Nach dem dritten Weltkrieg

23. April 2022. Ist es die Kontinuität von Schuld, Gewalt und Zerstörung, die Regisseurin Henriette Hörnigk antrieb, diese Texte aneinanderzureihen? Drei Stücke von Euripides, Christa Wolf und Heiner Müller als Reflexion über Mechanismen und Abgründe der Geschichte und ihren Ursprung im Privaten.

Von Matthias Schmidt

"Trilogie der Unschuld" Neues Theater Halle © Falk Wenzel

23. April 2022. Am Anfang sind zwei Clowns. Ganz in Weiß und durchaus komisch denken sie über das Leben nach. In dem man vor lauter Terminen keine Zeit mehr für die wichtigen Dinge hat. Unschuldiger wird es nicht in der "Trilogie der Unschuld", die Henriette Hörnigk aus Texten von Euripides, Christa Wolf und Heiner Müller zusammengestellt hat. Wobei vor allem Heiner Müller das Wort hat, was dazu führt, dass der Abend im Verlauf immer besser wird.

Am Ende steht Müllers "Quartett“, da ist dann von Unschuld schon lange keine Rede mehr. Und als die ganz in Schwarz gekleideten Merteuil und Valmont in einem Bunker nach dem dritten Weltkrieg ihr derb-böses Spiel beenden, sieht das schwer nach Untergang aus. Das furiose Ende eines fast vierstündigen Ritts durch die Geschichte von der Mythologie bis, nun ja, ins kriegerische Heute.

Medea und Männer-Macht

Die Kontinuität von Schuld und Gewalt und Zerstörung, das muss es sein, was Henriette Hörnigk antrieb, diese Texte aneinanderzureihen. Sie zu verbinden mit Zwischentexten und Videoschnipseln, die rings um die fast leere, von drei Zuschauertraversen umgebene Spielfläche auf Leinwände projiziert werden. Nicht immer sind sie so klar zu deuten wie anfangs in der "Medea", wo unter anderem Bootsflüchtlinge zu sehen sind. In die große Weltenmaschinerie Geratene wie sie, Medea, die Jason zuliebe die Heimat Kolchis verließ, verlassen musste, um im selbstgefälligen Korinth nie richtig anzukommen.

Christa Wolfs Deutung des Mythos schaut auf sie nicht als Mörderin, sondern als Flüchtende, als von den Macht-Männern in Wut und Verzweiflung Getriebene. Laura Lippmanns Medea ist verletzt und kraftstrotzend zugleich und hat an ihrer Seite eine zweite starke Frau: die Amme, von Franziska Hayner mit großem Herzen und großer Klappe ausgestattet. Sie beide prägen den ersten Teil des Abends, der ruhig erzählt und inszeniert ist, atmosphärisch untermalt von durch den Saal wabernden Klängen, unterbrochen von Auftritten der beiden Clowns und Ausbrüchen ins Humoreske, beispielsweise wenn es um den Fetisch "Goldenes Vlies" geht. Ein Widderfell, tsss …

Geschichte zu Sätzen komprimiert

Mit "Medeamaterial" und "Landschaft mit Argonauten" übernimmt dann der Heiner-Müller-Duktus den Abend. Die großen historischen Bögen schlagend, die Geschichte aufmeißelnd, natürlich. Die Inszenierung zeigt, dass das auch ohne großes Pathos und immer wieder erstaunlich komisch geht, vom "Altsein ist schlimmer als der Tod" bis zu den "Fickzellen mit Fernheizung", den Neubauwohnungen, die später westdeutsch umetikettiert wurden zur "Platte".

trilogie der unschuld 2 C FalkWenzelMedea: Laura Lippmann © Falk Wenzel

Die sind dann auch auf den Leinwänden zu sehen, akustisch begleitet von einem Gespräch zwischen Alexander Kluge und Thomas Heise über Halle-Neustadt und den Chemiestandort Leuna. Henriette Hörnigk setzt die Bilder und Zitate auf den Leinwänden mehr und mehr auch als Material ein, ganz wie Müller Geschichte zu Sätzen komprimiert. Nicht immer wirkt das schlüssig, mancher Zusammenhang ist leichter, mancher schwerer zu deuten.

