Staubgraue Stereotypen

14. Mai 2022. Wer Freund, wer Feind ist, unterscheiden die Figuren in Arthur Millers einzigem Roman anhand des Kriteriums "sieht jüdisch aus". So weit so schlicht. Und gefährlich: Als der unauffällige Newman eine Brille bekommt, wird auch er angefeindet und ausgeschlossen. Das Klippklapp der unerbittlichen Vorurteilsmaschine hat Laura Linnenbaum in der Hannoveraner Uraufführung als Groteske eingerichtet.

Von Frank G. Kurzhals

"Fokus" nach dem Roman von Arthur Miller in Hannover © Kerstin Schomburg

14. Mai 2022. Arthur Miller hat nur einen einzigen Roman geschrieben. Beachtung hat das schmale Werk nach seiner Veröffentlichung 1945 nur bei wenigen gefunden. In ihm geht es um Rassismus, um Judenhass, den Miller auch selber erlebt hat, um phänotypische Klischees, die in Verschwörungsmythen ihren plakativen Auftritt haben. Das perfide Argumentations-Muster ist bekanntlich einfach: Wer ist Schuld am…? Einsetzen lässt sich beliebig Negatives, zum Beispiel "Schuld am zweiten Weltkrieg" oder "Schuld an der Wirtschaftskrise", und die Antwort lautet jeweils: die Juden.

Mit dem Tunnelblick struktureller Gewalt

In Millers Roman ist es für die Figuren deshalb wichtig, im Alltag gleich zu erkennen, ob jemand Jude ist und also Freund oder Feind der eigenen ach so feinen Gesellschaft. Vielleicht wegen dieser Schlichtheit seiner Struktur zählt der Roman nicht zu Millers Meisterwerken. Alles ist sehr offensichtlich, aber gerade dieses Offensichtliche scheint die Regisseurin Laura Linnenbaum fasziniert zu haben. Sie transponierte zusammen mit Johanna Vater den Roman in der Übersetzung von Doris Brehm in eine Theaterfassung. Und Hannover konnte exklusiv eine Arthur Miller-Uraufführung präsentieren.

fokus 1 C kerstin schomburgNewman, der Jedermann aus Millers "Fokus" © Kerstin Schomburg

Aus der Hauptfigur des Romans, aus Lawrence Newman, lässt Linnenbaum eine vierfach geklonte Figur werden. Die Botschaft: Jeder kann ein Newman sein, jeden kann es treffen; es geht um strukturelle Gewalt. Auf einer reichlich schattengrauen Bühne (Daniel Roskamp), als wäre eine Ziehharmonika zu einer Art Time Tunnel auseinander geschnitten worden, spielen graue Gestalten, lediglich die Schuhe und Krawatten bringen etwas braune Abwechslung in den Stauballtag der oft lange Schlagschatten werfenden Figuren.

Newman hat sich auf der "richtigen" Seite des Lebens etabliert, ist also kein Jude, doch so klar scheint all das nicht zu sein. Er ist eifrig und zumindest scheinbar geschäftstüchtig, er arbeitet als Personalchef, stellt alle Mitarbeiter, vornehmlich Stenotypistinnen, für ein großes Unternehmen in New York selber ein. Für ihn zählen nicht nur die fachlichen Fähigkeiten, es zählt auch die Optik.

Staunend stolpern durch eine farblose Welt

Das geht so lange gut, so lange Newman auch gut sehen kann, und dann, als er den Durchblick verliert, weil er eben nicht mehr gut sehen kann, ändert sich sein Leben. Er macht Fehler, stellt eine Mitarbeiterin ein, die auf der Chefetage durchfällt. Warum? Sie sieht jüdisch aus, und das schadet dem Image des Unternehmens.

Damit das nicht wieder passiert, wird Newman dazu gedrängt, sich eine Brille zuzulegen. In Hannover sind es dann also die vierfachen Newman, die auch mal den Zeitschriftenhändler Finkelstein, oder einen Arbeitskollegen, eine Freundin oder den ewigen judenfeindlichen Nachbarn spielen. Jetzt gehen sie bebrillt durch das Leben. Und entdecken es neu. Eine naheliegende Metapher, die auch so inszeniert wird. Im Zentrum der Bühne liegt sie plötzlich, die Brille, von Nebel umgeben, dann weicht der Zigarrennebel des Kapitalismus und Klarheit gewinnt die Oberhoheit.

fokus 2 C kerstin schomburgMit neuer Scharfsicht und doch weiterhin ohne Durchblick: zwei der Newmans © Kerstin Schomburg

