Mr. Spock ist Sommergast

24. April 2022. Andreas Kriegenburg inszeniert in Münster nicht nur den Abschied des Ensembles vor dem Intendanz-Wechsel, sondern auch gleich den Abschied der Menschheit vor ihrem Ende.

Von Max Florian Kühlem

Sommergäste © Oliver Berg

24. April 2022. Ob sie wohl anders agieren würden, wenn sie es wüssten? Der Müßiggang der feinen Gesellschaft, die sich im Landhaus des Juristen Basov versammelt, entscheidet über das Schicksal der gesamten Menschheit. Andreas Kriegenburg hat die Fallhöhe von Maxim Gorkis "Sommergästen" im Theater Münster mit diesem Kniff quasi ins Unendliche gesteigert: Unter die Figuren, die zwar auch beim russischen Schriftsteller schon das Ende ihrer Hoch-Zeit, aber nicht gleich das Ende ihrer Spezies ahnen, mischen sich fahle Gestalten, die über Wohl und Wehe entscheiden.

Es plappern die Gäste am rauschenden Bach

Schon während das Publikum im Saal eintrudelt, ist das Geplapper allgegenwärtig. Gorkis Sommergäste machen Konversation, tauschen sich über Banalitäten aus. Erste Gedanken über das Bühnenbild, das der gelernte Modelltischler Andreas Kriegenburg wie meist selbst gemacht hat: Menschen sitzen, stehen oder liegen in luftigen, weißen Sommerkleidern vor einem Birkenwald – soweit könnte das hier noch Peter Steins berühmte Schaubühnen-Inszenierung von 1974 sein.

sommergäste1Fahle Gäste im Birkenhain © Oliver Berg

Doch die Birken sind reduziert auf dicke, oben abgeschnittene Stämme, die dastehen wie Stelen eines Mahnmals. Das ganze Areal ist umzäunt, wirkt trotz des warmen Lichts nicht wie ein Sommerfrische-Garten, sondern eher wie ein Gefängnishof, eine bedrohte Gated-Community (manchmal drängen schwer bepackte und schäbig gekleidete Menschen an den Zaun – Fliehende?) – oder der Innenhof des Big-Brother-Hauses, denn auf zwei großen Videowänden wird auch das Geschehen aus dem Inneren der angedeuteten Villa übertragen.

Is' das Kunst oder Propaganda?

Pünktlich um halb acht wechselt das Licht in einen kalten, fahlweißen Ton und drei Figuren treten deutlich hervor, die vorher den Birken gleich und so nicht aufgefallen waren. Carola von Seckendorff, Wilhelm Schlotterer und Paul Maximilian Schulze muten weiß geschminkt und schwarz gekleidet mit Pilzkopf-Frisuren an wie Beatles aus dem Jenseits oder Vulkanier aus dem Star-Trek-Universum – und auch ihre Macht und ihr Auftrag lassen an die Science-Fiction-Serie denken. Im Programmheft werden sie nur als "Wesen" bezeichnet, sie selbst nennen sich "Boten" oder "Wächter" – sie sollen die Menschen beobachten und schließlich ein Urteil fällen, dass über sie gerichtet werde.
Passend zu ihren etwas redundanten Diskussionen gibt es im Programmheft zwei Texte, die mit "Menschheit – Pro und Contra" überschrieben sind. "Bereits heute verbraucht die Menschheit 1,75 Mal die gesamte biologische Produktivität der Erde", argumentiert Thomas Liebsch auf der Contra-Seite, die Zivilisation zerstöre sich bereits selbst. "Millionen Menschen erfinden Instrumente und Modelle zur Veränderung der Welt", glaubt hingegen Alex Steffen an die Rettung durch Erfindungsgabe. Bei den hin und her gerissenen Boten klingt das so: "Sie helfen ihren Armen!" –"Nein, sie beuten sie aus.", "Sie machen Kunst!" – "Nein, Propaganda."

sommergäste3Ist sie das, diese Zivilisation, die alle retten wollen? © Oliver Berg

Es gibt in Münster allerdings noch einen banaleren Anlass für das Abschiedsthema als den Bezug zur Zeit, in der die Menschheit vor ihrem möglichen Ende durch den selbstgemachten Klimawandel steht, in der eine neue, "woke" Generation die selbstgerechten, konsumorientierten und in festgefahrenen (Geschlechter-)Rollenbildern verfangenen "Boomer" ablöst: Nach zehn Jahren Generalintendanz von Ulrich Peters und neun Jahren Schauspieldirektion von Frank Behnke steht ein Wechsel bevor. Generalintendantin wird mit Katharina Kost-Tolmein erstmals eine Frau, Schauspieldirektor wird Remsi Al Khalisi.

