Tanz ums Hinkelsteinchen

19. Mai 2022. Wummernder Sound, blendendes Licht: Bei den Wiener Festwochen zeigt das spanische Theaterkollektiv El Conde de Torrefiel eine hochkarätig koproduzierte Uraufführung über Sinneswahrnehmung. Wie viele unserer Realitätserfahrungen sind Fiktionen des Gehirns?

Von Gabi Hift

"Una imagen interior" bei den Wiener Festwochen © Nurith Wagner Strauss

19. Mai 2022. "Längst werden in den Redaktionen Diskussionen darüber geführt, ob man überhaupt noch Verrisse schreiben sollte," schrieb Christine Wahl vor kurzem in ihrem Artikel zum Stand der Theaterkritik. "Wäre es nicht zielführender, Theateraufführungen nur noch dann zu besprechen, wenn man sie für empfehlenswert hält?", heißt es da.

Das letzte heiße Ding

Ich bin mir nicht sicher, ob ich nicht tatsächlich auch so denke. Falls ja, dann sollte ich über "Una imagen interior" bei den Wiener Festwochen lieber nichts sagen. Kein Wort. Allerdings geht es nicht etwa um ein in Ehren gescheitertes kleines Experiment, über das man freundlich schweigen könnte. Die Uraufführung des in Barcelona ansässigen Künstlerkollektivs El Conde de Torrefiel, 2010 von Tanya Beyeler und Pablo Gisbert gegründet, wurde von den Wiener Festwochen als Höhepunkt angekündigt; das Stück zieht anschließend weiter nach Avignon, Paris, Barcelona, Brüssel und Genf. Sagenhafte zehn (!) hochkarätige Festivals haben koproduziert. Es repräsentiert also offenbar genau das, was im Festivalzirkus gerade als das letzte heiße Ding gilt – und deshalb muss ich das nun doch beschreiben.

imagen interior 9505 c Nurith Wagner Strauss uAlles so schön rot hier! © Nurith Wagner Strauss

In den Vorankündigungen war überall zu lesen, das vorige Stück der Gruppe, "La Plaza", habe bei den Wiener Festwochen 2018 "für Furore gesorgt". In Belgien werden sie mit "After the overwhelming success of La Plaza" angekündigt. Bei näherer Recherche ist dann aber von dieser Furore nichts zu finden. Als Kritikerin aber auch als Zuschauerin wird man mit ellenlangen Texten versorgt, in denen ausführlich erklärt wird, was man zu begreifen und zu empfinden hat. Und der Text im Heft der Festwochen ist voller Formulierungen, die danach schreien, direkt in eine Kritik übernommen zu werden.

Menschen im Museum

In der Produktion soll es darum gehen, dass wir die Bilder, die uns unser Gehirn liefert, für die Realität halten, während sie doch ein Konstrukt aus (wenig) Sinneswahrnehmung und vielen vom Gehirn erschaffenen Fiktionen sind. Diese Erkenntnis wird als etwas schockierend Neues präsentiert.

Am Anfang hängt an der Hinterseite der Bühne ein riesiges Gemälde aus Farbspritzern im Stil von Jackson Pollocks Action Painting, aber sehr zahm und in beiden Achsen symmetrisch – bunt und hui-so-wild. Wegen der Abklatschsymmetrie denkt man gleich an die Klekse bei einem Rorschachtest und beginnt brav zu deuten, weil es nichts anderes zu tun gibt. Nach etwa zehn Minuten läuft über der Bühne ein Text in Deutsch und Englisch. Eine Person erzählt in Ich-Form, dass sie im Naturhistorischen Museum steht und sich die raumfüllende Kopie eines paläolithischen Höhlengemäldes anschaut. Man assoziiert: Aha, das Farbkleksbild ist das Höhlengemälde unserer Zeit. Richtig kommen jetzt auch Museumsbesucher herein, die es betrachten. Der Erzählerinnentext listet auf: "Tasche. Frau. Haut. Schwarz. 25. Brille". Das passt alles zur Performerin. Danach kommen noch andere Besucher und Besucherinnen. Der Text kategorisiert sie alle. Denkt weiter über das Höhlengemälde nach.

Irritation mit der Holzhammermethode

Im nächsten Bild sind Hinterwand und Boden mit knallroten Plastikplanen verhängt. (Wirklich gut ist das Licht – wie es die Farben scharf leuchten lässt und dann wieder verändert.) Die Performer:innen, mal acht, mal elf, alle Altersstufen, auch ein Kind ist dabei, stehen herum, gehen auch mal ein bisschen, haben kaum Kontakt untereinander. Dann dasselbe vor weißem Plastik. Dann vor blauem. Das Ganze verströmt den Glamour gewisser billiger Dekorläden in den großen Einkaufstraßen. Aber während dort das Protzige als popkultureller Witz daherkommt, versuchen diese Bilder schick zu sein, aber die Künstlichkeit gleichzeitig als etwas Schreckliches zu kritisieren.

imagen interior 9748 c Nurith Wagner Strauss uDas (blendende) Licht kommt offenbar auch mal von oben © Nurith Wagner Strauss

Dann schieben die Performer:innen auch mal Einkaufswagen. Fischen was aus der Luft. Einmal zieht einer einem anderen was aus dem Mund, das ist der Höhepunkt an Interaktion. Im Text geht es jetzt um Wahrnehmung und Fiktion. Was ist real? Alles extrem simpel und doch wabernd ungenau gedacht.

