Rein ins Bewusstsein

15. Mai 2022. Relativ selten veröffentlicht der mehrfach ausgezeichnete Dramatiker Wolfram Lotz neue Stücke. Nun kommt sein Tagebuch auf die Bühne. Falk Richter macht aus "Heilige Schrift I" in den Münchner Kammerspielen eine begehbare Installation, durch die Frank-Walter Steinmeier spukt und Peter Handke spuckt.

Von Martin Jost

"Heilige Schrift I" von Wolfram Lotz an den Münchner Kammerspielen © Maurice Korbel

15. Mai 2022. Wo fängt dieses Stück ohne Gong und Vorhang eigentlich an? Mit dem Eintritt durch die uns zugeloste Tür? Nein, denn wir hocken noch im Foyer, als über unsere Kopfhörer eine zwölfminütige Vertonung des Anfangs von "Heilige Schrift I" streamt. Davor hat uns eine Ansage begrüßt. War das der Anfang? Gehörte nicht eigentlich schon die Ausgabe der iPhones mit Kopfhörern gegen Pfand zur Inszenierung? Oder beginnt der Theaterabend noch früher, als wir die Entstehungslegende des Textes zur Kenntnis nehmen: Der Autor Wolfram Lotz zieht 2017 in ein Dorf im Elsass und nimmt sich vor, ein Jahr lang jeden Tag komplett mitzuschreiben – vor allem für sich, nicht unbedingt zur Veröffentlichung bestimmt. Dann löscht er den Text. Ein Teil kann gerettet werden und ist als 900 Seiten dickes Buch erschienen.

Überreste und Tradition

Neben Alltagsticker, Ideenspeicher, Lese- und Medientagebuch ist "Heilige Schrift I" ein Nachdenken über Schreiben und Sprache, schildert Georg Kasch in seiner Rezension. Das Verschriftlichen gebe den Gedanken einen Anschein von Geschliffenheit, der ihnen oft nicht zustehe, findet Lotz. Was im Kopf noch ganz okay klinge, wirke aufgeschrieben lächerlich banal. Die Historiker unterteilen ihre Quellen in Überreste und Tradition. Zufällig erhalten geblieben oder für die Nachwelt bestimmt, was ist "Heilige Schrift I" denn nun? Lotz hat zumindest "die Idee, das hier eventuell doch auch ins Internet zu dingsen irgendwo, wo es vielleicht nicht aufzufinden ist, aber potentiell doch". Naja: oder halt als Hardcover bei S. Fischer.

Nach dem einführenden Hörspiel verteilt sich das Publikum auf mehrere Räume in den Kulissen von Heike Schuppelius. Wir können uns in der Installation frei bewegen. In einem kleinen viereckigen Zimmer laufen auf Fernsehern Tagesschau-Aufmacher und Wetterberichte von 2017, dem Jahr, von dem Wolfram Lotz' Tagebuch handelt. In den anderen Räumen erkennen wir eine Künstlergarderobe, ein kleines Arbeitszimmer, einen Keller, in den sich jemand zum Schreiben an einer kleinen Reiseschreibmaschine zurückgezogen hat.

HeiligeSchrift2 805 Maurice Korbel uWandeln durch Wolfram Lotz' Aufzeichnungen: Martin Weigel, Johanna Eiworth, Edmund Telgenkämper © Maurice Korbel 

Wir betreten ein Wohnzimmer mit niedriger Fachwerk-Decke. Ein luftig bestücktes Regal enthält Bücher, die Lotz in der Vorlage erwähnt. Dazwischen steckt eine vollgeschriebene Moleskine-Kladde, beschriftet: "Christian Löbers Probenzeit-Tagebuch". Hier stehen ein Sofa mit Couchtisch, ein Holztisch mit einigen Stühlen und eine Stereoanlage, auf der sich eine Platte dreht. Wenn man die Lautstärke aufdreht, hört man: Auszüge aus "Heilige Schrift I". Auf dem Klavier liegt anstatt Noten: ein Ausdruck des Manuskripts von Wolfram Lotz. Ein weiterer Manuskriptstapel liegt auf einem alten Schreibtisch. In einer Schreibtischschublade wird gerade ein Handy geladen (Homescreen: ein Waldfoto), in einer anderen liegt ein Pulli. Und in einer dritten ein Strick.

