seine Expansionspläne heute nicht auch am Flipchart referieren? Und hat das kalte Herz, das Wilhelm Hauff damals den Geschäftsleuten andichtete, nicht gewisse Ähnlichkeiten zur Fehlfunktion im Frontallappen, den Neurologen heute als Erklärung für das Vorkommen skrupellosen Topmanagertums ausgemacht haben wollen?

Der Glasmann mit der Klarsichtfolie

Dazu bietet die Inszenierung eine Vielzahl fantastischer Einfälle, wie sich mit einfachsten Mitteln große Illusionen erzeugen lassen: Ein paar Farntöpfe hinter dem Kopf gewedelt – und schon irrt der Köhler Peter im Videobild gehetzt durch den Schwarzwald. Für sein Zuhause genügen ausgerollter Modelleisenbahnrasen mit Modellhäuschen und Kuh. Jens Bohnsack mutiert mit etwas um den Kopf gewickelter Klarsichtfolie zum Glasmann, seiner Stimme leiht er nur die Lippen, die Töne erzeugt Bettina Grahs mit dem Megafon.

Der Coach unterbricht immer wieder und lässt die Gruppe diskutieren, ob ihr Spiel sie auf dem Weg zum Plusplusmenschen weiter gebracht hat. Bisweilen lässt sie nicht locker, bis der gebrochene Loser voller Stolz sein "Ich will an jeden Baum pissen und sagen, das ist meiner" in die Welt brüllt.

So weit, so gut. Aber irgendwie soll das Märchenspiel wohl langsam Macht über die Seminaristen gewinnen und sie in seinen Bann ziehen, statt sie in ihrer Karriere voranzubringen. Anders lässt sich kaum erklären, warum sich der Coach mit dem Fortschreiten des Spiels im Spiel immer weiter aus der Seminarleitung zurückzieht, sich dann sogar Champagner als eine Art Ascheersatz übers eigene Haupt kippt. An diesem Punkt zerfasert die Inszenierung etwas. Auch die in bestimmten Abständen eingesungenen Volkslieder entwickeln zu wenig emotionale Überzeugungskraft, um den zeitweiligen Wandel der Grundsituation nachvollziehbar zu machen.

200 Jahre Finanzkrise

Warum verfallen die Seminaristen samt Coach zeitweilig dem Märchencharme? Man würde diese Flucht gern mitmachen, aber so ist man dann doch eher froh, dass das märchenhafte Changieren zwischen Heilsversprechen und desillusionierender Umsetzung, also Peters Reichtum und seinem steinernen Herz, wieder in den Seminarraum geholt und am Beispiel von Monsantos Gentechnik durchdekliniert wird.

Trotzdem bleibt es eine tolle Idee, die literarische Reaktion Wilhelm Hauffs auf die Finanzkrise von 1825/26 zu unserer heutigen Krise in Beziehung zu setzen. Manchmal können auch schon die Absichten die Umsetzung zu einem anregenden Erlebnis machen.

 

Das kalte Herz
Theaterprojekt nach dem Märchen von Wilhelm Hauff
Regie: Meret Matter, Bühne und Kostüme: Serge Nyfeler, Mitarbeit Kostüme: Maia Gogishvili.
Mit: André Benndorff, Anna Böger, Jens Bohnsack, Bettina Grahs, Uta Krause, Thomas Mehlhorn.

www.theater-freiburg.de

 

Kritikenrundschau

In der Badischen Zeitung (25.11.) schreibt Bettina Schulte, dass man an dieser Inszenierung also sähe, wie "die globale Finanzkrise von heute im Schwarzwald ihren Anfang" genommen hätte. Nur dass man heutzutage kein steinernes Herz mehr bräuchte, "um am Markt erfolgreich zu sein". Meret Matter nun hätte den "brisanten Stoff" in ein "Coaching-Seminar für ausgemusterte Arbeitskräfte" eingebettet, was rasant, nicht unbedingt realistisch und in den Details nachgerade "virtuos" vonstatten gehe: "Eine kleine Plastikkuh, ein Fallerhäuschen, ein Fitzel Kunstrasen: Schon ist die Schwarzwaldidylle perfekt." Letztlich aber reihe die Inszenierung bloß "Nummer, Szene an Szene" und entrinne nicht der Gefahr "in eine kleinteilige Stoffsammlung zum Thema 'Wilhelm Hauff heute' zu zerfasern". Was auch daran liegen könne, dass "die Textfassung offenbar ein Kollektivprodukt" sei. Zweifellos aber habe man einen "amüsanten, schauspielerisch brillanten Theaterabend gesehen".

 

Kommentar schreiben