Wer die Geschichte hat, hat die Macht

30. April 2022. Zwei biblische Frauen als Mädchen in einem Internat für schwer erziehbare Jugendliche. Ein Stück über Geschichtsschreibung als Akt der Gewalt. Und eine Inszenierung als Trash-Spektakel: Svenja Viola Bungarten gewann 2021 den Heidelberger Stückemarkt, mit "Maria Magda", das in der Regie von Brit Bartkowiak zur Eröffnung der diesjährigen Festivalausgabe zu sehen ist.

Von Steffen Becker

30. April 2022. "Explizite Beschreibungen von Gewalt im Rahmen von Vergewaltigungen und Schwangerschaftsabbrüchen" führt die "Triggerwarnung" zum Stück "Maria Magda" auf. Svenja Viola Bungarten hat mit ihm den letztjährigen Heidelberger Stückemarkt gewonnen; die Inszenierung von Brit Bartkowiak eröffnet das diesjährige Theaterfestival. Und die Aufführung liefert, was versprochen ward: Blut, Sex, Dämonen, Kirche, Feminismus, Gottes Riesenschwanz – alles drin. Doch der Reihe nach.

Geschichtsschreibung als Akt der Gewalt

Eine Conférencière führt ein: "Wir erzählen: den Anfang und das Ende der Geschichte. Beides eine Frau. Die eine ausgezeichnet durch ihre Jungfräulichkeit, die andere durch ihre Fotze." Das Stück beamt die Jungfrau Maria und die Hure Maria Magdalena in ein von Nonnen geführtes Internat für schwer erziehbare Mädchen des 21. Jahrhunderts. Maria ist ein Goth Girl mit Schlafkrankheit. Magda eine rebellische Lesbe, die rausfinden will, was mit ihrem verschollenen Crush Mirjam passiert ist. "Hildie" wäre gerne der Crush, aber es hat nur zur eifersüchtigen besten Freundin gereicht. Angst vor der Oberschwester haben sie alle. Und vor Marias Träumen von einem kleinen Jungen. Hat was mit Hexen zu tun. Und alten Flüchen.

Maria Magda 1 SusanneReichardt uIm Internatsschlafsaal: Maria (Esra Schreier), Hildie (Sandra Schreiber) und Magda (Yana Robin La Baume) © Susanne Reichardt

Entsprechend Horror-mäßig fällt die Bühne aus. Zwei klapprige Betten, eine Bretterrückwand mit Plastikplanen für Gegenlicht und Schattenspiele, und ein großer Gitter-Rost als Abfluss für all die Körperflüssigkeiten, die Maria und Magda so von sich geben. Hauptsächlich Menstruationsblut. Dabei ist "Maria Magda" keine Geister-Show. Sondern eine Auseinandersetzung mit Geschichtsschreibung als Akt der Gewalt. Die Erzählerin fordert von Maria: "Frage dich: warum opfern Frauen in Geschichten ihre Körper und Männer nicht. Frage dich, warum werden Frauen die Brüste abgeschnitten und Männern nicht die Schwänze. (…) Frage dich, wessen Wünsche sich in den Horrorgeschichten erfüllen." Und vor allem: "Erinnere dich daran, was du nicht weißt. Was dir nicht erzählt wurde."

Endlos-Loop göttlicher Vergewaltigungsversuche

Autorin Svenja Viola Bungarten hinterfragt die männliche, westliche Erzählung von unbefleckter Empfängnis Marias als Herrschaftsinstrument (die Frau ist nur Gefäß) genauso wie die Verharmlosung des "Genozids" Hexenverbrennung als skurrile Anekdote des Mittelalters. Warum also inszeniert Regisseurin Bartkowiak das als Trash-Spektakel mit viel Theaterblut, Lautstärke und Jugendslang? Bitch-Interpretation: Sie bleibt in der Logik des Patriarchats und des damit zusammenhängenden Kapitals, die Kritik als Unterhaltung absorbiert. Witch-Interpretation: Das Patriarchat ist eine Farce, der nur als solche beizukommen ist.

Maria Magda 2 SusanneReichardt uDie Erscheinungen des Goth Girls Maria – Sandra Schreiber, Sandra Bezler, Leon Maria Spiegelberg, Esra Schreier, Yana Robin La Baume, Christina Rubruck © Susanne Reichardt

Es ist auch nicht so, dass Stück und Inszenierung nicht mit sich um die richtige Balance ringen würden. Das Finale ist gar ein Endlos-Loop mit dutzenden Varianten, wie ein göttlicher Vergewaltigungsversuch wohl enden würde. Leon Maria Spiegelberg betritt in einem "absurd hellen Lichtschein" die Szenerie. Er trägt ein roséfarbenes Miami Vice-Gedächtnis Kostüm, ein schmieriges Lächeln und ein "Maria, du kleine Bitch" auf den Lippen. Wird die Zeugung eines neuen Heilands für eine weitere Welt der weißen Männer und Väter gelingen? "Maria Magda" spielt alles durch: Matriarchat gewinnt (Haha, wovon träumt ihr nachts, Mädels?), klassisches Patriarchat setzt sich durch (fürs 21. Jahrhundert nicht clever genug). Dazwischen: Jesus wird abgetrieben, Gender-Bender-Gott, ausufernde Prügeleien und eine überraschende Side-Kick-Wendung. Nach der x-ten Wiederholung der gleichen Szene: Ein bisschen Erschöpfung im Publikum. Wenig Reflexion über die Hexenjagd als das "erste vereinheitlichende politische Terrain der neuen europäischen Nationalstaaten", mehr Gelächter à la "Hihi, Gott fickt, lol".

