Heim|Weh - Thalia Theater Hamburg
Die totale Institution
15. Mai 2022. Bis zu zwölf Millionen Kinder wurden in der Bundesrepublik auf mehrwöchige Kuren geschickt und erlitten dort entsetzliche Qualen. Gernot Grünewald hat aus deren Schicksal am Hamburger Thalia in der Gaußstraße einen erschreckenden Dokumentartheaterabend gemacht: "Heim|Weh". Unser Kritiker ist angefasst.
Von Falk Schreiber
Hamburg, 14. Mai 2022. "Seepferdchen". "Spatzennest". "Haus Sonnenschein". Eine endlose Liste freundlich benamter Erholungsheime wird verlesen, Erholungsheime, die bis in die Neunzigerjahre in Urlaubsgegenden standen, Büsum, Cuxhaven, Pelzerhaken, und das sind nur die Heime in Hamburg und Schleswig-Holstein. Es gab sie in ganz Deutschland, in idyllischer Landschaft, am Meer, in den Bergen: Kinder ab zwei Jahren wurden hier auf sechswöchige Kuren geschickt, weil sie zu dick waren oder zu dünn, weil sie Allergien hatten oder weil sie als "schwierig" galten, geschätzt zwischen drei und zwölf Millionen Kinder, und Viele durchlebten dort die Hölle, wenn man Betroffenen glaubt.
Gernot Grünewalds Dokumentartheaterstück "Heim|Weh" in der Hamburger Thalia-Nebenspielstätte Gaußstraße basiert auf den Recherchen von Anja Röhl, die selbst als Fünf- und Achtjährige auf Kinderkuren geschickt wurde. Röhl publizierte ihre traumatischen Erfahrungen und richtete dann die Website www.verschickungsheime.de ein, auf der weitere Betroffene eigene Berichte veröffentlichten: Dokumente des Grauens, die Grünewald mit Gespür für so wirkungsvolle wie drastische Szenen bebildert.
Architektur wie im Gefängnis
Michael Köpkes Bühne ist ein großer, von allen Seiten einsehbarer Schlafsaal, Waschräume und benachbarte Zimmer werden per Live-Video gezeigt, wobei die Ausstattung ein wenig an die in Schmodder und Trostlosigkeit schwelgenden Horrorinstallationen von Signa erinnert. Runtergekommene Gemeinschaftsräume schaffen eine bedrückende Stimmung, das spielt diese Inszenierung bewusst aus, und dass Jonas Plümkes Videobilder häufig eine kalt beobachtende Draufsichts-Perspektive einnehmen, tut ihren Teil. Gleich zu Beginn wird die Architektur der Heime beschrieben, das kommt nicht von ungefähr: Tatsächlich hat man es hier mit einer "totalen Institution" zu tun, ein Begriff, der von Erving Goffman in Bezug auf Gefängnisse, Klöster oder psychiatrische Anstalten verwendet wurde. Architekturen, die den Menschen zum reinen Objekt machen.
Dabei ist die Austattung gar nicht der eigentlich berührende Aspekt von "Heim|Weh" – wirklich berührend ist die Besetzung. Neben den Thalia-Ensemblemitgliedern Sandra Flubacher, Oliver Mallison und Meryem Öz, die das pädagogisch-medizinische Personal mit schnarrender Stimme (Flubacher), jovialer Brutalität (Mallison) und fataler Hilflosigkeit (Öz) geben, stehen zehn ältere Menschen auf der Bühne, Vetreter:innen der Verschickungskinder-Generation, die hinter larvenhaften Kindermasken endlose Torturen erdulden müssen.
Wer nicht aufisst, wird zum Essen gezwungen, wer ins Bett macht, wird kollektiv gedemütigt, wer nicht gehorcht, wird in die Kammer gesperrt, dazu Sedierungen und Schläge – das fasst einen zweifellos an. Es ist aber gerade wegen der virtuosen Beherrschung der Theatermittel auch Torture Porn.
Individualität austreiben
Was bei dieser beeindruckend bedrückenden Darstellung der totalen Institution Verschickungsheim ein wenig zu kurz kommt, ist die Analyse. Wie konnte es eigentlich sein, dass solche Einrichtungen jahrzehntelang betrieben wurden? Immerhin wird einmal erwähnt, dass Jugendämter sehr wohl Informationen über die Zustände hatten. Tatsächlich macht Grünewald nur Andeutungen: Es wird erwähnt, dass da der pädagogischer Leitfaden Johanna Haarers "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" gewesen sei, ein 1934 erstmals erschienener Ratgeber, der eine Art Blaupause für die nationalsozialistische Erziehung darstellte und nach 1945 mit leichten Änderungen weiterverwendet wurde.
Anscheinend waren die Verschickungsheime tatsächlich eine Fortführung der autoritären Erziehungsmethoden aus der NS-Zeit in die Bundesrepublik. Dazu passen die modernekritischen, stadtfeindlichen Gedanken, die Mallison an einer Stelle formuliert: Die Zivilisation ist das Böse, das "deutsche Kind" soll in idyllischer Umgebung zurück zu seiner natürlichen Bestimmung geführt werden. Ins Volkskollektiv, das keine Individualität zulässt.
Einen weiteren Grund findet man dann allerdings nur noch im Programmzettel: Die Verschickungsheime waren für die Träger, darunter etwa die Diakonie und das Bundesbahnsozialwerk, ein einträgliches Geschäft. Der Therapieerfolg bei unterernährten Kindern etwa sei nach zugelegten Kilos honoriert worden, weswegen immer wieder zwangsweise Verabreichung von appetitanregenden Medikamenten bis hin zu regelrechten Masten vorkamen. Und diese ökonomische Analyse wäre jetzt eigentlich ein Weg, der über die Recherche hinausgeführt hätte, der aus beeindruckend bebilderter Oral History spannendes Dokumentartheater gemacht hätte. Aber so weit geht Grünewald nicht.
Heim|Weh
Kinderkuren in Deutschland. Ein dokumentarischer Theaterabend von Gernot Grünewald
Regie: Gernot Grünewald, Bühne: Michael Köpke, Kostüme: Katharina Arkit, Musik: Daniel Sapir, Video: Jonas Plümke, Live-Kamera: Julia Kossmann, Dramaturgie: Christina Bellingen.
Mit: Sandra Flubacher, Oliver Mallison, Meryem Öz und Marita Beecken, Jürgen Beecken, Ilse Haubenreisser, Peter Hartkopp, Julia Kossmann, Susanne Meyer, Alfons Seidel, Uwe-Carsten Edeler, Michael Wolff, Elli Steffens, Kinderstimmen: Liam Adamsberger, Livia Bellingen, Lina Bloch, Luise Bloch, Kilian Betz, Justus Betz, Jonathan Happe, Daniil Mirimov, Alina Müller.
Premiere am 14. Mai 2022
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause
www.thalia-theater.de
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Trotzdem war es ein sehr gut gemachtes Theaterstück, vielen Dank dafür.
MfG Dietmar Schmitz