Wallenstein - Staatsschauspiel Dresden
Stochern in der Wunde Europa
15. April 2022. Frank Castorf hat sich Friedrich Schillers Dramentrilogie "Wallenstein" über den Dreißigjährigen Krieg vorgenommen – während in Europa wieder gekämpft wird. Für sieben Stunden wirft er in Dresden die Assoziationsmaschine an, hört aber auch mal nur dem Text zu. Am Ende gibt’s sogar eine deutliche Botschaft.
Von Matthias Schmidt

15. April 2022. RTL hat vor ein paar Tagen die Passionsgeschichte in zweieinhalb Stunden abgeschwenkt. Obwohl Thomas Gottschalk die Geschichte erzählt hat. Inklusive Kreuzigung. Und Werbung, natürlich, so viel Zeit muss sein. Frank Castorf hatte für seinen Dresdner "Wallenstein" fünf Stunden angekündigt. Im Programmheft waren fünf Stunden und 40 Minuten daraus geworden. Plus Pause, wurde am Kartenschalter mündlich weiter verlängert. Am Ende waren es sieben Stunden. Sieben! Die Hälfte davon war zum Verlieben schön, ein Fest! Die andere zäh und dröge, eine Geduldsprobe.
So viele Völker, so viel Kämpfe
Der Prolog wird von maskierten Nackten gesprochen. Blutverschmiert stehen sie an der Rampe, pressen die Worte hinter ihren Masken hervor, die wie der alte Goethe aussehen. Oder ist es der tote? Das Spiel beginnt, und in den Ernst der Schiller-Trilogie aus einem der großen Kriege "Europens" mischt sich Humor. Ein Texthänger, ausgerechnet bei "Dem Mimen flicht die Nachwelt …"? Es darf gelacht werden, die Nachrichten sind ernst genug. Es geht um die Schrecken des Krieges, um Feldherren und Macht, um das wenig tugendhafte Wesen der Soldaten, und – wie ein Blick auf die Bühne zeigt – um unser Europa. Um die Hoffnung auf seine Zukunft, die Schiller umtrieb und die Castorf mit einer eindringlichen Collage aus Zitaten, Symbolen und Filmszenen ins 20.Jahrhundert holt. Was könnte besser passen in die traurige Gegenwart?
Im Bett mit Goethe: Götz Schubert, Nadja Stübiger, Torsten Ranft, Kriemhild Hamann, Fanny Staffa © Sebastian Hoppe
Frank Castorf geht das große Thema an mit einem Bilder-, Musik- und Textfeuerwerk, bei dem fleißig dekodiert werden darf. Hinter einem Vorhang mit dem deutschen Doppeladler (dem heutigen Staatswappen nachempfunden) erscheint eine kitschig bunte Krippenkulisse. Darüber, auf deren Dach, stecken martialisch die Standarten der Truppen des Dreißigjährigen Krieges. So viele Völker, so viel Kämpfe. Hans Frank tritt auf, der „Schlächter von Polen“, und die deutschnationale Überheblichkeit bleibt im Halse stecken. Das Kreuz, das bei Castorf mit dem Jesus darauf über die Bühne getragen wird, es ist ein Schwert und keine Fernsehfolklore. Die letzten, die die Ukraine überfielen, waren Deutsche.
Ein Hauch von Wahnsinn
Aus diesem Kaleidoskop deutscher und europäischer Geschichte taucht die Figur des Wallenstein auf, der Böhme aus Hermanitz, der Schlachtengewinner, der Kriegsgewinnler. War er Verräter, war er Friedenssucher? Bevor er persönlich erscheint, wird grandios gespielt, werden die Rollen gewechselt und verlassen, Klischees wie das von den Deutschen als Kartoffel-Esser benutzt und zugleich ironisiert. Sprachgender-Versuche enden in einer Nuschel- und Lall-Orgie, und immer wieder kehrt der Krieg zurück.
Famos der Rhythmus, in dem die Inszenierung arbeitet: zwischen langen Schiller-Szenen – herausragend Frank Büttners Kapuziner-Monolog und Henriette Hölzel, singend, gebärend, lasziv, als Marionette – immer wieder Lieder und Fremdtexte: "Pommerland ist abgebrannt" oder das "O sole mio", mit dem Torsten Ranft als Octavio Piccolomini lustvoll die Bühne erobert. "Spät kommt ihr", wird gesagt, als Wallensteins Offiziere mit kleinen Panzern die Bühne einnehmen, auf ihnen herumturnen, mit ihnen herumalbern, als gäbe es die schlimmen Bilder aus der Ukraine nicht. Die bittere deutsche Realität hat sich in Witze verkleidet: "Ist das noch DDR-Material? – Wir sollten es verschicken! – Es wird sich schon irgendein Schauplatz finden!" Ein Hauch von Wahnsinn schwebt zusammen mit dem Bühnennebel durch den Saal, so frei und wild und ernst zugleich ist diese Inszenierung in den ersten Stunden.