Wer ist die Oberbitch?

Bleibt in dieser Logik noch die Frage: Wer in der Darstellerinnen-Riege ist die Oberbitch (Gott läuft in dieser Kategorie außer Konkurrenz)? Ist es Christina Rubreck als sinistre Mutter Oberin? Sandra Schreiber als hysterischer Underdog "Hildie" (sie gibt wirklich alles für ihren moment of fame)? Yana Robin La Baume als Aggro-Göre Magda? Sandra Bezler als hochdramatische Erzählerin? Alle buhlen um den Titel als Trash-Ikone. Den schwierigsten Job meistert allerdings Esra Schreier als Maria. Eingeführt wird sie als "müde, schüchtern und unsportlich". Dem gerecht zu werden und trotzdem die Handlung entscheidend voranzutreiben, diesen Spagat bewältigt Schreiber mit einer nerdigen Rotzigkeit.

Aber am Ende ist der Star von "Maria Magda" doch die Frauschaft. "Wer die Geschichte hat, hat die Macht", postuliert der Text. In einem ruhigen und umso stärkeren Moment zählen die Frauen daher ihre weiblichen Vorbilder auf (die von der offiziellen Geschichtsschreibung oft sträflich vernachlässigt wurden). Um realistisch zu bleiben, hat Regisseurin Bartkowiak diesen Schluss allerdings modifiziert. Denn keine Geschichte von Frauen kann ernsthaft ohne Mansplaining auskommen. Das letzte Wort hat Gott: "Meine Mutter war Petrus, die alte Schlampe."

 

Maria Magda
Von Svenja Viola Bungarten
Regie: Brit Bartkowiak, Bühne: Hella Prokoph, Kostüme: Naomi Kean, Isabell Wibbeke, Dramaturgie: Michael Letmathe, Live-Musik: Jeremy Heiß.
Mit: Esra Schreier, Yana Robin la Baume, Sandra Schreiber, Christina Rubruck, Sandra Bezler, Leon Maria Spiegelberg, Jeremy Heiß.
Premiere am 29. April 2022
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.theaterheidelberg.de

 

Kritikenrundschau

Artistisch-virtuos inszeniert findet Volker Oesterreich von der Rhein-Neckar-Zeitung (2.5.2022) den Abend. Sowohl die Autorin als auch die Regisseurin hätten sichtlich Spaß daran, das Genre "Gruselklamotte" ordentlich in die Mangel zu nehmen, wobei ihnen das Publikum dem Eindruck des Kritikers zufolge "applausfreudig folgt." Einer Triggerwarnung in der Programm-Ankündigung aufgrund drastisch überzeichneter Szenen mit Theater-Menstruationsblut, sexualisierter Sprache oder einer symbolischen Abtreibung hätte es aus seiner Sicht allerdings nicht bedurft.

"Brit Bartkowiak hat "Maria Magda" mit Text-gebührend aufgedrehter Verve und viel visuellem Vergnügen am Trash in Szene gesetzt, schreibt Martin Vögele im Mannheimer Morgen (2.5.2022) "Und man glaubt zu merken, wie viel Spaß es den so gekonnt wie lustvoll agierenden Ensemblemitgliedern bereitet, mit ihren Klischee-Figuren zu
spielen, die von Naomi Kean und Isabell Wibbeke in kleidsames Addams-Family-Ornat und Habit gehüllt werden. Und auch, wenn es nicht ganz einfach ist, in diesen knapp zwei reichlich überdrehten Stunden immer den Fokus zu halten: Man drückt hier gerne mit den anderen die Schreckens-Schulbank."

"Das schrill überzeichnete und bei 'Nosferatu', 'Exorzist' und anderswo plündernde Horrorgeschehen gibt sich frech und blasphemisch, platziert ein bisschen feministische Aufklärung," schreibt Dietrich Wappler in "Die Rheinpfalz", der die Inszenierung provokant und unterhaltsam findet. (2.5.2022). Im sehr langen Schlussteil spiele die Inszenierung "die Möglichkeiten einer unbefleckten Empfängnis so lange durch, bis der dandyhafte Machogott mutterseelenalleinauf der Bühne steht. Soll er mal sehen, wie die Welt ohne Frauen so läuft."

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