Alle vier Newmans – David Simon, Kaspar Locher, Sebastian Nakajew und Merle Wasmuth, die handwerklich überzeugend spielen – bewegen sich überglücklich auf der Bühne, fast wie Kinder, und staunen. Über Haare auf den bei allen schlecht sitzenden Anzugjacken (Kostüme Michaela Kratzer), über die Welt in ihren Grautönen, über sich selber. Und dann passiert das Unerhörte. Die Brille lässt Newman(s) aussehen wie einen Juden. Damit wendet sich das Blatt, die eigenen Vorurteile, die Newman hatte, schlagen ihm selber entgegen.

Automatismus des Hasses

Die Geschichte nimmt ihren erwartbaren Gang, Newman wird aus seinem etablierten Wohn- und Arbeits-Umfeld herausgeekelt, eine kleine Liebesszene verendet vor jedem Glück, Mülltonnen werden vor Newman ausgeleert, damit er, und auch das Publikum, nachhaltig verstehen, dass Newman in seiner alten Welt nicht mehr willkommen ist. Dann fliegen schwarze Müllsäcke von allen Seiten auf die Bühne, alte Umzugs-Kartons fliegen hinterher. Gegenwehr ist zwecklos, auch das Draufschlagen hilft nicht. Hass gebiert Hass. Letztlich versinken alle und alles im Müll. Ein Automatismus ist in Gang gesetzt.

Linnenbaum hat sich entschieden, den Ernst der Lage immer wieder ins Absurde zu führen, zur Farce, zum Slapstick, zur Satire, zur Groteske zu entwickeln. Das wirkt durchaus komisch. Aber auch verharmlosend. Schon zu Anfang ist auf dem Bühnenvorhang ein riesiges 'Big Brother is watching you'-Auge zu sehen, das sich grau und groß bewegt. Es taucht beobachtend immer mal wieder am Ende des stark fluchtenden Ziehharmonika-Raumes auf. Mit einem Auge lässt sich nicht räumlich sehen. Alles bleibt eindimensional und plakativ. Das ist auch noch so, als sich die Newmans schon längst von ihren grauen Perückenhelmen, die alle Wirklichkeit von ihnen abhielten, befreit haben. Linnenbaum hat ein Lehrstück auf die Bühne gebracht, dem sie die pädagogische Absicht wie ein Stempel aufgedrückt hat. Das ist unterhaltsam gemacht, an die Nieren geht es aber nicht.

 

Fokus
Nach dem Roman von Arthur Miller. Aus dem amerikanischen Englisch von Doris Brehm in einer Fassung von Laura Linnenbaum und Johanna Vater
Regie: Laura Linnenbaum, Bühne: Daniel Roskamp, Kostüme: Michaela Kratzer, Musik: Christoph Iacono, Dramaturgie: Johanna Vater, Licht: Heiko Wachs.
Mit: David Simon, Kaspar Locher, Sebastian Nakajew, Merle Wasmuth.
Premiere am 13. Mai 2022
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-hannover.de

Kritikenrundschau

Laura Linnenbaum nutze ihre Mittel reichlich und klug, befindet Ronald Meyer-Arlt in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (16.5.2022). Die vier Spieler:innen wirkten, "als seien sie einer Kafka-Welt entsprungen". Das Spiel auf der zunehmend zerklüfteten Bühne gleite "zuweilen ins Groteske zweien ins Poetische, zuweilen ins Körperliche".

Daniel Roskamps Op-Art-Tunnel passe gut, weil er "perspektivisch irritiert", schreibt Jörg Worat in der Celleschen Zeitung (16.5.2022) – passend zur gestörten Wahrnehmung in der Geschichte. Ein kluger Kunstgriff der Regie sei es, "die Figur des Newman auf drei Schauspieler und eine Schauspielerin zu verteilen – so können etwa innere Konflikte deutliche gemacht werden."

Linnenbaum setze vor allem im ersten Teil stark auf das Groteske bis Clownesque, so ein:e nicht genannte:r Autor:in in der Neuen Presse (online 14.5.2022). Nach Gewaltexzess und zynischer Ansprache gebe es aber auch "stille Momente beim Erzählen einer märchenhaftanmutenden, aber letztlich doch griffigen Parabel".

