Die Prophetin kann sich nicht erinnern

4. Mai 2022. Der große William Kentridge lässt sich zur Eröffnung der Ruhrfestspiele Recklinghausen bei der Arbeit über die Schulter schauen. Seine Kammeroper "Sibyl" verbindet das Mythische mit dem Politischen.

Von Andreas Wilink

William Kentridge bei der Arbeit © Stella Olivier

4. Mai 2022. William Kentridge ist Geschichtsschreiber, Bildermacher und Gaukler. Diese drei standen Pate bei der Geburt des Films und auch nicht fern vom Ursprung des Theaters. Ihn bei der Arbeit in seiner Werkstatt zu beobachten, wie es das Vorspiel "The Moment has gone" zu "Sibyl" erlaubt, fordert auch zum Perspektivwechsel auf: in der Zeit zurückzuschauen und zugleich die Nase vorn zu haben und der Zukunft ins Auge zu sehen.

Der Südafrikaner gleicht einem der Pioniere der Kinemathografie, die die Bilder laufen lehrten und im Apparat der Kamera die Muse erkannten. Daheim in den optischen Wunderkammern mit ihren Licht-, Bewegungs- und Bildermaschinen, (de)konstruiert Kentridge minutiös seine schwarz-grau-weißen Atelier-Welten, hantierend mit grafischem Strich, mit Stift, Zirkel und Lineal. Wie ein Zauberkünstler lässt er auf der Leinwand etwas verschwinden und anderes auftauchen. Gleich Magritte stellt er die Frage nach Wahrheit, Lüge und Augentrug. Bei alldem betrachtet er das überlieferte Material nicht als tote Materie (auch nicht theorieverzückt als "Medium"), sondern überführt es schlicht in etwas Neues, Akutes, politisch Aufgewecktes und Mobilisierendes. Kentridge "bewegt" etwas.

Die tausend Jahre alte Dame

"Waiting for the Sibyl" heißt die Produktion, mit der die Ruhrfestspiele eröffneten. Da ahnt der mit den Existenzclowns Wladimir und Estragon Vertraute schon das Vergebliche. Die Sibylle ist historisch und mythologisch. Und kein unbeschriebenes Blatt. Im Gegenteil, sie hat es mit der Schrift und dem Aufschreiben. In der Sixtinischen Kapelle sitzt sie, dunkelhäutig (sie stammt aus Babylon) und mächtig muskulös, wie Michelangelo es nicht nur bei Männern schätzte, und hat ein Buch aufgeschlagen, während zwei Putti ihr über die Schulter schauen. William Kentridge scheint sich dieses Porträt aus dem Vatikan zum Vorbild genommen zu haben für seine Interpretin im Faltenwurf ihres Gewandes und der Geschichte.

Auf dem Fresko sieht die antike Dame alt aus, denn ihr Leben währt tausend Jahre, den Wunsch nach Dauer hatte sie an Apoll gerichtet, aber vergessen, sich auch bleibende Jugendlichkeit hinzu zu wünschen. Die Sibylle von Cumae ist die berühmteste unter ihren Kolleginnen. Benannt nach der Orakelstätte nahe Neapel, wo sie im sechsten Jahrhundert weissagend saß. Die Priesterin wollte dem römischen König Tarquinius Superbus ihre prophetischen Bücher verkaufen, der lehnte ab, worauf sie einen Band nach dem anderen verbrannte, bis drei übrig blieben, die der Herrscher dann doch noch von ihr erwarb und zum Jupiter-Tempel brachte. Zudem soll diese Sibyl, wie sie bei Kentridge heißt, das Geschick der Menschen auf Eichblätter geschrieben und diese vor ihrer Behausung zum Laubhaufen angesammelt zu haben. Die biografischen Notate verwirbeln: Das Schicksal wird zum Zufall.

Sibyl Foto Stella OlivierDie Zeichen stehen auf Veränderung © Stella Olivier

Die alten Götter sind müde, heißt es in "Sibyl". Überhaupt glaube sie nicht mehr an das, was sie einst geglaubt habe. Außer vielleicht an Zerstörungskräfte und an den Tod. Sie habe Neuigkeiten, aber die Botschaft vergessen. Kein Wunder angesichts ihres biblischen Alters. Mit dem Humor des afrikanischen Erzählers / Sängers und seiner Partnerinnen und Partner auf der Bühne gesagt: Latein ist ohnehin nicht mehr zu verstehen, und der Himmel spreche sowieso mit fremder Zunge. Wenn schon, ist die Offenbarung unsere eigene Angelegenheit.

Stumm bleibt die Prophetin in "Waiting for the Sibyl". Aber tänzerisch wogt sie auf ihrem Bühnen-Fleck, während Kentridges malende Schreibhand ihre Erscheinung mit der Projektion von Tabellen, Schriftlisten und Farbfeldern sowie dem legendären Baumblattwerk lebendig macht. Bildnerisch gibt er ihr Zunge und Sprache: Sie stellt Fragen an unsere Leben, fordert auf zu Veränderung und Widerstand, bei banalen Dingen wie weltstürzenden, warnt, wirft Schatten des Zweifels auf, drängt, dies und das zu vermeiden und Lasten abzuwerfen, ob alte Socken, verjährte Hoffnungen oder fatale Illusionen. So steht’s geschrieben. Wem aber gelten die Mitteilungen?

