Endstation Unsterblichkeit

8. April 2022. Wie beschreibt man das Unbeschreibliche? In seinem Abend "Odyssey. A Story for Hollywood" kreuzt Krzysztof Warlikowski die Geschichte von Odysseus mit der der Holocaust-Überlebenden Izolda Regensberg. Das Ergebnis ist ein düsterer, witziger, erschütternder Theaterabend über die Hölle, die der Mensch sich selbst schafft. Nach Warschau ist er jetzt am koproduzierenden Schauspiel Stuttgart angekommen.

Von Verena Großkreutz

"Odyssey. A story for Hollywood" am Schauspiel Stuttgart © Magda Hueckel

8. April 2022. Unsterblichkeit, ein Menschheitstraum? Izolda Regensberg zumindest sehnte sich danach. Die polnische Jüdin hatte als "herausragende Spezialistin des Überlebens", als die sie sich selbst bezeichnete, die Verfolgung durch die Nationalsozialisten, Hunger, Flucht und Folter überstanden. Und auch ihre verzweifelte Suche nach ihrem Ehemann, der nach Auschwitz deportiert worden war, endete 1945 erfolgreich. Auch er hatte überlebt. Nicht im physischen Sinn wollte Izolda Regensberg unsterblich werden, sondern im übertragenen: Sie wollte ihre Lebensgeschichte in Hollywood verfilmt sehen – mit Liz Taylor als ihrem Alter ego. Dann würde sich, so dachte sie, ihre Geschichte wie von selbst mit der bereits als unsterblich geltenden Diva verbinden.

Die Hölle, die der Mensch sich selber schafft

Mit der Verfilmung klappte es nicht. Dafür nahm sich die polnische Autorin Hanna Krall Izoldas Geschichte an: in ihrer Reportage "Eine Story für Hollywood" und dem Roman "Herzkönig". Der polnische Theatermacher Krzysztof Warlikowski und das Warschauer Nowy Teatr wiederum haben nun aus diesem Stoff ein Theaterstück gemacht: "Odyssey. A Story for Hollywood". Premiere war im Juni 2021 in Warschau, gestern in Stuttgart.

Odyssey2 805 Magda Hueckel uDie drei Odysseus-Kinder: Bartosz Gelner, Jacek Poniedziałek, Małgorzata Hajewska-Krzysztofik © Magda Hueckel

Warlikowski implantiert Izoldas Geschichte allerdings in einen größeren Zusammenhang, suchte nach Analogien und fand Homers Helden Odysseus, der auf die Unsterblichkeit, die ihm seine Liaison mit der Göttin Kalypso ermöglicht hätte, einst verzichtet hatte, um in seine Heimat zurückzukehren. Ein Theaterabend in Episoden, die zeigen, dass sich da jemand viele Gedanken gemacht hat über den Tod und die Unsterblichkeit, über Flucht und Wiederkehr, über das Leben, das Totenreich und die Hölle, die der Mensch sich selber schafft. Und letztlich auch übers angemessene Erinnern. Ein Theaterkosmos baut sich auf, in dem auch Hannah Arendt und Martin Heidegger, Roman Polanski, Richard Burton und Liz Taylor, Claude Lanzmann und weitere ihren Auftritt haben.

Sex mit einer Göttin

Die Bühne zeigt eine heruntergekommene Turnhalle, in die sich flugs weitere Ausstattungen für schnelle Szenenwechsel platzieren und wieder entfernen lassen. Auf einer Leinwand werden Filme und Aufnahmen der Live-Kamera zugespielt. Ein riesiger rollbarer Gittercontainer mit Sitzbänken dient mal als Folterkammer oder Jeansladen oder als Dampfer, aus dem der alte Odysseus mit geschultertem Seesack herausstiefelt, um von seinen genervten, längst erwachsenen Kindern Telemachos, Roma und Telegonus in Empfang genommen zu werden. Zuhause am gutbürgerlichen Wohnzimmertisch mit Häkeldecke berichtet er seiner Wodka kippenden Familie von seinen Kriegs- und Liebesabenteuern, von Zyklopen, Laistrygonen und von Kalypso, die er "gefickt" habe, was die Gattin Penelope mit erstarrter Miene zur Kenntnis nimmt.