 

Kommentare  
Fokus, Hannover: Zwiespältig
Auch ich empfand die Inszenierung als zwiespältig. Es gibt sehr starke Szenen, aber vieles "packt" nicht. Das wäre nicht schlimm, wenn dadurch besondere Erkenntnisse ausgelöst würden - aber dafür ist auch die Vorlage in ihrer Mischung aus Parabel und Realismus wohl etwas zu schlicht. Im Grunde hat man nach spätestens zwanzig Minuten verstanden, worum es geht und was man "lernen" soll.
Die Schauspieler waren wirklich sehr gut und bekamen auch sehr viel Applaus.
Interessant ist der Schluss: Die Inszenierung endet damit, dass Finkelstein überfallen wird und mit zwei Baseballschlägern vor sein Haus tritt; das wird erzählt. Newman bleibt vorne stehen. Im Roman wird dargestellt, dass Newman und Finkelstein überfallen werden und Newman anschließend zur Polizei geht, wo er auch als Jude angesehen wird ("you people"): N. korrigiert nicht. Dieser Schluss wirft viele Fragen auf. Das hätte ein Ansatz für die Inszenierung sein können.
Wenn ich mich richtig erinnere und meine Uhr nicht wieder kaputt war, endete die Aufführung so gegen 21.00 Uhr, dauerte also wohl nur knapp 90 Minuten. Wurde noch etwas gekürzt?
Fokus, Hannover: Roman fordert stärker heraus
Fokus, Schauspiel Hannover - ein Fokus auf das Ende der Inszenierung

Eine engagierte Inszenierung mit der sehr überzeugenden Idee, Newman von den 4 Schauspielern, die alle sehr trefflich agieren, in wechselnden Konstellationen spielen zu lassen, ein dramatisches Bühnenbild, das insbesondere die Abgründe in der Berufswelt der Angestellten aufscheinen lässt – aber vielleicht noch Luft am Ende – mit dem Ende des Romans.
Im Regietheater ist es legitim, den Textvorlagen mit einer eigenen Lesart zu begegnen und sie zu verändern. Das gilt natürlich insbesondere, wenn ein umfangreicher Roman wie Arthur Millers „Fokus“ – die Regisseurin Laura Linnenbaum bezeichnet ihn als „eine Art Parabel“ – als Textvorlage genommen wird.
Beim Nachdenken über einen solchen Theaterabend kann man die Inszenierung „an sich“ betrachten, wie es Frank G. Kurzhals in erster Linie macht. Seine Charakterisierung der Schlussszene: „Gegenwehr ist zwecklos, auch das Draufschlagen hilft nicht. […] Letztlich versinken alle und alles im Müll“ ist jedoch etwas unterkomplex. Eine Entwicklung der Hauptfigur (der 4 Figuren) wird so negiert.
Die Inszenierung endet damit, dass der Jude Finkelstein, ungemein kraftvoll, aber doch ziellos mit einem Baseballschläger auf Massen von Müll („gänzlich ungetrennt“ würde Hannovers Abfallbetrieb aha monieren) drischt. Newman verweist die Antisemiten, die ihn angreifen, auf Finkelstein: „Geht dorthin“. Er scheint so seine Haut zu retten. Was aber dann passiert oder passieren könnte, wird nicht mehr erzählt.
Man kann aber auch mit dem Roman im Kopf auf diese Inszenierung schauen, was offenbar den „Herforder“ bewegt. Denn der Roman geht an dieser Stelle weiter. Finkelstein UND Newman kämpfen gemeinsam Rücken an Rücken, JEDER mit einem Baseballschläger, erfolgreich gegen die Angreifer. Gegenüber einem Polizisten identifiziert sich Newman als ein Jude – der er nicht ist: „die Finkelsteins und ich“.
Der Herforder fragt, ob dieses Ende nicht ein Ansatz für die Inszenierung hätte sein können.
Ich habe Sympathie für diesen Vorschlag: Als Leser des Romans war ich herausgefordert, fragte mich, warum identifiziert Newman sich als Jude? Empathie? Emotionale Überreaktion, nachdem er zusammengeschlagen wurde? Enttäuschung über seine Frau, die übergelaufen ist? Bloße Dummheit? – Oder doch eine eigene Position, eine Art Widerstand gegen die Zuschreibungen, die an ihn herangetragen werden?
Und warum lässt Miller seinen Roman so enden? Eine Happy End mit Blick auf das Lesepublikum? Ein so „absurdes Märchen“ (Laura Linnenbaum), dass es eigentlich das Lesepublikum irritieren müsste?
Nicht nur ein offenes Ende kann Fragen, Diskussionen, Kontroversen hervorrufen.
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