Großartige Ruhestörung

13. Mai 2022. Willkommen an einem Abend unter Waldfremden und Verwaldeten, auf der düsteren Spur in die Waldeinsamkeit: Ein sektenähnliches Arrangement zeigt das Theaterkollektiv Signa mit "Die Ruhe" beim Berliner Theatertreffen 2022. Wir haben einen Gartentherapeuten zu den sinistren Naturanbetern geschickt.

Von Gartentherapeut Constantin Gröschel

"Die Ruhe" von Signa beim Berliner Theatertreffen 2022 © Erich Goldmann

13. Mai 2020. Jetzt, am frühen Morgen, sitze ich im Wald.

Das ist nichts Ungewöhnliches. Ich arbeite hier. Was bedeutet: Ich begebe mich täglich und seit Jahren mit Menschen in den Garten, den Park, den Wald, um sie in und mithilfe der Natur dabei zu unterstützen, seelisch zu gesunden. Mein Beruf ist der eines Gartentherapeuten.

Ungewöhnlich hingegen ist, dass ich gestern im Alten Paketpostamt Altona als einer von 30 sogenannten Präparanden in "Die Ruhe" des Theaterkollektivs SIGNA eingetreten war.

Waren es tatsächlich fünfeinhalb Stunden? Sie wurden mir nicht lang.

Doch während es in meiner Arbeit eher darum geht, im Wald einen geschützten Raum zu erschließen, um sich darin als Mensch zu erleben und sich anzunehmen, um bei sich ankommen zu können, wird in SIGNAs Therapie-Institut die Überwindung des Menschseins angestrebt. "Verwandlung" ist eines der Schlüsselwörter – wir Einsteiger durften es mitskandieren. Suggeriert wird: Um zur Ruhe zu gelangen, müssen wir etwas anderes werden, anstatt uns sein zu lassen.

Vor vielen Jahren bin ich schon einmal "eingetreten". Dass es der Einstieg in eine Sekte war, wurde mir erst viel später bewusst.

Sektenartige Manipulationen

So war ich gestern schon sehr gespannt darauf, wie es mir ergehen würde, wenn sich die Türen des "Erholungsinstitut Hamburg" erst einmal hinter mir schließen würden. Was in meiner damaligen Sekte die Überwindung des Egos hieß, nannte sich nun das Ablegen des "Waldfremden". Und tatsächlich verstanden es die hierarchisch aufgestellten Anleiter*innen mitunter sehr subtil, sektenartige Manipulationsnetze auszuwerfen. Das Erwähltwerden beispielsweise oder das Bestätigen spirituellen Fortschritts. Der dann wiederum dazu befähigt, besondere Aufgaben zu übernehmen …

Dass Catina, die "Leitwanderin", die unsere kleine Gruppe durch die verschiedenen "Anwendungen" führte (oder sich führen ließ), hin und wieder kleine Ausbrüche von Eifersucht auf die vermeintlich bevorzugte Konkurrentin auf der Karriereleiter zur Waldeinsamkeit zeigte, passte da auch bestens ins Bild. Umso mehr Mühe musste sie sich eben geben, ihre Aufgaben im Institut zu erfüllen … Auch die oft nicht ganz greifbare Aggressivität, die bemäntelten Machtstrukturen der Institutsgemeinschaft ließen uns auf dem schmalen Grat zwischen Zwang und Freiwilligkeit balancieren, der einer Sekte eigen ist (Wohl denjenigen, die freiwillig dem Zwang zuvorkommen!).

DieRuhe 4 ErichGoldmann u"Die Ruhe" von Signa läuft beim Theatertreffen nicht als Gastspiel in Berlin, sondern am Original-Premierenort im Alten Paketpostamt in Hamburg-Altona © Erich Goldmann

"Nicht hingucken!", wurden wir angeherrscht, als ein Institutsinsasse zusammengebrochen auf dem Boden zuckte. "Ihr helft ihm dadurch nicht!" – Also Empathie unterdrücken? Mir, jedenfalls, hat es geholfen hinzugucken, auch mal einzugreifen.

