Neue Maße für das Gewicht der Welt

15. Mai 2022. Der Barock war die Zeit, die auf eine düstere europäische Kriegsepoche folgte. Mit universalistischen Anspruch schuf sie Zusammenhänge von prangendem Leben und Verfallen-Sein. In "Baroque" zelebriert Regisseurin Lies Pauwels nun diese Welterfahrung nach und erschafft am Schauspielhaus Bochum ein barockes Muskelspiel, das es in sich hat.

Von Andreas Wilink

Wunderkammmer und andere Welterfahrung: Lies Pauwels' "Baroque" am Schauspielhaus Bochum © Fred Debrock

14. Mai 2022. Whow! Einfach so, eine ganze Epoche zum Titel erhoben. Slogan, Parole, Kampfruf – auch Klischee. Barocke Sinnenfreude und barockes Zeitlichkeitsdenken. Hinter die Behauptung gibt's kein Zurück. Vor unserem inneren Auge lädt etwas breit aus, ziert, spreizt und kugelt sich, wuchtet, prunkt und umhüllt sich mit Goldglanz. Vom Ende des Dreißigjährigen Krieges an bezeichnet Barock in seiner Bedeutung von 'sonderbar' bis 'überladen' für 150 Jahre eine europäische (Kunst-)Phase.

Die barocke Kunst- oder Wunderkammer war ein sinnstiftender Ort spielerischen Austauschs. Mit Naturalien, Fundstücken und Kuriosa einerseits und von Menschenhand gefertigten kostbaren Objekten hatte sie universalistischen Anspruch und schuf den Zusammenhang von prangendem Leben und Verfallen-Sein an den Tod. Das antike carpe diem und memento mori, römische Tugend und christliche Demut des Mittelalters, die das Diesseits und den Menschen für leer, eitel, nichtig befand, allegorischer Zauber und geronnene Pathosformeln, all dies und mehr spiegelt sich in den herrschaftlichen Kabinetten. Im Schauspielhaus Bochum werden sie durchaus nicht profanisiert, sondern erhalten mit zeittypischer Musik und sakralem Gesang – Bach, Purcell, Mozart – liturgische Weihe.

Barockes Muskelspiel

Auf einem Monumenten-Sockel steht geschrieben 'HOMO'. Die neutrale Bezeichnung spezifiziert sich in der Folge: homo monstrosus, homo melancolicus, homo olympos. Diese Untergattungen könnte man zusammenfassen zu dem von Peter Sloterdijk für unsere Gegenwart entdeckten "homo artista", den auszeichnet, dass er sich, so oder so, in Form bringt und halten muss. Auf der Bühne mit schwarz-weiß marmoriertem Boden, auf der ein ausgestopfter Hirsch staunt und Gian Lorenzo Berninis Statue von Apollo und Daphne ins Auge springt, rollen die Zeiten. Aby Warburg, der Erfinder des Bilderatlas Mnemosyne, sprach von "barocker Muskelrhetorik". Die Regisseurin Lies Pauwels beherrscht diese Disziplin der Rhetorik: der Rede und der Körper. In "Baroque" sind es, neben denen der fünf Ensemblemitglieder, vier besondere weibliche Körper.

Baroque4 Ann Göbel Mercy Dorcas Otieno Jasmin Schafrina v. li. Fred Debrock uElegisches Stilleben und lebendige nature morte mit Ann Göbel, Mercy Dorcas Otieno, Jasmin Schafrina: "Baroque" in Bochum © Fred Debrock  

Vor der Kulisse barocker Welterfahrung – eine raumhohe Vorhang-Draperie lüftet in ihren Falten die Abbildung eines üppigen Stilllebens – und bei elegischer, selten ironisch auf Distanz gehender Grundstimmung zeigen Pauwels und ihre neun Interpret:innen in mehr lose ungebundenen und kursorischen als stringenten Szenen und Situationen die Beschäftigung mit dem eigenen Körper und den Blick der Anderen auf ihn. Ist er schön oder versehrt, dick oder rank und schlank, alt oder jung, weiblich oder männlich und alles dazwischen, untröstlich oder frohgemut, angstvoll, beschämt oder seiner gewiss.

