Im richtigen Bezirk

29. April 2022. Was ein Aufwand! Sir Tom Stoppards großes Geschichtsdrama strotzt vor Rollen und historischen Verwicklungen. Wahrhaft vorpandemisches Theater über das Schicksal einer jüdischen Großfamilie, für die deutschsprachige Erstaufführung übersetzt von Daniel Kehlmann. Janusz Kica macht daraus eine Inszenierung passgenau für die Josefstadt.

Von Martin Thomas Pesl

"Leopoldstadt" am Theater in der Josefstadt Wien © Moritz Schell

29. April 2022. Ein Freudscher verriet es. Irgendwer tweetete im Januar 2020 etwas über die Uraufführung von Sir Tom Stoppards angeblicher "Josefstadt" am Londoner West End und verwechselte dabei Wiens achten mit seinem zweiten Gemeindebezirk. In der Leopoldstadt leben traditionell immer noch viele Jüdinnen und Juden, hier siedelte der weltberühmte Autor ("Rosenkranz und Güldenstern", "Shakespeare in Love") sein neues Stück an.

Eine pandemieuntaugliche Sause

In der Josefstadt treffen dem Klischee nach Bobos auf Hofratswitwen, und hier leitet Herbert Föttinger seit 2006 das nach dem Bezirk benannte Privattheater. Als dann durchsickerte, der Direktor sei nach London gereist, um sich die Inszenierung anzusehen, war niemand überrascht: Ein klassisch englisches Geschichtsdrama, das noch dazu in Wien spielt – nach jeder Theaterlogik musste sich Föttinger die Rechte für die deutschsprachige Erstaufführung von "Leopoldstadt" sichern und Daniel Kehlmann mit der Übersetzung beauftragen. Zwei Jahre später hatte die eher pandemieuntaugliche Sause in dem besonders Corona-geplagten Theater tatsächlich Premiere.

Komplizierte Verhältnisse

In "Leopoldstadt" schildert der heute 84-jährige Stoppard, der als Tomáš Straussler im tschechischen Zlín geboren wurde und 1946 nach England kam, das Schicksal einer Großfamilie über vier Generationen mit Szenen in den Jahren 1899/1900, 1924, 1938 und 1955. Die Älteste, Emilia Merz, ging einst, wie ihre Tochter später sagt, "zu Fuß nach Lwiw, den ganzen Weg, fast von Kiew", nachdem ihr Dorf im Zuge eines Pogroms niederbrannte. In Wien brachten ihre Kinder es zu Wohlstand, der Sohn heiratete eine Christin und ließ sich taufen. Zu Beginn gibt es eine Weihnachtsfeier mit unzähligen Personen, die alle gleichzeitig reden und zwar natürlich nicht darüber, wer mit wem verwandt oder verschwägert ist. Die Verhältnisse sind derart kompliziert, dass sogar der von Direktor Föttinger selbst gespielte Hermann Merz ganz stolz ist, wenn er sie auf die Reihe kriegt. Dann nimmt die Historie ihren üblen Lauf – und wenn am Ende der Stammbaum Name für Name durchgegangen wird, dient das auch dem Publikum als Probe, ob es binnen drei Stunden den Überblick erlangt hat. Es wird jeweils der Sterbeort dazu gesagt. Bei den meisten: Auschwitz.

Leopoldstadt 1 C Moritz Schell Feiern, bevor die Geschichte ihren Lauf nimmt: Ensemble © Moritz Schell 

So logisch passt "Leopoldstadt" in die Josefstadt, dass die Inszenierung des hier oft tätigen Regiehandwerkers Janusz Kica ohne Überraschungen bleibt. Karin Fritz’ Kostüme "stimmen" historisch, ihr Bühnenbild schaut genauso aus wie eine Wiener Altbauwohnung. Der Salon mit zwei extrahohen Flügeltüren dreht sich gelegentlich einmal rundherum, um das Vergehen von Zeit und / oder eine andere, aber ähnliche Wohnung zu markieren. Männer in Fräcken erörtern mit Gläsern in der Hand Religion und Politik, Frauen lesen Kindern Märchen vor oder bangen, ob dem Fritz oder dem Theodor wohl ihr Hut gefallen habe. Subtil kommentiert im Hintergrund ein Soundtrack von Matthias Jakisic die jeweilige Lage. Es ist schon ein Irrsinn, dieses vorpandemische, ja in jeder Hinsicht alte Theater durchzuziehen. Fünf Kinder in neun Kinder-, 25 Erwachsene in 25 Erwachsenenrollen, von denen einige kaum zwei Sätze sprechen dürfen. Einige Ensemblemitglieder bereiten sich schon darauf vor, spätestens nach dem Sommer einzuspringen. Der Aufwand!