Erleuchtung durch Leiden

Dass der Sog der Verführung dann letztlich doch nicht so stark verfing, mag auch an der – zumindest für uns völlig Waldfremde – eher abschreckenden, gruseligen Wirkung der in puncto Verwaldung Fortgeschrittenen gelegen haben. Je waldnäher, umso größer schienen Verzweiflung und Labilität, nicht hingegen die Ruhe zu sein. Wobei ich mich selbst noch argumentieren höre, in meiner Sektenzeit darauf angesprochen: Der Weg zur Befreiung sei eben ein harter, da gehe es einem nicht immer gleich gut dabei, die Erleuchtung müsse durch Leiden erkämpft werden …

In manchen der Settings fand ich mich aufgerufen, sehr persönlich in Erscheinung zu treten. Ich versuchte es. Und hatte ein flaues Gefühl dabei, weil es eben doch Schauspieler waren, die mir gegenüber saßen, und während ich aus meinem Leben erzählte, war mir bewusst, dass sie aus ihrer Rolle erzählten. Eine Schieflage. Ein Theater, eben? Jedenfalls ließ es mich die Bedeutsamkeit des Authentischseins, auch in meiner therapeutischen Arbeit, ganz lebendig erfahren. Möge ich so wenig Schauspieler wie möglich sein.

Laut mitsingend im Gemeinschaftskreis

Ein wenig stolz war ich jedenfalls schon. Bemerkte ich doch, dass ich heute in viele Fallstricke von Missbrauch und Manipulation nicht mehr geraten würde. Mein Austritt aus der Sekte, nach langen Jahren, war schließlich einer der bedeutendsten Reifeprozesse meines Lebens gewesen …

Und während ich dem so nachspürte, mich gerade immunisiert fühlte dagegen, von sektenhaften Gemeinschaftszwängen in Beschlag genommen zu werden, da fand ich mich schon stockschwingend und nach all der Anspannung aufatmend und laut mitsingend im Gemeinschaftskreis tanzend um den verzweifelt dagegen anbrüllenden Ewald …

Verstörend, ja. Das war es. Eine Ruhestörung, und großartiges Theater.

Ich werde jetzt aufstehen, aufbrechen von meiner Lieblingsstelle im Wald, und vielleicht morgen wieder vorbeischauen. Gut, dass sie da ist, dass ich sie aufsuchen und verlassen kann.

Heute möchte ich mit den Patient*innen-Gruppen im Garten bleiben. Garten ist das, wo unser menschliches Wollen und Gestalten mit natürlichem Wachsen und Entfalten zusammentrifft. Sich verbindet, oder auch nicht. Das ist manchmal spannend, oft lustig, und immer anders.

Wir haben viel zu tun, jetzt, im Mai. Auch mit der Ruhe.

 

Portraitfoto C.GroeschelConstantin Gröschel, 53, arbeitet als Gartentherapeut in der Psychosomatik des Gemeinschaftskrankenhauses Havelhöhe in Berlin. Im Rahmen seines "GartenTrost"-Projektes bietet er Trauerbegleitungen, Workshops, Lyrik und poetische Baumführungen an. Seine Suche nach Ruhe und Lebendigkeit führte ihn nach langen Wanderjahren auch in eine Sektenerfahrung – und wieder heraus, zum Glück.

 

 

In der Reihe Das Theatertreffen 2022 von außen betrachtet hat nachtkritik.de theaterferne Expert:innen gebeten, die Berliner Festivalgastspiele zu begutachten. Aus frei gewähltem Blickwinkel, ohne formale oder inhaltliche Vorgaben. Zu fast allen Einladungen finden sich auch Nachtkritiken, die bereits zur Premiere der Produktionen entstanden. 

Die Nachtkritik zur Premiere von Die Ruhe am Schauspielhaus Hamburg gibt es hier.

Zur Festivalübersicht des Berliner Theatertreffens 2022 geht es hier entlang.

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