Suche nach perfektem Look

Ann Göbel spricht teilnahmsvoll, aber letztlich höhnisch von oben herab auf eine übergewichtige Person, die vor ihr liegt wie zur Sühne in der Kirche. Fett reimt sich auf Schmerz, Leid und Wut. Sehnsucht nach Berührung und Wunscherfüllungs-Fantasie funktioniert nach anderen Maßeinheiten als denen von Kilo und Zentner. Der perfekte Look und seine Verzerrung, Repräsentanz und ihre Widerstände, darum geht es hier. Kalauernd gesagt: Die Welt ist aus den Fugen. Das schwer an sich tragende Ich und das Gewicht der Welt sind an diesem Abend in Bochum ein Fleisch.

Barouqe1 Jasmin Schafrina Eva Maria Diers Kathrin Brüggemann v. li. uFrauenkörper in Lies Pauwels' "Baroque" © Fred Debrock

Wenn Mercy Dorcas Otieno einen Knochenmann pittoresk auf dem Kopf balanciert, jemand über Vanitas reflektiert, wenn Reifrock, Rüsche, Robe und Narrenkappe auftreten, wenn sich Darsteller:innen dreieckige Tücher um die Köpfe winden, so dass deren Aufdruck von Gesichtern aus Gemälden des 16. / 17. Jahrhundert zu den ihrigen werden, wenn sich gleich gültig der Bogen von Caravaggio zu Nina Simone und den Simpsons spannt, wenn Jing Xiang einen Blut-Report referiert, in dem Vietnam, Drogenkrieg, Dracula, Sissi, Leopold II., Tarantino und die Blutorange eine Referenzgröße bilden, wenn der Karneval der Kulturen bunt blinkt, dann sind – um es mit barocker Text- und Formsprache zu sagen – diese zwei Stunden auf leere Weise gefüllt und etwas eitel.

Innere und äußere Verteidigungslinien

Aber! Wenn es grüne Papageien-Attrappen regnet, ein Haufen Blüten aus einer nature morte auf die Bühne kippt und zusammengekehrt wird, wenn Jiang Xiang das emotional übersteuerte Mozart-Lacrimosa überschreit und später ihre elastischen Glieder in die Folter einer akrobatischen Nummer mit einer Leiter spannt, wenn Otieno ihre (zwar nach Precht klingende) "Wer bin ich"-Philosophie divenhaft vorträgt wie Jessye Norman eine Arie der Dido singt, schauen wir gebannt und berührt zu.

Wenn alles alles bedeutet, bedeutet alles nichts. Das Tabula-rasa-Machen mit dem kulturellen, sozialen, ökonomischen, kommerziellen, politischen, physiologischen Plunder unserer verkorksten Zivilisation ist "too much", wie es in "Baroque" heißt. William Cooper und Ann Göbel verkürzen es zum Ende hin auf die private Verteidigungslinie ("Autismus ist eine Tugend"), die sich ein Protest-Idyll schafft. Doch wenn dann John Lennons "Imagine" gesungen wird und die neun Darsteller:innen wie Verstümmelte nach vorn an den Bühnenrand kriechen, müssen wir da nicht in der Rampe, die sonst das Planquadrat und den Kunstraum abtrennt, die 'wirkliche' Front erkennen?