Es flutscht

Darüber nun hinreichend die Augen zum Himmel verdreht habend, muss man aber auch sagen: Das funktioniert schon alles sehr gut. Der Abend ist nicht mehr, als er sein will, aber auch nicht weniger. Gekonnt geschriebene und übersetzte Dialoge bündeln die Publikumsaufmerksamkeit. Kehlmanns Deutsch flutscht und fühlt sich wohl im Munde dieser psychologischen Salonspieler:innen. Marianne Nentwich als Großmutter Emilia addiert einen Wiener Einschlag, mit dem das Original nicht aufwarten kann (Herbert Föttinger bisweilen auch einen Hauch Jiddisch, was er besser ließe). Und Joseph Lorenz setzt als Nazi, der die Familie in der Reichskristallnacht mit einer schrullig grausamen Selbstinszenierung aus ihrer Bleibe vertreibt, nach der Pause noch einen bemerkenswerten Akzent. 

Leopoldstadt 2 C Moritz Schell Drama der psychologischen Salonspieler:innen: Sona MacDonald (Rosa), Raphael von Bargen (Nathan Fischbein), Tobias Reinthaller (Leo Rosenbaum) © Moritz Schell

Mit der finalen Nachkriegsszene, als die einzigen Überlebenden aufeinandertreffen, wird schließlich klar, worum es Stoppard geht: um die Frage, wie viel Verantwortung wir gegenüber unserer Vergangenheit tragen. Leo ist 1955 längst Brite durch und durch, seine jüdische Herkunft hat er praktisch vergessen, Nathan dagegen lebt wieder in Wien und weiß jedes Detail, erinnert sich fast verbissen gar an Dinge, die er nicht erlebt haben kann. In der Auseinandersetzung dieser beiden liegt die Last der letzten drei Stunden. Die Last des letzten halben Jahrhunderts. Das hätte nicht einmal Dr. Freud (der im Stück natürlich auch erwähnt wird) so anschaulich machen können.

 

Leopoldstadt
von Tom Stoppard
Deutsch von Daniel Kehlmann
Regie: Janusz Kica, Bühnenbild und Kostüme: Karin Fritz, Musik: Matthias Jakisic, Licht: Manfred Grohs, Dramaturgie: Matthias Asboth
Mit: Marcus Bluhm/Günter Franzmeier, Michael Dangl, Martina Ebm, Jakob Elsenwenger, Herbert Föttinger, Alma Hasun/Michaela Klamminger, Oliver Huether, Maria Köstlinger, Alexandra Krismer, Anna Laimanee, Markus Lipp, Joseph Lorenz, Sona MacDonald, Paul Matić, Silvia Meisterle, Marianne Nentwich, Tobias Reinthaller, Ulrich Reinthaller, Fiona Ristl, Oliver Rosskopf, Roman Schmelzer, Patrick Seletzky, Martina Stilp, Raphael von Bargen, Susanna Wiegand und den Kindern: Emma Trifu/Carla Unger, Clara Bruckmann/Ariana Stöckle, Theo Kapun/Paul Eilenberger, Cornelius Bruckmann/Philipp Gruber-Hirschbrich, David Stöckle/Samuel Fischer
Premiere am 28. April 2022
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.josefstadt.org

 

 

Kritikenrundschau

"Eine wichtige, bewegende Inszenierung" hat Nobert Mayer von der Presse (30.4.2022) in der Josefstadt erlebt. "Aber auch eine problematische." So schreibt der Kritiker: "Vor der Pause glaubt man sich in ein Gesellschaftsstück von Arthur Schnitzler versetzt, danach in die postmoderne Verarbeitung eines an sich packenden Stoffs. Doch mangelt es ihm an Dramatik. Stoppard hat ein Lehrstück verfasst, ein Erklärstück – gedacht vielleicht für Briten, die Abgründe österreichischer Geschichte nicht so genau kennen. Sie wird vorgeführt, nicht ausgespielt."

"In London funktioniert das Stück, das, etwas schematisch und volkshochschulhaft, die Geschichte einer assimilierten jüdischen Familie in Wien zwischen 1899 und 1955 erzählt", schreibt Cathrin Kahlweit in der Süddeutschen Zeitung (29.4.2022), weil sich das britische Publikum insbesondere in der Vorgeschichte des Dritten Reiches wohl weniger auskenne. Der Transfer nach Österreich in "eine gut gemachte, aber doch sehr konventionelle, brave Inszenierung" gelinge nicht. "Erinnerung und falsche Erinnerung – das sind in Österreich, das sich jahrzehntelang in der Opferrolle inszenierte und die Täterrolle negierte, durchaus lohnenswerte Topoi. Aber Stoppards Tour d'Horizon ist mit ihren Stereotypen keine Grundlage für einen nachträglichen oder nachdenklichen Diskurs."

