Ein Halbzeitkasper sieht rot

von Bernd Noack

Nürnberg, 28. November 2008. Zunächst einmal die schlechte Nachricht: zu einer "Uraufführung" kam es am Staatstheater Nürnberg gestern Abend nicht. Obwohl doch Theater gespielt wurde. Aber Autor Thomas Brussig hatte kurzfristig vor der Premiere seines Prosa-Monologs "Schiedsrichter Fertig", den sich Regisseur Alexander Schilling für die Bühne zusammengebastelt hat, den Etikettenschwindel unterbunden.

Den auf eine Spielstunde zusammengekürzten Text (das Buch hat immerhin 90 Seiten) hätte er, Brussig, nicht mehr wiedererkannt; also entzog er den Nürnbergern das "UA"-Kürzel, ließ die Produktion gleichwohl zu. Was das jetzt ist, eine "Bearbeitung", eine "Fassung nach..." oder einfach eine freche Ausschlachtung des Originals, bleibt einstweilen dahingestellt. "Einvernehmlich" hätte man sich auf jeden Fall geeinigt, hieß es seitens des Theaters. Der Ur-Autor selber freilich wollte das alles gar nicht mehr sehen.

Trapattoni-Ekel unerreicht

Der schlechten Nachricht zweiter Teil: Dem Monolog, der in Nürnberg aufgeführt wird, hört man dann tatsächlich sehr deutlich an, dass er einigermaßen hilf-, wenn nicht gar lieblos aus einem komplexen Text herausgepult wurde. Die "Litanei", wie Brussig seine Geschichte untertitelt hat, leiert hier und eiert. Die durchaus tragische Geschichte des privat und dienstlich schwer geplagten Herrn Fertig wird als wackliges Erzähl-Gerüst hergenommen, um die knackigen Hass- und Schimpftiraden des cholerischen Pfeifenmannes wie satte Kabarett-Bomben umso heftiger knallen zu lassen. Und das wiederum lässt die Klischees und volkstümlichen Verallgemeinerungen, an denen der Originaltext wahrlich nicht arm ist, leider noch deutlicher hervortreten. Macht allerdings Laune beim Publikum.

Heraus kommt also eine Art Nummernrevue, eine Konferenzschaltung zwischen Schlachtengebummel und Gesellschaftskritik, deren Unterhaltungswert und Garstigkeit aber keineswegs die Qualität des Buches – und schon gar nicht die aufrüttelnde Wucht der legendären Pressekonferenz des Trainers Trapattoni erreicht, der da in Bezug auf den Fussball- und Welt-Zirkus einst angeekelt sagte, er habe ...? Richtig: "Fertig!" Womit nun auch der Titel halbwegs erklärt wäre.

Mist gepfiffen? Ausbaden!

Warum aber dieser Herr Fertig, im Hauptberuf höchstbezahlter FIFA-Schiedsrichter, solch einen Prass auf Gott und den Ball hat, erfährt man in der Nürnberger Fassung nur beiläufig. Brussig führt ihn vor als einen zutiefst verunsicherten, wütenden, trauernden Mann, der durch einen ärztlichen Kunstfehler einen lieben Menschen verloren hat. Auf einmal dreht sich alles in seinem Kopf: Es geht um Macht und Verantwortung, um Schuld und Hybris.

Der Chirurg im weißen Kittel und mit Skalpell wird zum imaginären Gegenspieler des Mannes im schwarzen Dress und mit Pfeife: Schnitt oder Pfiff – wo ist der Unterschied? Bei beiden entdeckt Fertig den schier unerträglichen Zwang, stets von einer Sekunde auf die andere endgültige Entscheidungen treffen zu müssen. Aber während der Arzt, so seine Behauptung, bei Fehldiagnosen mit tödlichen Folgen in der Regel unbehelligt bleibt, muss der Schiedsrichter den möglichen Mist, den er gepfiffen hat, vor der Kulisse von zig-tausend Fans erbärmlich öffentlich ausbaden.

Vielstimmig gegrölte Hasstiraden prasseln auf ihn nieder in dem Stadion, das ihn umschließt wie eine Gefängniszelle. Beleidigungen, Morddrohungen, gesellschaftliche Ächtung, Lügen und Unterstellungen muss er sich gefallen lassen: jeder dumpfe Laie kann seinen Sachverstand und seine Urteile bezweifeln und ihm an der Ehre flicken; die allmächtigen Medien dürfen ihn vor laufenden Kameras schlachten.

