Strategien weißer Vorherrschaft

26. April 2022. In den vergangenen Wochen erregte eine Debatte die Gemüter, ob weiße Frauen Rasta-Locken tragen dürfen. Fridays for Future Hannover hatte eine Gästin aufgrund genannter Frisur von einer geplanten Großdemo wieder ausgeladen. Doch wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Mehr noch: Das Ärgernis belegt, wie nicht nur Schwarze Kultur, sondern der gesamte Anti-Rassismus-Diskurs von weißen Menschen vereinnahmt wird.

Von Natasha A. Kelly

26. April 2022. Kulturelle Aneignung. Das Thema ist nicht neu. Regelmäßig grüßt es etwa in Form einer weißen Person, die sich anmaßt, eine Schwarze Widerstandsfrisur zu tragen, seien es Cornrows, die von den Kardashians kurzerhand in Box Braids umbenannt wurden, oder die altbekannten Rasta-Locken, die am weißen Körper zum Symbol von Coolheit mutieren.

Die Tatsache, dass beide Frisuren Ausdruck Schwarzen Widerstands waren (und immer noch sind) – sei es während der Versklavung, als Fluchtrouten in die Haare eingeflochten wurden oder als Symbol der Rastafari-Bewegung – wird schlichtweg ignoriert. Und wie alle afrokulturellen Ausdrucksformen, von Jazz über Hip-Hop und Techno bis hin zu antirassistischen Konzepten wie Diversity oder Intersectionality, bleiben auch Frisuren nicht davor verschont, jeglicher politischen Kraft entleert zu werden, sobald sie ihren Weg nach Deutschland finden.

Kulturelle Aneignung als diskursive Aneignung

So auch im Fall einer Sängerin, die hier nicht genannt werden braucht, da es sich wie immer um keinen Einzelfall handelt, sondern um ein strukturelles Problem, bei dem weiße Menschen häufig vergessen, dass sie sich in einer sie privilegierenden Welt frei bewegen, frei entscheiden und von Freiheit singen können, ohne jemals dafür gekämpft zu haben. Wenn sie dabei auch noch Rasta-Locken tragen, ist eine Karriere im Musikbusiness gesichert. Wäre da nicht Fridays for Future (FFF) Hannover gewesen, die der Sängerin kulturelle Aneignung vorwarf und von einer geplanten Großdemo wieder auslud. Der Aufforderung von FFF, sie solle sich die Haare abschneiden, erst dann könne sie am Event teilnehmen, folgte ein Shit-Storm im Internet, bei der sich die Kritisierte alle Strategien weißer Vorherrschaft zu eigen machte: white tears, white fragility, white saviourism.

Das ist kein neues Phänomen! Denn jede Reaktion auf Rassismus ist genauso strukturell wie der Rassismus selbst. Und es war auch nicht das erste Mal und wird sicherlich auch nicht das letzte Mal gewesen sein, dass weiße Rasta-Locken-Träger*innen dazu aufgefordert werden, ihre Haare abzuschneiden. Aber meine Kritik beginnt nicht an dieser Stelle, ebenso wenig hört sie da auf. Vielmehr klage ich an, wie die Dauerdebatte um kulturelle Aneignung immer wieder zur diskursiven Aneignung und damit einhergehend zur Universalisierung des weißen Blicks und zur Zentrierung des weißen Körpers in Anti-Rassismus-Debatten führt, was nicht weniger gewaltvoll ist.

Schwarze Körper sind politische Körper

Widerstandssymbole lassen sich nicht von einem Körper auf den nächsten übertragen. Neben Wissen und Macht sind es nämlich genau unsere Körper, die das Fundament kapitalistischer, rassistischer, patriarchaler, cis-heteronormative Gesellschaftssysteme bilden. Nicht ohne Grund werden Schwarze Menschen seit der Kolonialisierung ihrer Körper und Körperlichkeit beraubt. Wenn du Schwarz und able-bodied warst, stieg dein Preis auf dem Sklavenmarkt, im sächsischen Leipzig und andernorts. Während Schwarze Männer eingekauft wurden, um Lastarbeit zu leisten, wurden Schwarze Frauen erworben, um Kinder zu gebären und das Personalwesen zu vergrößern. Nicht einmal der Tod konnte Schwarze Körper vor dem (Menschen-)Handel schützen.

Im Gegenteil! Ob die Schädel von getöteten afrikanischen Kämpfer*innen von sammlungswütigen Kolonisator*innen von den Schlachtfeldern der Genozide entwendet und mit nach Deutschland verschleppt, Menschen gestohlen und bis an ihr Lebensende zur Belustigung der Öffentlichkeit gezwungen wurden, in Zookäfigen zu hausen, oder die Leichen von Schwarzen Menschen ausgestopft und in europäischen Museen ausgestellt wurden, die Faszination für Schwarze Körper hat immer schon einen tiefen Abgrund aufgerissen, den weiße Menschen mit Anlauf zu überspringen wissen. Und wenn Schwarze Menschen diesen ideologischen Wahnsinn doch überlebt haben, dann wurden sie im Namen weißer Vorherrschaft ihrer spirituellen, kulturellen und religiösen Ausdrucksweisen beraubt. Es gibt also genügend Gründe, kleine weiße Sänger*innen davon abzuhalten, durch kulturelle Aneignung diese Gewalttradition fortzuführen und dafür auch noch mit Ruhm und Plattenkäufen belohnt zu werden.

