Meine Fresse, Hesse

8. Mai 2022. Hermann Hesses berühmtes Epochengemälde über einen Intellektuellen mit vielen Seelen in seiner Brust als Bühnenstück: Schriftsteller Thomas Melle und Regisseurin Lilja Rupprecht holen die 95 Jahre alte Faust-Variation ins Heute und stellen Ähnlichkeiten zwischen den 1920er und den 2020er Jahren fest.

Von Frauke Adrians

Lilja Rupprecht und Thomas Melle bearbeiten "Der Steppenwolf" von Hermann Hesse am Deutschen Theater Berlin © Arno Declair

7. Mai 2022. Wenn schon Persönlichkeitsspaltung, dann aber richtig. Harry Haller, selbsterklärter Steppenwolf und alter ego Hermann Hesses, ist nicht bloß bipolar zwischen Midlife-kriselndem, lebensüberdrüssigem Intellektuellem und wildem Wolf zerrissen, er besteht aus sehr, sehr vielen Ichs und Unter-Ichs.

Erstaunlich, dass Thomas Melle, der den Klassiker 95 Jahre nach dessen Erscheinen zum Theaterstück verarbeitet hat, sich den Kalauer "Wer ist Harry Haller, und wenn ja, wie viele" hat entgehen lassen. Denn sonst ist Melle nicht eben zurückhaltend, wenn es darum geht, Hesses Text mit Zitaten aus dem späten 20. und frühen 21. Jahrhundert aufzubrezeln. Das Tableau reicht vom Stoßseufzer "meine Fresse, Hesse" bis zur Sesamstraße, von Netflix bis zum Splatter-Movie. Und obwohl jede Menge unveränderter Hesse in seiner Adaption steckt, gießt Melle mit Vergnügen eine ganze Kanne T über dem Steppenwolf aus, in dem er ihn um TV und Techno, Turnschuhe und Wein aus Tetra-Packs anreichert.

Stolpern über die Epochenschwelle

Wie viele ist Harry Haller denn nun? Zumindest so viele, wie das Ensemble hergibt. Jeder und jede darf mal der Harry sein, manchmal hallern sie auf Christina Schmitts aus baustellenartig wirkenden Holzgestellen und -wänden konstruierten Drehbühne auch alle gemeinsam, als Sex- oder Septett, den komisch-chorischen Effekt hat Regisseurin Lilja Rupprecht kalkuliert. Wenn überhaupt, dann "sind" Manuel Harder und/oder Elias Arens ihr Harry Haller; beide spielen gekonnt den unter potenziell selbstmörderischem Ennui leidenden intellektuellen Endvierziger.

Dass Haller allzu weltschmerzig-abgehoben rüberkommt, weiß Rupprecht indes zu verhindern, auch mithilfe ihrer am Deutschen Theater spätestens seit Thomas Melles Stück Ode bewährten Zusammenarbeit mit dem inklusiven Theater Ramba Zamba: Die von dort stammenden Schauspieler:innen Juliana Götze und Jonas Sippel erden das Drama mit schelmischem Witz, unter anderem mit einer hinreißenden Einlage als Ernie und Bert in der Rolle des spießigen, hurrapatriotischen Professoren-Ehepaars.

Der Steppenwolf von 1927 auf der Theaterbühne anno 2022 – muss das sein? Diese Frage ist schwerer zu beantworten als die nach Harry Hallers multipler Persönlichkeit. Eindeutig macht es Thomas Melle Spaß, mit Hesses Sprache zu spielen und Hesses Personenreigen ins Heute zu übertragen.

steppenwolf1 ArnoDeclairAm Tresen: Katrin Wichmann und Manuel Harder © Arno Declair

Aber die Linien, die er von der "Schwellenzeit" der späten 1920er Jahre (O-Ton Programmheft) zu den 2020ern zieht, sind eher krakelig als parallel. "An allen Fronten verschärfen sich Ton und Umgang, entstehen Neid und Wut", will Melle demnach im Heute ebenso wie im Damals beobachtet haben – und folgert, es handle sich um "ähnliche Übergangszeiten". Von "Kulturpessimismus" spricht der Programmhefttext dann auch noch, ohne diesen Begriff aber auf Melles Haltung selbst zu beziehen, obwohl das eigentlich nahe läge.