Being Wolfram Lotz

Durch die Räume bewegen sich acht Schauspieler:innen, die alle schwarz gekleidet sind (Kostüme: Andy Besuch) und deren Look auf einem Spektrum liegt von Ringo Starr circa 1978 bis Severus Snape, wie von Alan Rickman in den Harry-Potter-Filmen verkörpert. Die Schauspieler stehen plötzlich neben uns wie ein Freund auf einer WG-Party, der sich nur kurz was zu trinken geholt hat. Sie lesen Lotz aus ihren Moleskine-Kladden vor oder spielen Lotz für alle, die sich gerade zu ihnen setzen wollen. Wenn man sie befragt, improvisieren sie ein Gespräch, mehr oder weniger in der Lotz-Rolle. In dem Film Being John Malkovich krabbelt der Schauspieler John Malkovich (gespielt von John Malkovich) durch ein magisches Portal in sein eigenes Bewusstsein. Dort begegnet er zahlreichen Doppelgängern, die nur noch "Malkovich" faseln. Daran müssen wir denken, als wir die Gedankenwelt von Wolfram Lotz besichtigen und seinen Doppelgängern begegnen.

HeiligeSchrift3 805 Maurice Korbel uDas Maffay-Double besingt den Sommer: Christian Löber © Maurice Korbel

Eine Terrassentür führt hinaus in den "Wald": Das ist der übrige Raum in der Therese-Giehse-Halle. Baumstämme ragen fast bis zur Decke. Aus den Ritzen im schwarzen Bühnenboden quillt Nebel. Betrachten wir die Halle durch ein Tablet-Display, ist sie auf einmal voller Fichten, an denen Baumpilze wachsen. Wir erschrecken über eine Katze, die so groß ist wie ein Dinosaurier und stolpern immer wieder über Text aus "Heilige Schrift I". In Original-ICE-Sitzen können wir Wolfram Lotz' Gedanken über den Klassismus der Deutschen Bahn hören. Und dann werden wir auf einmal gebeten, uns zur Tribüne zu begeben. Es beginnt der dritte und letzte Teil des Abends – eine Performance, bei der wir auf einer harten Bank sitzen und die Räume, die wir eben noch selbst erkundet haben, als Guckkasten sehen. 

"Heilige Schrift I" enthält echte Traumschilderungen, aber auch Fantasien in Traum-Logik. Falk Richter hat für die frontalen Spielszenen Stellen ausgesucht, in denen Peter Maffay, "Julia" Zeh, Frank-Walter Steinmeier und Peter Handke auftreten. Einer von gleich drei Handkes schreitet zur Wasserglaslesung. Er liest sich in Rage, spuckt angekaute Birnen aus Zehs "beschissenem brandenburgischen Biogarten" durch die Gegend, pafft dabei eine Zigarette, nippt am Glas und nestelt am Mikrofon. Maffay singt "Und es war Sommer". Martin Weigel mit weißen Haaren und runder Brille gibt ein verblüffendes Steinmeier-Double.

Der Schluss wird dann noch ganz schön hart

Frei nach Tschechow muss im letzten Akt auch noch der Strick aus der Schreibtischschublade kommen und das Sprecher-Ich den Gedanken anprobieren, sich den Strick zu nehmen. Und obwohl das Ensemble spielfreudig und witzig durch den Text tobt, kann in diesem letzten Teil der Eindruck entstehen, "Heilige Schrift I" wäre eine selbstmitleidige Nabelschau. Jammert der eigentlich die ganze Zeit? Dass wir so ungeduldig werden, mag damit zusammenhängen, dass uns auf der harten Tribüne beide Pobacken einschlafen. So oder so hätte die Textfassung ihren vorletzten Satz beherzigen können: "Muss ja nicht ständig nur geredet werden."