Aber wer im Glashaus sitzt, sollte bekanntlich nicht mit Steinen werfen. Wenn wir uns nämlich in den Reihen von FFF umschauen, dann sehen die Klimaaktivist*innen nicht so aus wie ich. Kein Zufall, denn Schwarze Aktivist*innen werden gerne aus ihren Bildern wegretuschiert, wie im Fall der ugandischen Klimaaktivistin Vanessa Nakate, die von einer Nachrichtenagentur einfach aus einem Foto geschnitten wurde. Zurück blieben vier junge weiße europäische Frauen. Auf Twitter wurde getobt, der Rassismus beklagt. Darüber hinaus scheint das Thema Umweltrassismus auch noch nicht bei ihnen angekommen zu sein und damit einhergehend der Zusammenhang von Kolonialismus und Rassismus. Mit ihrem eigenen inhärenten Machtproblem sollte FFF daher erst vor der eigenen Tür kehren, bevor sie versucht, anti-rassistische Aufklärungsarbeit zu leisten.

Epistemische Gewalt

Da weiße Kulturkreise wenig Würze herzugeben scheinen, neigen weiße Europäer*innen immer wieder dazu, sich Afrokulturellem zu bedienen, sei es aus Kunst oder Kultur, Beauty, Fashion … you name it! Aber Afrokultur ist kein Selbstbedienungsladen und kulturelle Aneignung macht eben auch nicht vor Artefakten oder Haaren Halt. Das Entwenden von geistigem Eigentum und Schwarzem Wissen kann ebenso dazu gezählt werden. Wenn große Gesellschaftsmagazine wie "Der Spiegel" und Medien wie "Stern TV" auf den Fall anspringen und über kulturelle Aneignung berichten, sonst aber nie über Schwarze Geschichte(n) und Kultur informieren, dann ist der Abgrund noch tiefer als ich dachte. Schwarze Körper zählen in diesem Land eben immer noch nichts und haben über eine Werbebotschaft für Schokolade hinaus keinen großen Nachrichtenwert.

Stattdessen werden gemäß dem Motto All Lives Matter weiße Körper ins Zentrum des Anti-Rassismus-Diskurses gerückt. Damit werden nicht nur Schwarze Kultur, sondern auch Schwarze Widerstandsdiskurse angeeignet. Genau genommen kann hier von epistemischer Gewalt gesprochen werden. Und Gewalttaten sind konstituierend. Sie zerstören nicht nur, sondern schaffen auch soziale (Un-)Ordnung. Wichtig ist es daher, immer den Zusammenhang von Wissen, Macht und Körpern in den Blick zu nehmen. Im Dekolonialisierungsprozess können sie zwar individuell, aber nie getrennt voneinander betrachtet werden.

Macht und Privilegien

Zudem führt die Aneignung von antirassistischen Diskursen zur Entlassung weißer Menschen aus ihrer Verantwortung, sich mit der Geschichte des Weißseins und Rassismus in Deutschland auseinanderzusetzen. Die häufigste Rechtfertigung, dies nicht zu tun liegt in dem Argument, dass alle Menschen gleich seien und ohnehin ein Austausch "auf Augenhöhe" erfolge. Einen Austausch auf Augenhöhe kann es aber in einem hierarchischen Machtsystem nicht geben.

Und es ist weit gefehlt, dass alle Menschen gleich sind. Bekanntlich sind einige Menschen gleicher und zwar dann, wenn sie per Geburt mit Macht und Privilegien ausgestattet werden, die sie zweifelsohne zum Menschen machen – mit allen unantastbaren Rechten, die damit einhergehen. Schwarze Menschen hingegen mussten erst Mensch werden – ein langandauernder, hartumkämpfter Prozess. Denn als Versklavte wurden sie jedweder Menschlichkeit beraubt, weshalb sie noch bis heute um selbige Menschenrechte kämpfen, so auch um den Schutz vor Diskriminierung, was – auch wenn es häufig vergessen wird – ebenso ein unantastbares Menschenrecht ist.

 

Natasha A. Kelly ist promovierte Kommunikationswissenschaftlerin und Theatermacherin. In ihrer Kolumne "Die vierte Säule" schreibt sie über Kunst, Freiheit und andere Unwahrheiten.


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macht sich Natasha A. Kelly über den Internationalen Frauentag Gedanken.

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