Bei den "Sommergästen" kann sich das sehr weiße und Herkunfts-homogene, also trotz stetig stärker werdender Wandelstimmung immer noch typische deutsche Stadttheaterensemble, standesgemäß verabschieden: 16 Schauspieler*innen stehen auf der Bühne. Alle haben ihre kleineren und größeren Momente, die meistens um die Leere kreisen, die entweder unbewusst hinter banalen Beziehungs-Konflikten steht oder plötzlich ins Bewusstsein rückt und den Figuren das Dasein schwer macht, Flucht- und sogar Suizid-Gedanken auslöst. Den meisten Applaus bekommt Thomas Mehlhorn, weil er ganz kurzfristig für die Rolle des Ingenieurs Suslov eingesprungen ist und sie mit Textblättern in der Hand gut ausfüllt. Ein konstant starkes Zentrum bildet mit ihrer Sehnsucht nach Gewissheit, nach Halt, nach Tiefe im allgemeinen Geplapper Marlene Goksch als Varvara, die Frau des Sommerhaus-Besitzers.

Banale Dämmerung

Einen tollen Moment hat sie mit Jonas Riemer, dem dandyhaften Schriftsteller, auf dessen Ankunft nicht nur sie große Hoffnungen gesetzt hat. Ein Schriftsteller kann doch sehen, verstehen, umformen! Aber auch dieser Salimov ist nur noch ein Schatten seiner selbst und stimmt ein in den allgemeinen Jammer-Chor: "Was sollst du schreiben, wenn du nichts mehr verstehst? Man sagt: Es gibt einen neuen Leser. Ich habe ihn verloren." So bleibt die Szene, die ein romantisches, unschuldiges Liebesgeständnis hätte werden können, schablonenhaft schal, absurd auch und slapstickhaft, typisch Kriegenburg. Sie ist ein weiterer Sargnagel, denn das Urteil der Boten fällt am Ende nicht gut aus. Jetzt fragt sich bloß, ob auch Andreas Kriegenburg in dem Bewusstsein inszeniert hat, dass die Zeit solcher trotz Aktualisierungskniff klassisch anmutender Ensemblestücke von männlichen Regie-Stars möglicherweise mehr und mehr der Dämmerung entgegen geht.

Sommergäste
von Maxim Gorki
aus dem Russischen von Andrea Clemen
Inszenierung und Bühne: Andreas Kriegenburg, Kostüme: Andrea Schraad, Dramaturgie: Cornelia von Schwerin.
Mit: Ilja Harjes, Marlene Goksch, Lea Ostrovskiy, Joachim Foerster, Thomas Mehlhorn, Regine Andratschke, Christoph Rinke, Rose Lohmann, Jonas Riemer, Julian Karl Kluge, Ulrike Knobloch, Gerhard Mohr, Frank-Peter Dettmann, Wilhelm Schlotterer, Paul Maximilian Schulze, Carola von Seckendorff und Statisterie.
Premiere am 23. April 2022
Dauer: 3 Stunden 20 Minuten, eine Pause

www.theater-muenster.com

Kritikenrundschau

"Der schmerzhafte Abschied von jenem vertrauten Theater-Russland, an das man so gerne sehnsüchtig denkt", dieser spräche aus Kriegenburgs Inszenierung, schreibt Harald Suerland in den Westfälischen Nachrichten (24.4.22). Auf rätselhafte und hintergründige Weise schließe der Abend den Gorki-Text an die gegenwärtige Lage an, "ohne schlicht zu aktualisieren." Der Abend sei nicht nur ein "besonderes Nachdenken über Russland" und eine sich selbst umkreisende Gesellschaft, sondern auch ein Fest der Münsteraner Schauspielenden mit Facetten von "grandios hibbelig" (Joachim Foerster) bis "so schön in selbstironisches Pathos ausbrechend" (Rose Lohmann).

Ein "Stück mit großem Ensemble. Und großer moralischer Botschaft", befindet Edda Breski im Westfälischen Anzeiger (26.4.22). Kriegenburgs Ansatz sei "universeller" als direkt auf den Krieg in der Ukraine zu verweisen - "und das tut gut". Man sehe "sprachgewandtes" Kreisen um first-world-problems "mit einer Gabe für Selbstironie".  Irgendwann werde das alles aber zu viel: "die Fäden lassen sich nicht mehr ordnen" - "noch ein wütender Monolog, noch ein Aufschrei einer gelangweilten Seele, noch ein Pathosballen".

Der auch bühnenbildende Regisseur habe mit dem Birkenwäldchen einen "wunderbar vielfältigen Schauplatz" geschaffen, auf dem die "kollektive Stimmung von lichter Heiterkeit rasch in bedrückenden Endzeit-Horror umschlagen kann", so Alexander Reuter in Die Glocke (25.4.22). "Eine bildmächtige Inszenierung" mit "tiefschürfender Ensemble-Leistung" und einer "verfremdeten Portion folgerichtiger Apokalypse".

Kommentare  
Sommergäste, Münster: Selbst beerdigt
Ein trostloser Theaterabend aber wunderbar zu sehen, wie sich Kriegenburg in Münster künstlerisch selbst beerdigt.
Sommergäste, Münster: Standing Ovations
Mir hat die Inszenierung sehr gefallen ... habe so viele Themen wiedererkannt, die heute immer noch (wieder?) aktuell sind. Große schauspielerische Leistung des Ensembles .... das sahen wohl viele so --> Standing ovations :-)
Sommergäste, Münster: Warum bloß...
Liest sich, als solle nun auch Andreas Kriegenburg als ausgebrannter (schlimm) alter (schlimmer) weisser (NOCH schlimmer) und (allerschlimmst) Mann denunziert werden ... armseligst.
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