Aggressiv geführte Debatten

Um sein Anliegen zu verdeutlichen, hätte der Autor dem Steppenwolf möglicherweise ein Twittervögelchen an die Seite stellen sollen. Es stimmt ja: Wenn der nationalistische Professor im Stück sich über einen vermeintlichen "Namensvetter" Harry Hallers echauffiert, der den Kaiser verunglimpft haben soll, dann fallen dem heutigen Zuschauer sicherlich die hochpersönlich bis aggressiv geführten Debatten um diverse offene Briefe für und wider Waffenlieferungen an die Ukraine ein. Aber dazu bräuchte es keine moderne Steppenwolf-Bühnenadaption; zeitlos aktuell ist in diesem Punkt schon der Originaltext.

Ein paar der Wortspiele und popkulturellen Zitate, die den einen oder anderen Lacher garantieren ("Wahnsinn, warum schickst du mich in die Hölle?"), hätten Autor und Regie ruhig streichen können. Denn die zweieinhalb Stunden ziehen sich phasenweise doch ziemlich, zumal es zu der mit Video- und sonstigen Verfremdungseffekten nicht eben geizenden Inszenierung gehört, dass über weite Strecken weniger in Rollen gespielt als Text aufgesagt wird.

Humor als Lebensrezept

Wenige Minuten vor dem Ende der Premiere verließen dann auch noch etliche Zuschauer den nahezu ausverkauften Saal; dermaßen drastisch hat Thomas Melle das sex- und drogengeschwängerte Sado-Splatter-Movie ausformuliert, in dem der nach Exzessen dürstende Steppenwolf – oder ist es zu diesem Zeitpunkt eher eine Steppenwölfin? – sich den finalen Lustmord ausmalt, dass nicht jeder sich diese Brutalstphantasien noch länger anhören wollte.

Juliana Götze empfiehlt am Ende – Arm in Arm mit Hermann Hesse – Galgenhumor als Lebensrezept, auch als letzte Rettung gegen etwaige Selbstmordgedanken. Eine versöhnliche Note zum Ausklang.

 

Der Steppenwolf
nach Hermann Hesse
in einer Bearbeitung von Thomas Melle
Uraufführung
Regie: Lilja Rupprecht, Bühne und Kostüme: Christina Schmitt, Musik: Philipp Rohmer, Video: Moritz Grewenig, Licht: Cornelia Gloth, Dramaturgie: Juliane Koepp.
Mit: Elias Arens, Juliana Götze, Manuel Harder, Helmut Mooshammer, Natali Seelig, Jonas Sippel, Katrin Wichmann.
Premiere am 7. Mai 2022
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

Parallelen zwischen den Autoren Hesse und Melle zieht André Mumot bei Deutschlandfunk Kultur (7.5.2022): Beide beschäftigten sich "mit den eigenen Problemen, Neurosen, Depressionen und Exzessen". Mutig setze sich das Stück mit Hesses Text auseinander und habe trotz mancher Längen starke Momente: "Nach einem etwas langweiligen Beginn, wird es immer radikaler und intensiver, fast schon zu einer Zumutung für das Publikum, zu einer Art Steppenwolf-Exorzismus". Die Inszenierung sei allerdings "nicht einfach, weil sie sehr viel wolle", so Mumot, den die vielen, von Rupprecht und Melle in das Stück hineingepackten Ideen in der Umsetzung an Frank Castorf erinnern. Gefallen hat Mumot, wie die RambaZamba-Spieler:innen die Arroganz Hallers kontrastierten, indem sie respektlos und ohne Ehrfurcht mit ihm und dem klassischen Text umgingen.

Als Stoff, der "wie für unsere Zeit geschrieben" sei, erscheint "Der Steppenwolf" Christine Wahl vom Tagesspiegel (8.5.2022) nicht unbedingt. Lilja Rupprecht siedle ihn "in einem pittoresk wirkenden Budenzauber-Ambiente an, das weniger Gegenwartsanalyse verspricht als zeitlosen dramatischen Eskapismus" – so könnte Hesses "magisches Theater" aussehen, des Steppenwolfs zentrale "Selbsterkenntnis-Location". Die Regie setze auf Aktionismus, es sei immer was los auf der Bühne, "hier eine kleine Ensemble-Parade mit Wolfsköpfen, da eine Gruppentanznummer, dort ein Dialog im Auto". Viele der Ideen gehörten jedoch längst "zu den konventionelleren Stadttheatermitteln", und auch die versprochene neue Hesse-Lesart stelle sich nicht ein: "Um wirklich tiefe Einblicke in unsere Gegenwart zu geben, hängt der Abend zu sehr zwischen den Zeiten, mithin zwischen Hesse und Melle fest." Die ein oder anderen Schauspielnummer indes erfreut die Kritikerin: etwa wenn Katrin Wichmann und Manuel Harder einander in der Imbissbude begegneten, "zielsicher in der Kitschvermeidung und stets von subtilem (Spiel-)Witz getragen".