Schillers Sprachschönheit in Stunde vier und fünf
Das hat nach der Pause ein Ende. Noch einmal bäumt sich kurz – zu Laibachs "Geburt einer Nation" – die Castorf'sche Assoziationsmaschine auf, und dann – ist plötzlich Schiller. "Der Eichwald brauset, die Wolken zieh'n …" Götz Schubert deklamiert den Wallenstein, die Liebesszene zwischen Max Piccolomini und Thekla zieht sich endlos hin. Die Ränkespiele um den Treueschwur der Offiziere finden fast ausschließlich auf der Leinwand statt. Bis dahin ist das Spiel mit den Kameras eine (wie gewohnt) lebhafte Ergänzung. Jetzt wirkt es wie ein Videoabend ohne Knabbereien. Plötzlich geht es gediegen zu und ernst, aber eben auch zäh und dröge.
Oh Leib voll Blut und Wunden: Torsten Ranft, Nadja Stübiger, Daniel Séjourné © Sebastian Hoppe
Da sind doch aber, höre ich entgegnen, Schillers Sprache und sein Versmaß. Genau da sind sie, in ganzer Schönheit in den Stunden vier und fünf. Aber der Rhythmus ist verloren gegangen, endlos grübelt Wallenstein mit der Herzogin über den Fortgang seiner "Friedensidee". Man sieht der ungebremst aufspielenden Nadja Stübiger sowie Götz Schubert, der gelegentlich anhebt, als stünde er in Worms auf der Nibelungenbühne, gerne dabei zu, das schon, aber es zieht sich.
Der Abend zerfällt zunehmends
Erst spät kehren sie wieder, die hinzugefügten Texte über die "Wunde Europa", die Blockade von Leningrad, der Fäulnisgeruch der auftauenden toten Pferde aus dem Ladogasee – der Geruch des toten Europas. In dieser zweiten Hälfte des Abends fällt einmal auch – in einer Reihe mit Mussolini und Hitler – der Name des Mannes, der den Krieg von heute angezettelt hat. Dann folgt eine Szene zum Jugoslawienkrieg, dabei war – was die Kriege in Europa angeht – bereits vor der Pause alles verstanden. Der Abend zerfällt zunehmends, und – mit Verlaub – er ist zu lang. Selbst wenn man Frank Castorf, was das Überziehen angeht, als Thomas Gottschalk des Theaters ins Herz geschlossen hat.
Am Ende kommt jetzt – on top – offenbar auch bei Castorf, der bis dato die Eineindeutigkeiten so gekonnt verspielt umschifft hat, die direkte Botschaft. Das Ensemble nimmt Aufstellung. In Kostümen und mit den Worten der indigenen zapatistischen Rebellen wird ein Aufruf zu friedlichem Widerstand vorgetragen. Die mexikanischen Zapatistas haben der Gewalt abgeschworen. Eines ihrer Mottos lautet: "Eine andere Welt ist möglich!" Die Hoffnung stirbt zuletzt. Danach erwacht der Saal zu großem Jubel.
Wallenstein
von Friedrich Schiller.
Regie: Frank Castorf, Bühne: Aleksandar Denić, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Musik: William Minke, Videodesign: Andreas Deinert, Jens Crull, Lichtdesign: Lothar Baumgarte, Licht: Konrad Dietze, Dramaturgie: Jörg Bochow.
Mit: Marin Blülle, Frank Büttner, Kriemhild Hamann, Jannik Hinsch, Henriette Hölzel, Moritz Kienemann, Torsten Ranft, Götz Schubert, Daniel Séjourné, Oliver Simon, Fanny Staffa, Nadja Stübiger.
Premiere am 14. April 2022
Dauer: 7 Stunden, eine Pause
www.staatsschauspiel-dresden.de
Kritikenrundschau
"Eine siebenstündige Tour de force mit Glanz- und Glücksmomenten in der ersten Hälfte und leidigen Durchhängern in der zweiten" hat Christine Dössel erlebt, wie sie in der Süddeutschen Zeitung (online 15.4.2022) schreibt. "Castorf vertraut wie gewohnt auf das Adrenalin, das das Ensemble zu energetischen Höchstleistungen antreibt, was auch in Dresden mitreißend gelingt." In der zweiten Hälfte verliere der Abend an Zug, da müsse man sich an den hohen Schauwert der Inszenierung und die großartige Schauspieleinlagen halten. "Was diese Inszenierung nach zwei Jahren Corona-Distanz generell zum Ereignis macht, ist ihre schwitzende, spuckende, hochintensive Körperlichkeit und Intimität."