Baroque
Konzept, Idee, Regie: Lies Pauwels, Bühne, Kostüm: Johanna Trudzinski, Lichtdesign: Wolfgang Macher, Dramaturgie: Felicitas Arnold, Vasco Boenisch:
Mit: Mourad Baaiz, Kathrin Brüggemann, William Cooper, Eva-Maria Diers, Ann Göbel, Karolin Jörig, Mercy Dorcas Otieno, Jasmin Schafrina, Jing Xiang.
Premiere am 14. Mai 2022
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspielhausbochum.de

 

Kritikenrundschau

"Baroque" inszeniere auch eine wütende Aufklärung, welche die Diskriminierung von Mehrgewichtigen in einem gesellschaftlichen Kontext aus Diät- und Kulturindustrie einordne, schreibt Benjamin Trilling in der taz (17.5.2022). Pauwels hätte bereits 2018 im Schauspielhaus Bochum mit "Hamiltonkomplex" bewiesen, dass sie verstehe, körperliche Konventionen zu unterwandern. Ihr "totales Theater" greife die barocke Schaulust auf, um den Blick auf den Anderen zu hinterfragen. So feiere "Baroque" ein "sinnliches Bühnenfest mit allegorischen Effekten, melancholischen Zwischentönen und der Erkenntnis, dass wir angesichts einer Vergänglichkeit und ungewissen Krisenzeiten keine Zeit dafür verschwenden sollten, abweichende Körper zu diskriminieren."

"'Baroque'" ist ein Theaterabend im Zeichen von Diversität und Toleranz, ein Abend gegen die Tyrannei des Body Mass Index", schreibt Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (17.5.22). Das sei aber nicht alles an dem dem Barock gewidmeten Abend: Die Regisseurin Lies Pauwels ziehe "alle verfügbaren Register, um das Publikum im Zweifel eher zu überwältigen, als nur diskret zu bedienen". Die "ästhetische Spannbreite zwischen Händel und Caravaggio, zwischen spiritueller Inbrunst und narrativem Raffinement" werde "in aller Schärfe ausgespielt und ausgenutzt", urteilt der Kritiker.

Eine eigenwillige Performance, die bezaubern, aber auch nerven kann, attestiert Sven Westernströer in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (16.5.2022). Anrührend, aber auch farbenprächtig gehe der Abend über die Bühne. Es gebe allerdings auch immer wieder einigen Leerlauf, "auch wenn Pauwels ihre Aufführung mit sakralem Gesang, mit ausgesucht guten Popsongs und mit barocken Kulissen förmlich zukleistert."

Es gebe viele Gründe, warum die Inszenierung sehenswert sei, so Ronny von Wangenheim in den Ruhr Nachrichten (16.5.2022). Da seien die Darsteller, das Bühnenbild und die Kostüme, die vor dem Hintergrund eines überdimensionalen Stilllebens allerlei barocke Staffage von Statuen über ausgestopfte Tiere bieten. Aber, "das muss gesagt werden: Es ist zu viel. Zu viele Bilder, zu viel Lautstärke, zu viele Ideen, die auf die Bühne gebracht wurden". Fazit: Großer Applaus, aber auch mancher Zuschauer überfordert und erschöpft.

Kommentare  
Baroque, Bochum: Quälend
Oh je, waren das quälend langweilige Stunden! Die tollen Schauspieler:innen und engagierten Laien müssen von der Rampe in den gähnend leeren Saal deklamieren. Wie kann eine Regisseurin am Stadttheater arbeiten und dann so an der Stadt vorbei inszenieren? Wenn das Publikum nicht gemeint ist, bleibt es weg, ist doch klar.
Baroque, Bochum: Thank you!
Vorstellung 1.12.
War super!
Bin aufgeladen mit vielen Bildern (gesehene und dazu gedachte) und vielen Gedanken. Eine tolle Energie auf der Bühne, die mich im Zuschauerraum voll erreicht hat. Danke für vieles, für den liebevoll-nachdenklichen-überbordenden Blick aufs Menschsein - und ja, auch für die Übertitel, die eben nicht reine Übersetzung waren. Ein Geschenk für mich. Mutig bleiben, Bochum! Weiter so!
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