Hartnäckige Heerführerin

10. Mai 2022. Schiller überschrieb mit seinem Werk "Die Jungfrau von Orleans" radikal die Johanne der historischen Quellen. Für die Regisseurinnen Joanna Bednarczyk und Ewelina Marciniak passt nun ihr Heldentod nicht mehr. Wie war es wirklich? An dieser Stelle bitten wir Expert:innen, Stücke der Zehnerauswahl des Theatertreffens zu begutachten. 

Von Dorothea Weltecke, Professorin für mittelalterliche Geschichte. 

"Die Jungfrau von Orleans" in der Regie von Ewelina Marciniak am Nationaltheater Mannheim © Christian Kleiner

10. Mai 2022. "Wer war Johanna?" – Diese Frage wird heute Abend öfter gestellt. Ist sie nur eine leere Hülse, wie es am Ende heißt? Friedrich Schiller, zwar Historiker und Professor für Geschichte in Jena, war nicht daran interessiert, die historische Figur zu zeigen. Ihm ging es um seine eigene Gegenwart und Zukunft. Aber die sind vergangen. Wenn man diesen kanonischen Text also zerschlägt, hat man am Ende nur Scherben. Ein anderer Text ist Johannes eigener Interpretation ihres Weges näher gekommen als jede andere literarische Bearbeitung.

Doch dieses Werk einer Frau hat es, wie so viele andere, nicht in den Kanon geschafft. Die promovierte Historikerin Dr. Netty Reiling, alias Anna Seghers, schrieb im Pariser Exil "Der Prozeß Jeanne d'Arc zu Rouen 1431" und ließ in diesem Stück die Akten des Inquisitionsprozesses selbst zu Wort kommen. Man muss solche Dokumente mit analytischer Finesse behandeln. Wenigstens lassen diese Protokolle Johanne reden. Deswegen, wegen Johannes Niederlage in einem abgekarteten Spiel und wegen ihres postumen politischen Sieges hat Dr. Ruth Schirmer-Imhoff 1961 die Protokolle übersetzt. Wer kennt heute Schirmer-Imhoff?

Die Protokolle, die eine um ihre Glaubwürdigkeit, ihre Seele und ihr Leben kämpfende Johanne vorführen, lassen sich schon selbst als Inszenierung lesen. Genau das wollten die gelehrten Richter auch. Sie wollten damit die Grundlage von Johannes Charisma, ihre göttliche Berufung zur kämpfenden Jungfrau, zur Virago, vernichten. Die Virago, das war eine traditionelle heilige Figur, die die Geschlechterordnung überwand, und der deshalb wundertätige Fähigkeiten zugesprochen wurde.

Abschied von der Weiblichkeit

Zu diesem Typus der heiligen Jungfrau gehörte ihre Absage an Sexualität und ihre Ablehnung der Familienrolle. Wer sie auf ihrem Weg behinderte, wurde deshalb grell als Bösewicht, Verführer und grausamer Vater ausgemalt. Um Gewalt zu entgehen und um den Abschied von der Weiblichkeit zu verkörpern, verkleideten sich diese Frauen gelegentlich als Männer. Ja, es wuchs ihnen mitunter wunderbarerweise sogar ein Bart. Wohlgemerkt, das war in den mittelalterlichen Viten Ausdruck ihrer Heiligkeit. Hartnäckige Jungfräulichkeit oder eine Verkleidung als Mann war deshalb auch in der historischen Wirklichkeit eine Möglichkeit für Frauen, sich Handlungsspielräume zu erkämpfen, aus welchen Motiven auch immer.

jungfrau 3 560 christian kleiner uKniefall vor der Figur: Boris Koneczny (Thibaut d’Arc) und Annemarie Brüntjen (Johanna) © Christian Kleiner

Dass Frauen Heere anführten, war damals nicht so ungewöhnlich. Man denke nur an die Richterin Deborah in der Bibel als Modell und dann auch an mächtige Äbtissinnen des frühen Mittelalters. Mit dem Aufkommen der schweren Panzerreiter im 12. Jahrhundert wurden die Frauen als Befehlshaberinnen auf dem Feld allerdings selten. Mit dem Ausschluss der Frauen aus den neuen hohen Schulen, den Universitäten, konnten Frauen keine theologischen Autoritäten mehr werden. Dennoch gab es Frauen, die Päpste und Könige tadeln durften wie die Hl. Brigitta von Schweden (1303-1373) oder die Hl. Katharina von Siena (1347-1383). Sie wurden durch göttliche Visionen dazu ermächtigt.

Ein Triumph

In der Fahnenträgerin Johanne kamen die Virago, die Heerführerin und die Prophetin zusammen und ermöglichten und definierten ihre realen Handlungsspielräume. Deshalb konnten für ein atemberaubendes Jahr 1429 die politisch und spirituell kreative Tochter eines wohlhabenden Bauern und die Partei des französischen Thronfolgers Karls VII. zusammen dasselbe Ziel anstreben. Ihr gemeinsamer Erfolg gipfelte in der Salbung ihres Kandidaten bei der Johanne für alle sichtbar zugegen war. Ein wunderbarer Triumph!