"Frank Castorf, der langersehnt, erstmals am Dresdner Staatsschauspiel inszeniert, schafft es mit plumpem Witz, Slapstick, Trash, Ironie und Sarkasmus," gibt Stefan Petraschewsky bei MDR-Kultur (15.4.2022) zu Protkoll. "Beispielsweise beim Auto- pardon: Panzerscooter. Vier Offiziere aus Wallensteins Heer immer im Kreis um die Bühne herum, einer bremst ab, dreht – rums, und dann der Klassiker aus dem Panzerturm: 'Spät kommt ihr, doch ihr kommt!' Was man von deutschen, schweren Waffen derzeit noch nicht sagen kann – Lachen wirkt irgendwie auch befreiend." Castorf bleibe dem Werk unerwartet treu. Man könne "Wallenstein", dessen drei Teile jeweils abendfüllende Stücke sind, gut folgen.
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 31. Mai 2023 Goethe-Institut: Russland beschränkt auswärtige Arbeit
- 31. Mai 2023 Forsa-Umfrage: Große Mehrheit für Theaterförderungen
- 30. Mai 2023 Peter Simonischek gestorben
- 29. Mai 2023 Alfred-Kerr-Darstellerpreis 2023 an Dominik Dos-Reis
- 29. Mai 2023 Cannes-Preise für Filme mit Sandra Hüller
- 29. Mai 2023 Margit Bendokat ist Ehrenmitglied des DT Berlin
- 26. Mai 2023 Mülheimer Kinderstücke-Preis an Roland Schimmelpfennig
Gründe:
Theater ist gesprochenes Wort und nicht bis zur Unverständlichkeit gebrülltes Wort.
Schauspieler mit Masken auftreten zu lassen die sie daran hindern so zu sprechen, dass man sie versteht, dient vielleicht der Selbstverwirklichung des Regisseurs, ist aber eigentlich mehr eine Beleidigung oder eine Verhöhnung des Publikums.
Gegenwartsbezug bzw. Bezug zur jüngeren Vergangenheit stellt man nicht her, indem man Klischees durch gebrüllte Parolen bedient - das ist nicht gekonnt sondern bestenfalls gewollt und mithin schlecht. Man kann durchaus davon ausgehen, dass Zuschauer, die bewusst zu dieser Premiere gegangen sind auch denken können.
Ein Regisseur, der die Schauspieler nackt auf die Bühne stellt und sie dazu zwingt, unverständlich sprechen, hat noch lange keine künstlerische Leistung vollbracht.
Wenn man Schiller in einem Stück von Schiller unter der Überschrift "von Schiller" nur gelegentlich Schiller zu hören bekommt, kann man das als Schmücken mit fremden Federn verstehen und auch so tadeln. "Castorp über Welkrieg II nach Motven von Schiller" hätte wahrscheinlich kaum jemanden ins Theater gelockt
Alles in allem ein wieder einmal der Versuch, des Kaisers neue Kleider zu verkaufen.
Wenn man nach 90 von 420 Minuten geht und die inszenatorische Klammer gar nicht sieht, sollte man sich eigentlich eine Kritik verkneifen. Es gefällt ihnen nicht - gut. Eine fundierte Kritik abgeben - nicht möglich.
Ich empfehle, ohne vorgefertigtes Bild ins Theater zu gehen. Stoffe werden immer wieder neu interpretiert und in verschiedene Kontexte gesetzt. Ein Zahn sollte man Ihnen ziehen. Wallenstein von Schiller, wie Schiller es dachte, wird Ihnen niemand mehr geben können. Es klingt fast so, als wussten sie nicht, dass sie auf Frank Castorf treffen. Man beschwert sich bei Batman von Tim Burton auch nicht darüber, dass es nicht düster sondern bunt ist.
Und sparen Sie sich Aussagen, dass der Regisseur jmd zwingt. Das ist ein Vorwurf, den vielleicht die Darsteller*innen bringen können, aber nicht Sie.
Herr Pötter, Ihre Zusammenfassung meines Textes ist nicht stimmig. Ich habe nicht behauptet, Peter Stein habe oder sei 11 Stunden im 2. Rang gesessen.
Der ganze Reisaufwand umsonst. Die Dresdner scheinen auch nicht in die Vorstellungen zu drängen. Es ist nicht gerade ausverkauft. Ist das Stück in Dresden schon angespielt, trotz der vielen Absagen?
Bei allen Vorstellungsabsagen werden die betroffenen Zuschauer*innen per Mail von unserem Besucherservice informiert, oft zusätzlich noch telefonisch. Sie erhalten in der Folge kostenlose Umbuchungen für alternative Termine oder Gutscheine. Wir haben in den letzten Monaten sehr viel dafür getan und einen großen Aufwand betrieben, um durch Krankheit gefährdete Vorstellungen trotz allem zeigen zu können. Franziska Blech, Leiterin Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Danke für ihre Antwort. Ihre Erläuterungen sind für mich nachvollziehbar. Die Abwicklung der Stornierungen sind auch gut geregelt und die Mitarbeiterin am Telefon war sehr freundlich.
Ich hoffe, dass die Inszenierung vielleicht mal vom Glück verfolgt wird und noch eine Weile läuft, sodass ich diese zu einem späteren Zeitpunkt noch sehen kann.