"Leider trägt der hinreißende Plot der ersten Stückhälfte den Abend nicht bis ins Ziel", schreibt Ronald Pohl im Standard (30.4.2022) und lobt die darstellerischen Leistungen. "Der Applaus für diesen künstlerisch gewiss nicht großen, aber wichtigen Abend fiel hochachtungsvoll aus. Es ist das Wiener Josefstadt-Theater, das in den vergangenen 20, 30 Jahren die größte Verwandlung unter allen Wiener Bühnen vollzogen hat: weg vom reinen Amüsierbetrieb, hin zum Serviceangebot einer Moralprüfstelle. Man will eine solche Kultur des Eingedenkens nicht mehr missen."

Kommentare  
Leopoldstadt, Wien: andere Aufführung?
ich muss da wohl in einer anderen Aufführung gewesen sein...
Für mich war die Wortwahl der Übersetzung nicht dazu angetan, einen (in dieser Regie nicht erkennbaren) Spannungsbogen zu forcieren.
Auch die unterschiedlichen Zeiten der Szenen (Fin de Siècle, Wien 1938, Wien 1955) sind weder von Kostümen noch vom Bühnenbild her zu erkennen.
Joseph Lorenz als Nazi versucht zu schreien, scheitert aber an seinem Stimmvolumen und wie richtig berichtet wird, sollte Föttinger sein aufgesetztes Jiddeln lieber lassen.
Einzig die (vor)letzte Szene, bei der sich Sona McDonald mit der Kindheit ihrer Rolle (Mädchen von 1900) konfrontiert sieht, ist einer Erwähnung wert.Ein Teil des Publikums wird zwei Mal durch eine unterschwellige Provokation im Text zum Lachen verführt, um die heutige Politik nicht zu kurz kommen zu lassen.

Alles in allem: ein entbehrlicher Abend

PS: im Text des Rohwolt-Verlages wird darauf hingewiesen, dass das alles in einem Ringstraßenpalais spielt... und nicht in der Leopoldstadt...
Leopoldstadt, London: 4 Tony awards
Incl. Best Play 2023...
Leopoldstadt, Wien: Alt aber nicht lang vergangen
Das Stück wird weiterhin am Theater in der Josefstadt gespielt - deshalb lohnt sich auch eine weitere Kritik hier.
Den hier auf "nachtkritik" geäußerten Beschreibungen und Kritikpunkten kann ich durchaus zustimmen. Ja, es ist nicht revolutionäres Theater. Ja, die Inszenierung ist chronologisch und spielt an Ort und Platz. Ja, nicht alle im Ensemble des Abends bleiben erwähnenswert. Ja, aber... Das Stück in Wien zu sehen ist wie ein Realitätsabgleich. Denn es gibt (gab) sie, die Leopoldstadt, die Salons und Zirkel, wo sich bei Berta Zuckerkandl die Mahler, Klimt und Strauss die Klinke in die Hand gaben. Denn es gab das Ende dieser Epoche mit 1938, wo insbesondere an Hochschulen, in der Ärzteschaft usw. die Vertreibung oder Ermordnung der jüdischen Bevölkerung in Wien eine große Lücke riss. Das mag Stoppard alles etwas schematisch, quasi als Schulstunde aufzählen. Aber dann hinterher keiner sagen, er hat das alles nicht gewusst. Also Theater mit Ziel, mit Aussage, mit Erzählung.
Es kommt hinzu: alles ist noch nicht lange her. Ich muss dieses Stück nicht auf leerer Bühne spielen oder auf einem Schrottplatz oder nackt oder... Ich muss auch nicht schreien, wüten, wälzen. Denn Stoppard schafft es, mit kleinen Bezügen wichtige Fragen anzuschneiden (was ist jüdisch sein, zwischen Assimilation und Judenstaat), Fragen von Verlust und Rückkehr auszusprechen (warum bist Du zurückgekommen - "wegen der Kastanienbäume auf der Prater-Hauptallee") oder einfach nur Trauer zu empfinden. Letzteres ist und bleibt im Schlussakt einfach beeindruckend - wo wenige, immer gleiche Wort dann eine wichtige Geschichte erzählen.
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