Überzeugt davon, dass Hesses Zwischenkriegsphantom, sein innerlich zerrissener, "verkappter Faust", auf die Bühne gehöre, habe ich Melle gezeigt, so Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (8.5.2022). Doch obwohl sich der Autor "als geschickter Bearbeiter alter Stoffe bereits vielfach ausgezeichnet" habe, entfalte seine "Steppenwolf"-Überschreibung weder große Strahlkraft noch Dringlichkeit. Das "Mischmasch-Ich", das sich Melle aus Hesses Vorlage gepickt habe, sei durchaus modern: "Den alternden Raver und Jazz hassenden Musikkritiker habe die Zeit überrannt, seine Welt-und-ich-verschmelzende-Techno-Utopie der Neunziger ist im woken Parzellen-Denken der Gegenwart passé." Dass die Figur dennoch nicht durchkomme, liege an der "zerfasernden Inszenierung, die sich nicht entscheidet, um was es ihr gehen soll", und die zu viel Leerlauf und komödiantisch überreizte Nummern produziere.

Komplett neu erfunden habe Thomas Melle Hesses Künstlerfigur, sagt Frank Dietschreit bei rbb Kultur (9.5.2022): Wie Hesses Haller sei Melles Protagonist zwar auch der zwischen zwei Zeiten geratene, aus jeglicher Geborgenheit und Unschuld gefallene Außenseiter – ein Aspekt, der Lilja Rupprecht interessiert zu haben scheint. Aber Hesses literarische Rafinesse sei in eine "banal-postmoderne Unübersichtlichkeit transferiert, in eine Welt, die nur noch aus Ekstase und Exzess und Depression besteht". Melles Haller fühle sich "strange", wolle kein "loser" sein und statt wie bei Hesse ins Labyrinth eines magischen Theaters zu geraten, mutiere er bei Melle zu einem Ritualmörder à la Charles Manson. Die Inszenierung mit Drehbühne und Live-Kameras erinnert Dietschreit an "eine billige Raubkopie einer uralten Castorf-Inszenierung" und auch die Einbindung der RambaZamba-Spieler:innen überzeugt den Kritiker nur "leidlich" – er findet sie eher ausgestellt, wenn sie "als running gag über die Bühne geschickt werden" und mit Hesses Slogan "nur für Verrückte" fürs magische Theater werben.

"Hier wird meistens steif herumgestanden und stählern-ergriffen deklamiert, während Philipp Rohmer dazu im Hintergrund recht unerhebliche Musik erzeugt. Insofern ist die Aufführung trotz ihres protzigen Aufwands sehr übersichtlich", schreibt Irene Bazinger in der FAZ (10.5.2022). Die Kritikerin fragt sich, ob die Hauptfigur noch je den Sinn seines Daseins und den Galgenhumor finden wird, der ihm empfohlen wurde, um die Dinge und sich selbst nicht dauernd so schwerzunehmen? "Die Inszenierung von Lilja Rupprecht würde das auch gern wissen, hat aber leider keine Ahnung."

Kommentare  
SteppenWolf, Berlin: aktueller denn je
Das Stück ist genial inszeniert und Schauspielerisch großartig umgesetzt.
Das Thema psychische Erkrankungen ist aktueller denn je, denn endlich sind Depressionen als Krankheit anerkannt und in die gesellschaftliche Mitte gerückt worden. Krisen wie Corona haben die Gesellschaft spüren lassen wir sehr wir doch soziale Wesen sind und einander brauchen.
Steppenwolf, Berlin: Wichtiger Abend
Liebe Frau Wagner, ich stimme Ihnen voll zu. Es war wichtig, dass einige Zuschauer das Ende nicht aushielten und das Theater in Scharen verließen. Schde für das tolle Ensemble, aber verständlich. Man muss schon einiges aushalten, aber das steckt ja bereits im Roman. Melle verschärft den Tenor und mutet dem Zuschauer einiges zu. Aber, ist Theater nicht häufig eine Zumutung, die uns an die Grenzen unseres Verstandes führen kann? In diesem Sinne war es für mich ein wichtiger Theaterabend. Man muss sich aber ein wenig mit Melle beschäftigt haben, um das zu ertragen. Mein Dank gilt den Schauspieler*innen, die trotz Türenknallen unbeirrt weiterspielten.
Kommentar schreiben