Zur beabsichtigten existenziellen Verunsicherung der Zuschauer:innen reicht buntes Plastik und banaler Text aber nicht. Die Irritation wird mit der Holzhammermethode erreicht: optisch durch langen, brutalen Beschuss mit Stroboskoplicht. Danach mittels eines Verfolgerscheinwerfers, dessen greller Lichtstrahl einem direkt in die Augen hackt; sobald man hinter den sofort geschlossenen Lidern spürt, dass der Strahl weitergewandert sein muss und sie einen Spalt öffnet: ZACK! Schon hat er einen wieder erwischt und für Minuten zuverlässig geblendet.

Noch nie ein Salzkristall gesehen?

Noch unangenehmer ist der akustische Psychoterror: ein ununterbrochener, dräuender, wummernder Soundteppich. Gaaaaanz tiefe Frequenzen und sehr laut, so dass es einem ordentlich ans Herz geht – und das nicht im metaphorischen Sinn.

Gegen Ende umkreisen die Performer:innen einen goldglitzernden Hinkelstein, der nach oben entschwebt. Dazu gibt es im Text die ultimativen Weisheiten: Wir sind umgeben von quadratischen und kubischen Formen, mit denen wir diszipliniert werden und die pure Fiktion sind. In der Realität – so der Text – gäbe es diese Formen nicht. Offenbar ist der erratische Blick der Person, die da spricht, noch nie auf ein Salzkristall gefallen. Und dann die ultimative, tief erschütternd sein wollende Desillusionierung des naiven Publikums: "Leben hat keine Absicht und kein Ziel". Nu, wos soll ma da sagn?

Das Problem damit ist nur, dass das als Flagship event der Festwochen präsentiert wird und bereits Gelder von zehn Festivals bekommen hat. Das öffnet einen Teufelskreis: Weil sie sich als so bedeutend präsentieren, werden sie eingeladen, und weil sie überall eingeladen sind, verkünden die Festivals, genau das sei das Bedeutende unserer Zeit. Vor der Tür stand schon einer, der in der Wiener freien Szene Theater macht und sich informieren wollte, womit man denn heutzutage bei den Kurator:innen Erfolg hat. Und das Publikum soll natürlich überzeugt werden, dass es sich irrt, wenn es nicht tief beeindruckt ist. Deshalb muss ich nun doch schreiben, was mir gleich beim Ausgang in den Kopf gekommen ist: Das war ein prätentiöses Konglomerat aus Schickimicki-Optik und kruder Küchenphilosophie.

 

Una imagen interior (Ein inneres Bild)
von El Conde de Torrefiel
Konzept, Idee: El Conde de Torrefiel in Zusammenarbeit mit den Performer:innen Regie: Tanya Beyeler, Pablo Gisbert Text: Pablo Gisbert. Bühne, Kostüme: Maria Alejandre, Estel Cristià, Skulpturen: Mireia Donat Melús, Robotik: José Brotons Pla, Licht: Manoly Rubio García, Sounddesign: Rebecca Praga, Uriel Ireland, Kostüme: El Conde de Torrefiel, Setkonstruktion: Los Reyes del Mambo, Isaac Torres, Miguel Pellejero, Szenenwechsel: Miguel Pellejero, Übersetzung: Martin Orti (Deutsch), Nika Blazer (Englisch).
Mit Gloria March, Julian Hackenberg, Mauro Molina, David Mallols, Anaïs Doménech, Paula Dominici, Alice Schneider, Elisabeth Eppsteiner, Amadeus Kronheim, Fauna Mosleh, Emilia Puschacher, Susi Ramberger.
Uraufführung am 18. Mai 2022.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.festwochen.at

www.elcondedetorrefiel.com

 

Kritikenrundschau

Dem Theaterkollektiv seien zwar spektakuläre Bilder gelungen, doch der Text eines eitlen Icherzählers gerate so banal, "dass die 90 Minuten im Museumsquartier zur post-dramatischen Tortur wurden", schreibt ein enttäuschter Norbert Mayer in der Presse (19.5.2022). Er las "Kalendersprüche, garniert mit modischem Plunder von Endzeit-Philosophen". Der Kritiker schließt: "Nicht jede Hirnwindung ergibt Sinn."

Das Spiel mit der Imagination sei "höchst sophistisch", als Theaterabend bleibe es indes "akademisch, redundant und langatmig anzuschauen", findet Margarete Affenzeller im Standard (20.5.2022). "Ein Soundscore unterstützt diese Meditationsübung, kann aber nicht verhindern, dass sie in ihrer Aussage simpel und pathetisch bleibt."