Endspiel einer verkommenen Gesellschaft

Fertig steigert sich in seine Opferrolle hinein, seine verletzte Eitelkeit, seine Anmaßung lassen ihn alle Regeln des anständigen Diskurses vergessen; und Brussig schlägt dabei kräftig über die Stränge. Vom Auschwitz-Vergleich bis zur Demokratie-Demontage ist in dieser Litanei gehörig viel Unkorrektes dabei; und vom geldgeilen, dummen Profi-Kicker bis zum spitzelnden Blockwart-Hausmeister aus DDR-Zeiten laufen die Abziehbilder einer korrupten, verkommenen Gesellschaft auf wie zum Endspiel um den Titel des hässlichsten Zeitgenossen. Wohl gemerkt: so steht es im Buche. Auf der Bühne bleiben davon nur Fragmente, hingeworfen und vage zu einem Bild zusammengefügt.

Also nicht mal eine halbwegs gute Nachricht von diesem Abend? Doch, der Schauspieler Thomas Klenk rettet das ganze unglückselige Unternehmen zumindest einigermaßen, indem er diesem Fertig trotz der textlichen Oberflächlichkeit eine zu erahnende Tiefe gibt. Klenk hätte diese gebrochene Figur, die Brussig meint, durchaus spielen können: die nicht nur an der Ernsthaftigkeit ihres Jobs, sondern an der Vollkommenheit der Schöpfung überhaupt zweifelt, und er hätte den Sinn dieser verbalen Krämpfe spürbar gemacht – wenn man ihm die ganze Geschichte des Herrn Fertig gelassen und ihn nicht nur auf einen durchgedrehten, bösen Halbzeitkasper reduziert hätte.

Und so verpufft auch die erschreckendste und zugleich schönste Drohung, zu der Fertig fähig ist, wie fast alles in dieser Inszenierung in der Tiefe des Raumes: Was wäre eigentlich, wenn so ein Schiedsrichter aus Rache an der ganzen Welt nach 90 Minuten einfach nicht abpfeifen, sondern immer weiterspielen lassen würde?

 

Schiedsrichter Fertig
von Thomas Brussig
Regie: Alexander Schilling, Bühne und Kostüm: Stephan F. Rinke.
Mit: Thomas Klenk

www.staatstheater-nuernberg.de

 

In Nürnberg sahen wir zuletzt Georg Schmiedleitners Orestie. Mehr über den Regisseur Alexander Schilling erfahren Sie in seinem Lexikoneintrag auf nachtkritik.de.

 

Kritikenrundschau

"Gallig aber wahr" seien "die Seitenhiebe des Schiedsrichters auf den Medienzirkus", der den Fußball-Sport begleite, meint Hans-Peter Klatt in der Nürnberger Zeitung (1.12.2008) – in weiten Teilen schwinge sich so Thomas Brussigs in Nürnberg aufgeführter, aber mangels Autorzustimmung nicht uraufgeführter Monolog "Schiedsrichter Fertig" "durchaus zum aufklärerischen, gesellschaftskritischen Stück auf". Regisseur Alexander Schilling aber lasse seinen Darsteller Thomas Klenk nur "ein paar Holzfiguren herumschieben oder umstürzen. Szenisch ist das aber einfach zu mager." Klenk gebe "sich Mühe – zu viel Mühe – den gut einstündigen Monolog stimmlich aufzupeppen. So kippt das Lamento allzu abrupt vom Raunen ins wütende Schreien. Klenk macht aus seiner Figur einen haltlosen Choleriker, den unmäßige Anwürfe von Spielern und Zuschauern in eine maßlose Verbitterung getrieben haben", womit aber "eher Befremden und Distanzierung im Publikum" erzeugt werde.

Um einen "bitteren Monolog" handele es sich bei Brussigs "Schiedsrichter Fertig", "irgendwo zwischen Demokratie-Kritik, DDR-Kindheitstrauma und eitler Selbstbeweinung" angesiedelt, schreibt Katharina Erlenwein in den Nürnberger Nachrichten (1.12.2008). Die Aufführung leide aber "unter seltsamer Blutarmut, die teils dem ziellos zwischen persönlichem Schicksal und allgemeiner Larmoyanz pendelnden Text, teils der schnöseligen Distanziertheit von Thomas Klenk zu verdanken ist". Der Schauspieler wirke "im weißen Anzug mit schwarzem Hemd und abgespreiztem kleinem Finger eher wie der Manager eines Star-Clubs als ein engagierter Berufs-Pfeifer. Seine Hasstiraden laufen ins Leere, weil man von vornherein wenig Mitleid mit ihm empfindet."

 

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