Der Engel der Geschichte

1955 in Johannesburg als Sohn jüdisch-litauischer Einwanderer geboren, wurde der (Installations-)Künstler schon familiär bedingt zum Anti-Apartheids-Aktivisten (der Vater hat Nelson Mandela verteidigt) und Humanisten, der ästhetische Erinnerungspolitik betreibt und seinem Kontinent Würde zurückgibt. Kentridge sieht sich Auge in Auge mit Walter Benjamins sich gegen den Sturm stemmenden Engel der Geschichte, der "das Antlitz der Vergangenheit zugewendet" – für ihn ist der Angelus Novus eine konkrete Metapher.

Sein Gegenprogramm transformiert, übermalt, überspielt Gewalt, Unterdrückung, Ungleichheit, weiße Dominanz und eine sich brutalisierende Gesellschaft. Kentridge verdichtet Räume, Zeiten, Hochkultur-Mythen – wie die Sibyllen – und das Erbe Afrikas. Nichts ist fest umrissen, alles vieldeutig, flüchtig, verschlüsselt. Es scheint, als würde mit der inszenierten bunten Mischung auf der "Sibyl"-Bühne auch die westlich weiße Idee vom Ornament der Masse, von der Formung und Biegung des Ichs für den mächtigen Gesellschaftskörper entkräftet. Hier wuchert der Einzelne einfach aus.

Die sieben Episoden der Kammeroper werden durch Szenenwechsel mit Scherenschnitt, Silhouetten-Theater, Calder-gleichen Mobiles markiert. Eine satirische Momentaufnahme zeigt, wie die sibyllinische Zettelwirtschaft bürokratisch verwaltet, sortiert, registriert wird, ganz gleich, ob es sich um dummes Zeug handelt oder um letzte Fragen. Der Mensch (Afrikas) bleibt der Betrogene, das Glücksversprechen wird nicht eingelöst. Eine Art Wahrheits-Kommission gerät in den Wirbel der Pamphlete und ihrer Headlines. Eine Computermaschine löst die Sibylle ab, klopft Sprüche und verkündet Sinn und Unsinn. "A Prisoner in the Book" gestaltet eine eindrückliche tänzerische Beckett-Reminiszenz zwischen Mann und Stuhl. Schließlich verweht der Papierkram – das Geschreibsel. Was bleibt in dem ironisch-elegischen, heiter-düsteren Klage-Spiel mit dem sibyllinischen Handorakel der Lebensklugheit, ist die Botschaft: Waste no time – Verschwende keine Zeit.

 

Sibyl
von William Kentridge
Konzept und Regie: William Kentridge, Komposition und musikalische Leitung: Kyle Shepherd, Mitarbeit: Nhanhla Mahlangu, Schnitt und Compositing: Zana Marovic, Kostüme: Greta Goiris, Bühne: Sabine Theunissen; Licht: Urs Schönebaum (Mitarbeit: Elena Gui); Ton: Gavan Eckhart; Kinematografie: Dusko Marovic.
Mit: Kyle Shepherd, Nhlanhla Mahlangu, Xolisile Bongwana, Thulani Chauke, Teresa Phuti Mojela, Thandazile ‚Sonia’ Radebe, Ayanda Nhlangothi, Zandile Hlatshwayo, Siphiwe Nkabinde, S’busiso Shozi.
Deutschlandpremiere am 3. Mai 2022
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, eine Pause

https://www.ruhrfestspiele.de/

 

 

Kritikenrundschau

"Es gibt keine Propheten und Prophetinnen, die uns sagen, wo's lang geht." Das ist für Stefan Keim auf WDR 5 in "Scala" (4.5.2022) die Aussage dieses Stücks, und damit nimmt es sich in der aktuellen weltpolitischen Situation mit Corona und dem Krieg gegen die Ukraine für ihn hochaktuell und "großartig" aus.

Der Abend beginnt im ersten Teil mit einem Film, einem "Daumenkino der Metamorphosen, ein Bilderrausch der Assoziationen. Sie künden von Sklavenarbeit, Apartheid, Sterblichkeit, Tod“. Der zweite Teil wartet mit einer bildgewaltigen Kammeroper auf", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (5.5.2022). Der Titel spieleauf die Prophetin Sibylle von Cumae an. "Kentridge nimmt das zum Anlass für einen musikalisch-tänzerischen Wirbelsturm der Ängste, Hoffnungen und Glaubenssätze, der Projektionen und Schattenspiele." Eine babylonische Kakophonie der Stimmen, Klänge und Weissagungen, dargeboten von neun hochdynamischen schwarzen Sängerinnen und Tänzerinnen. Fazit: "Sichere Antworten und Pfade gibt es keine. Es muss schon jeder selber sein Leben in die Hand nehmen. Dazu fordert dieser sinnenfreudige, sinnenreizende Theaterabend auf."

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