 

Heilige Schrift I 
von Wolfram Lotz 
Uraufführung 
Regie: Falk Richter, Bühne: Heike Schuppelius, Kostüme: Andy Besuch Musik / Hörspiel: Matthias Grübel, Licht: Charlotte Marr, Video: Chris Kondek, Phillip Hohenwarter, Dramaturgie: Tobias Schuster.
Mit: Bernardo Arias Porras, Johanna Eiworth, Bekim Latifi, Christian Löber, Vincent Redetzki, Clara Sindel, Edmund Telgenkämper, Martin Weigel.
Premiere am 14. Mai 2022
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de


Offenlegung: Der Autor ist im Hauptberuf Angestellter der Münchner Volkshochschule GmbH, die mit der Landeshauptstadt München dieselbe Gesellschafterin hat wie die Münchner Kammerspiele.

 

>>> Mehr dazu: Im Rahmen der Video-Gesprächsreihe "Neue Dramatik in zwölf Positionen" spricht Wolfram Lotz ausführlich über sein Werk.

Georg Kasch hat "Heilige Schrift I" von Wolfram Lotz rezensiert.

 

Kritikenrundschau

Michael Laages von Deutschlandfunk Kultur (14.5.2022) macht die Selbstfindung als Autor in einer Familie und in der Fremde als Hauptmotiv aus, das den Text vorantreibe. "Das ist vollkommen unzusammenhängend", mache manchmal viel Spaß, sei manchmal auch ziemlich langweilig. "Es ist aber vor allem immer präsent, der Autor ist in seinem Werk, in seiner Erfindung des Augenblicks extrem präsent."

Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung (15.5.2022) hat die Voraufführung besucht. Er schreibt, Falk Richter inszeniere 'Heilige Schrift', "als wäre da ein bestimmter, zu bestimmter Artikel davor, als wäre es eine Bibel der Poetologie, des Welterklärungswirrwarrs. Und das ist Quatsch." Über die Rauminstallation: "(A)cht Kammerspielschauspieler agieren, als hätten sie nie eine Ausbildung dafür erhalten, sie tönen und raunen und gleich beschleicht einen das Gefühl, Lotz' fabelhaftes Fabulieren wird hier aufgeblasen zu einer romantisierenden Dichternot, so groß, bis der Ballon der Bedeutung platzt."

Am spannendsten an diesem Abend sei "der Mittelteil", denn den könne "sich jeder Zuschauer und jede Zuschauerin selbst gestalten", so Michael Schleicher im Münchner Merkur (16.5.2022). Dem entgegengesetzt sei der dritte Teil des Abends "am ehesten dem traditionellen Guckkasten-Theater" verpflichtet, biete danke der Spieler*innen aber ein "hinreißend komische(s) Finale". Überhaupt: "Obwohl die Produktion technisch einwandfrei dahinschnurrt (...): Nichts davon reicht an die Intensität des Ensembles heran", ist der Kritiker überzeugt.

Das Publikum bekomme "viel zu sehen und zu hören", schreibt Michael Laages für Die Deutsche Bühne (15.5.2022), aber: "kein 'roter Faden' ist in Sicht. Orientierung? Nirgends und nie." Immerzu werde "irgendwas erzählt", aber anstelle eines Zusammenhangs gäbe es vor allem "jede Menge Details". Dennoch sei zu bilanzieren, dass Falk Richter dem Autor "konsequent unordentlich ins Unterholz" folge und das Münchner Ensemble beim Driften durch den "Niemandswald" mit "viel Spaß" an die Sache herangehe. Aber der Rezensent bleibt skeptisch, ob Lotz' Text in Zukunft "noch irgendwo anders hinführen könnte".

Lotz arbeite sich an der bundesdeutschen Litaraturgeschichte ab, mal ironisch, mal hämisch, auch mal überllaunig, schreibt Mathias Hejny in der Abendzeitung München (16.5.2022). Die Verheißung der Kammerspiele, man könne das Leben von Wolfram Lotz betreten sei allerdings erwartungsgemäß reines Marketing. "Was bei der Lektüre einen Sog entwickelt, dem man sich gerne hingibt, gerät bei den für die Inszenierung wie vom Zufallsgenerator montierten textrümmern zunehmend zu störendem Geschräusch."

 

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