Diese Jungfrau war für die englische Partei äußerst gefährlich. Sie legitimierte die Ansprüche des englischen Königs über die traditionelle weibliche Erbfolge und löschte dabei eine weibliche Stimme aus, die diesem Anspruch ein modernes Ideal der nationalen Integrität entgegensetzte. Das ist nicht ohne Ironie. Es gelang dieser Partei mit dem Mittel des politischen Ketzerprozesses, seit etwa 100 Jahren erprobt. Damit machten sie aus der Virago ein dämonisches und häretisches Monstrum. Der Papst schloss sich ihrem Urteil nicht an; ein weiterer Prozess wurde geführt und Johanne nur 25 Jahre später vollständig rehabilitiert – welchem verurteilten Ketzer ist dies sonst zuteilgeworden?

jungfrau 6 280 christian kleiner uIn der Geschlechterunordnung der Gegenwart: Arash Nayebbandi (La Hire / Bertrand / Margot) und Maria Munkert (Graf Dunois) © Christian Kleiner

Schiller hatte 1801 eine emanzipatorische Absicht im Sinn. Dafür dekonstruierte er Jeanne d’Arc. Er formulierte ihr Ende neu als Heldentod auf dem Schlachtfeld. Schillers Frauenbild war schon das moderne. Deshalb verliebt sich seine Johanna gegen ihren Willen und verzweifelt daran fast. Nur so kann sie in seiner Zeit eine authentische Frau sein. Er überschrieb also radikal die Johanne der historischen Quellen. Für Joanna Bednarczyk und Ewelina Marciniak passt der Heldentod nicht mehr, sie korrigieren den Scheiterhaufen zurück in die Geschichte. Er ist das hier ausgestellte Symbol der Verfolgung, die nach Johannes Tod, in der Neuzeit zur tödlichen Gefahr wurde – der Hexenprozess. In der Liebe, in ihrer Aufwertung als Erfahrung, die die Frau zur Frau macht, treffen sich die heutige Fassung und Schillers Frauenbild. Sonst lösen Joanna Bednarczyk und Ewelina Marciniak es in unsere Geschlechterunordnung auf, nackt, körperlich im Tanz oder mit Frauen in Männerkleidern und Männern in Frauenkleidern.

Ein Mythos, von links und von rechts beschworen

Man hat es eigentlich schon verstanden, aber es wird am Schluss nochmals sprachlich expliziert: Jeanne d’Arc ist ein Mythos, der von links und von rechts beschworen wurde. Historisch folgten auf die nationalen Freiheitsbewegungen die nationalistische Gewaltherrschaft. Auf die Erklärung der natürlichen gleichen Rechte aller Menschen im 18. Jahrhundert folgte die biologistisch begründete Entrechtung von Frauen. Das ist heute noch nicht überwunden. Die Körper der Frauen sind in vielen Regionen buchstäblich der Ort, auf dem Männer ihre Dominanz ausfechten. Heute, am 9. Mai 2022, schmerzt es besonders, diesen Satz zu schreiben, und manche Bilder dieser wunderbaren Inszenierung haben heute eine ungewollte Aktualität. Man könnte deshalb auch mal den Kanon dekonstruieren, statt kanonische Texte zu denunzieren, und öfter Texte von Frauen lesen. Übrigens sind nicht viele mittelalterliche Frauen mit so vielen Zeugnissen belegt wie Johanne. 

 



annettscheffel 735 72dpi Credit Thomas NeukumProf. Dr. Dorothea Weltecke unterrichtet seit Oktober 2021 als Professorin mittelalterliche Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, zuvor in Frankfurt am Main und davor von 2007 bis 2017 als Professorin für die Geschichte der Religionen an der Universität Konstanz. Ihre erste wissenschaftliche Publikation hat sie als Studentin an der Freien Universität Berlin mit Studienkolleginnen vorbereitet – über die Geschichte der Konstruktion Geschlecht (1996 erschienen). Seither hat sie sich unter anderem mit der Geschichte der Christen, mit religiöser Devianz, mit religiösen Minderheiten unter christlicher und islamischer Herrschaft und mit religiöser Gewalt beschäftigt. Sie beginnt, über die Verbindung der Kategorie Geschlecht und der Kategorie Religion als fundamentalen Kategorien sozialer Ungleichheit nachzudenken.

In der Reihe Das Theatertreffen 2020 von außen betrachtet hat nachtkritik.de Expert:innen von Disziplinen außerhalb des Theaterbetriebs gebeten, die Berliner Festivalgastspiele zu begutachten. Aus frei gewähltem Blickwinkel, ohne formale oder inhaltliche Vorgaben. Zu allen Einladungen finden sich auch Nachtkritiken, die bereits zur Premiere der Produktionen entstanden. 

Die Nachtkritik zur Premiere von Die Jungfrau von Orleans am Nationaltheater Mannheim gibt es hier.

Zur Festivalübersicht des Berliner Theatertreffens 2022 geht es hier entlang.

 

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