Später relaxt Penelope am Strand in der Sonnenliege, währen Odysseus das Laufen mit zwei Gehhilfen übt. Penelope sinniert darüber, wie es wohl sei, Sex mit einer Göttin zu haben: "Mich fasziniert nicht die Metaphysik, sondern die Mechanik einer Beziehung zweier Partner mit einer derart unterschiedlichen Körperlichkeit." "Höhöhö", lacht der Alte, während er lüstern hinüberlinst zu einer lasziv sich auf ihrem Badelaken räkelnden jungen Frau.

"Holocaust bringt Oscars!"

Izolda ist derweil im Vorführraum eines Hollywoodstudios gelandet, wo in Anwesenheit von Liz Taylor und Roman Polanski und einem narzisstischen, profitorientierten Produzenten überdreht über den geplanten Film "Isolde’s War" gestritten wird: "Holocaust ist ein Hobby von Roman." "Aus einer Holocaust-Story kannst du keinen Blockbuster machen." "Aber Holocaust bringt Oscars!" Was aus der Geschichte würde, käme sie wirklich zur Verfilmung, zeigt die erste Probeaufnahme, die nicht, wie sie sollte, in einem Gestapogefängnis spielt, sondern in einem schicken, holzvertäfelten Salon mit Kronleuchter. Des Gestapooffiziers subtile Quälerei seines Opfers Izolda: Er intoniert auf dem Flügel Wagners "Tristan"-Vorspiel – unerträglich zerdehnt.

Odyssey3 805 Magda Hueckel uHannah Arendt (Małgorzata Hajewska-Krzysztofik) und Martin Heidegger (Jacek Poniedziałek) © Magda Hueckel

Die eigentlich disparaten Szenen werden geschickt miteinander verknüpft: Wenn sich Hannah Arendt 1950 – erstmals aus dem Exil nach Deutschland zurückgekommen – mit ihrem Ex-Geliebten Martin Heidegger, dem Philosophen mit brauner Vergangenheit, im Schwarzwald zum Picknick trifft, doziert sie zunächst über die Metaphern bei Homer. Und warum rezitiert Izolda Oscar Wildes Märchen "The Happy Prince" ausgerechnet vor ihrem Friseur? Weil das eine gute Überleitung ist zum Ausschnitt aus Claude Lanzmanns epochalem Dokumentarfilm "Shoa": Darin versagen Abraham Bomba, einst Friseur im Vernichtungslager Treblinka, die Worte angesichts des erlebten Grauens, von dem er berichten soll. Anlass wiederum, die Figur Lanzmann auf die Bühne zu bringen, um Spielbergs "Schindlers Liste" aufs Korn zu nehmen: "eine illustrierte 'Shoah'" sei das, ein "kitschiges Melodram". "Bilder töten die Vorstellungskraft", sagt Lanzmann.

Besuch vom Dibbuk

Es ist ein praller, ein düsterer, ein witziger, ein erschütternder Theaterabend, gespielt von einem großartigen Ensemble. Aber wie ihn zu Ende bringen, nach so viel Angerissenem, nicht fertig Erzähltem? Das gelingt Warlikowski auf ganz leichte, beschwingte Weise: Izolda und ihr Mann bekommen Besuch von einem längst verstorbenen Rabbi, einem Dibbuk, einem bösen Geist aus dem Totenreich. Weil Izolda ihm ihre ganze Abscheu zeigt, macht er sich schnell wieder von dannen. Man merke, wenn man ungebeten sei, sagt er, und durchs Fenster schauen ihm die beiden paralysiert hinterher, wie er aus dem Schauspielhaus tänzelt und fröhlich "Hava Nagila" trällert, "Lasst uns glücklich sein". Ein schönes Ende.