Der Fortschritt als Terror

Sehr konkret geht es bei "Mauser" zu, dem zweiten Teil des Abends. Stalin und Lenin sind auf den Leinwänden zu sehen, in den großen Posen, als Kämpfer für die gute Sache. Ganz in Rot spielen die Figuren A und B und der Chor und sie verlieren schnell ihre Unschuld. Der Fortschritt mausert sich zu Terror, der mal nachdenklich und mal volltrunken daherkommt, aber stets tödlich ist. Die Inszenierung belässt es beim Rückblick in die Geschichte, was korrekt, aber ein bisschen schade ist. Dass Revolutionen sich selbst fressen, ist ja auch in der Gegenwart nicht so selten. Immerhin wird nun auch chorisch gesprochen, der Abend nimmt Fahrt auf.

trilogie der unschuld 1 C FalkWenzelQuartett - Liebe und Hass als Weltzustand: Alexander Gamnitzer und Bettina Schneider © Falk Wenzel

Was nach der Pause kommt, könnte gut und gerne als eigener Abend bestehen. "Quartett", einer der Paradetexte Müllers, geradezu unglaublich lustvoll und vielschichtig gespielt von Bettina Schneider und Alexander Gamnitzer. Beide changieren perfekt zwischen lüstern und böse, komödiantisch und deprimiert, sie tauschen, wie der Meister es wollte, die Rollen, die Geschlechter, sie hassen und sie lieben sich, sie sind obszön und tabulos. Sie lassen das Lachen darüber im Halse stecken bleiben, als ihr Trieb zu Missbrauch wird und sie damit wieder einen Müller-Text mitten im Hier und Jetzt landen. So aktuell wie eine Tagesschau.

Bausteine universeller Geschichte

Auf der Leinwand ist die Erde von oben zu sehen, der blaue Planet. Das meint wohl, auch das, was Merteuil und Valmont hier spielen, ist kein privates Untergangsdrama. Es ist das Abbild eines größeren Dramas im Kleinen, so wie jedes der drei Stücke des Abends ein Baustein der universellen Geschichte ist. Man sagt das so leicht: davon geht die Welt nicht unter. Es kann aber immer auch schiefgehen, und im Kleinen fängt es eben an. Am klarsten erkennt man das im letzten Teil dieses nicht immer ganz leicht zu verstehenden, aber alle Male sehr imposanten Abends.

 

Trilogie der Unschuld. Medea / Mauser / Quartett.
nach Euripides, Christa Wolf und Heiner Müller
Regie: Henriette Hörnigk, Bühne und Kostüme: Claudia Charlotte Burchard, Sound und Video: Bernd Bradler, Licht: Jack Boateng, Dramaturgie: Sophie Scherer.
Mit: Laura Lippmann, Erik Born, Franziska Hayner, Harald Höbinger, Till Schmidt, Marian Kindermann, Bettina Schneider, Alexander Gamnitzer. 
Premiere am 22. April 2022
Dauer: 3 Stunden 45 Minuten, eine Pause.

www.buehnen-halle.de

Kritikenrundschau

"Wer das Denken zu den Lebensmitteln rechnet, wird hier richtig satt", jubelt Andreas Montag in der Mitteldeutschen Zeitung (25.4.2022). "Freilich hat das furios-frivole 'Quartett' zum Schluss die vorausgegangenen beiden Stücke etwas überstrahlt", schreibt Montag. Das Bühnenspiel wird gelobt, "weil es seine Figuren niemals karikierend verrät, sondern ungeachtet ihrer monströsen Deformation als verletzte Menschen respektiert". Nicht minder stark aber seien der durch fabelhaftes Ensemblezusammenspiel beeindruckende Auftakt mit "Medea" und "Mauser" als "gnadenlos scharfe Absage an die kommunistische Revolution".

 

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