 

Odyssey. A Story for Hollywood
von Krzysztof Warlikowski, Piotr Gruszczyński und Adam Radecki, Mitarbeit: Szczepan Orłowski und Jacek Poniedziałek, inspiriert von Homers Odyssee und den Romanen "Herzkönig" und "Eine Story für Hollywood" von Hanna Krall, auf Polnisch mit deutschen und englischen Übertiteln
Inszenierung: Krzysztof Warlikowski, künstlerische Mitarbeit: Claude Bardouil, Bühne und Kostüme: Małgorzata Szczęśniak, Dramaturgie: Piotr Gruszczyński, Mitarbeit: Anna Lewandowska, Musik: Paweł Mykietyn, Licht: Felice Ross, Video und Animation: Kamil Polak.
Mit: Mariusz Bonaszewski, Stanisław Brudny, Agata Buzek, Andrzej Chyra, Magdalena Cielecka, Ewa Dałkowska, Bartosz Gelner, Małgorzata Hajewska-Krzysztofik, Jadwiga Jankowska-Cieślak, Wojciech Kalarus, Marek Kalita, Hiroaki Murakami, Maja Ostaszewska, Jaśmina Polak, Piotr Polak, Jacek Poniedziałek; im Video: Maja Komorowska, Krystyna Zachwatowicz-Wajda.
Eine Produktion des Nowy Teatr, Warschau // in Koproduktion mit dem Schauspiel Stuttgart, der Comédie de Clermont-Ferrand, dem Athens and Epidaurus Festival, La Colline – théâtre national, Paris und Printemps des Comédiens, Montpellier. Mit Unterstützung des Kulturförderprogramms "Creative Europe" der Europäischen Union.
Uraufführung: 4. Juni 2021 in Warschau
Stuttgarter Premiere: 7. April 2022
Dauer: 3 Stunden 45 Minuten, eine Pause

nowyteatr.org
www.schauspiel-stuttgart.de

Kritikenrundschau

Im Deutschlandfunk Kultur (7.4.2022) erzählt Christian Gampert: "Es geht um die Frage, wie erinnern wir uns eigentlich und was passiert, wenn die Medien – das Kino, auch das Theater – sich eines solchen Stoffes [Holocaust] bemächtigen." Dies mache Warlikowski "unglaublich ehrlich, auch selbstkritisch", findet der Rezensent. Gegen Schluss der Inszenierung werde es doch ein "bisschen viel", was der Regisseur in diesen Abend packe, doch: Warlikowski sei in der Personenführung "absolut präzise" und sehr stark in den Bildern. Ein "grandioses Bühnenbild von Małgorzata Szczęśniak" sah Gampert und die Haltung der Schauspieler:innen, "egal ob sie SS-Männer, Calypso, Odysseus oder eine amerikanische Schauspielerin wie Elisabeth Taylor spielen", seien "perfekt angeeignet". "Das ist großes, großes Regie- und Schauspielertheater. Das ist wirklich heute Welttheater gewesen", resümiert er den Abend begeistert.

"Szenen voller Schmerz, angedeutete Folter, Filmpassagen aus Claude Lanzmanns Film 'Shoah' – in der Überlebende vom Konzentrationslager sprechen – stehen neben Kabinettstücken von absurder Komik", schreibt Nicole Golombek in der Stuttgarter Zeitung (9.4.2022). Nach vier Stunden Theater über die absurde, tragische Irrfahrt, die man Leben nennt, applaudierte das Publikum stehend, berichtet die vom Abend überzeugte Kritikerin.

"5 von 5 Punkten ('nicht zu toppen')" bekommt dieser Abend von Kritiker Thomas Rothschild auf dem Kulturblog Kultura extra (8.4.2022) als finales Fazit seiner Kritik. "Odyssey. A Story for Hollywood" sei "ganz unzeitgemäß Bildungstheater, vollgestopft mit Anspielungen, unter anderem auf Shakespeares Richard III., auf Malaparte, auf Coetzee, auf den Filmregisseur Theo Angelopoulos." Am Schluss verneige sich der Regisseur vor dem "leider nur halb gefüllten Saal, wie immer mit zerrauftem Haar und bedröppelt, als wäre ihm der Jubel des Publikums peinlich."

 

 

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