Ähnlich urteilt Julia Schafferhofer in der Kleinen Zeitung (20.5.2022): "Für eine Satire auf den Kunst- und Kulturbetrieb bleiben die 90 Minuten zu wenig bissig, als emotionale Gedankenreise zu blass, als Dekonstruktion von Theorien zu akademisch. Und zu rätselhaft."

 

Kommentare  
Imagen interior, Wiener Festwochen: System überdenken
Das Beispiel zeigt für mich auch, dass das Festivalsystem am Ende ist. Festivals wie die Wiener Festwochen haben es lange als ihre Aufgabe verstanden, Produktionen, die international entstanden und eine gewisse Relevanz entwickelten und eine überregionale Strahlkraft, in die jeweilige Stadt zu holen. Das hat sich dann um Koproduktionen erweitert - und irgendwann ist es gekippt. Momentan zeigen die Festwochen zu viele Produktionen, die ausschließlich für den Festivalzirkus entstehen, nirgendwo mehr länger als für ein paar Vorstellungen gezeigt werden - und wo es den Machern auch egal ist, ob sie vor Ort floppen, übermorgen ist man ohnehin schon in der nächsten Stadt. Das hat keine Nachhaltigkeit, auch keine inhaltliche. Es wäre an der Zeit, dieses System zu überdenken. Mehr Qualität, weniger Quantität. Eine Suche nach Vorstellungen, weltweit, die man für so wichtig hält, sie einzuladen und zu zeigen. Nicht das Herausballern von Koproduktionen, die nirgends funktionieren. Auch das Vorgängerstück von "El Conde" war in Wien ja schon ein Flop.
Um imagen interior, Wien: Zurück zum alten System
Das Festivalsystem wäre eigentlich nicht am Ende - es müsste nur wieder so positioniert werden, dass es funktioniert wie früher. Nämlich: Die besten Aufführungen gastieren international. Also etwa Aufführungen aus Berlin in Paris, aus London in Wien, aus Wien in Mailand usw. Das interessiert auch das Publikum. Wieso man den Irrweg beschreitet, mitunter sehr fragwürdiges Nischentheater, das außer einer Handvoll Kuratoren und Dramaturgen niemanden interessiert und das ohne subventionierten Festivalbetrieb auf lokale Kleinbühnen beschränkt bliebe, europaweit herumzutransportieren und dann auch noch allen Ernstes ein freiwillig zahlendes Publikum erwartet, ist mir ein absolutes Rätsel. Um es ganz klar zu sagen: Das von europäischen Steuerzahlern nahzu unkontrolliert finanzierte System sollte eigentlich nicht den esoterischen Privatinteressen einer überschaubaren Gruppe von Menschen dienen, die ihre jeweiligen Lieblinge fördern und versorgen. Statt dessen müsste man wie früher wieder National Theater, Comédie Française, Burgtheater, Schaubühne, Piccolo Teatro und andere Renommierbühnen international gastieren lassen. Das würde die Leute interessieren. Allerdings wollen die Theater-Kuratoren ja nicht mehr organisieren und kuratieren, sie wollen selbst mitgestalten und formen. Dann weiter so mit prätentiösem Zeug - bis zur Schließung mangels Publikumsinteresses.

In Wien, einst eine Stadt der Theaterverrückten, wo man Schwierigkeiten hatte, Karten für das Burgtheater zu bekommen und Burgschauspieler praktisch Superstars waren, hat übrigens genau dieses Burgtheater ein Drittel seiner Zuschauer verloren (Akademietheater noch mehr), das Volkstheater sogar die Hälfte. Während Leute wieder in Oper und Konzerte strömen, bleiben sie dem Theater dauerhaft fern. Kaum noch jemand kennt die Namen wichtiger Theaterschauspieler, Theaterpremieren sind keine Pflichttermine mehr. Irgendwann wird man sich überlegen müssen, ob Subventionen in der bisherigen Höhe für Nischenveranstaltungen noch gerechtfertigt sind. Auch die fürstlichen Gagen von Intendanten, die mehr verdienen als Regierungschefs, sind inzwischen komplett aus der Zeit gefallen.
Una imagen interior, Wien: Ressentiments
Als Erstes, damit niemand irgendwann irgendetwas „aufdeckt“:
Der Autor des folgenden Textes ist langjähriger Übersetzer der Texte Pablo Gisberts von El Conde de Torrefiel.

In was für einem Zustand ist die Theaterkritik, liebe Frau Hift, wenn Ihr lang eingeleiteter „Verriss“ sich vor allem über die Anzahl der Koproduzenten gerechtfertigt sehen möchte, denn von der Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk, mit dem Sie so wenig anfangen können?
Sie praktizieren hier einen Begründungszusammenhang – und das finde ich in der Tat erschreckend und veranlasst mich zu diesem Kommentar – den 1982 auch eine Berliner Boulevard-Zeitung nutzte, als sie Stimmung machte gegen den Ankauf von Barnett Newmans abstraktem Gemälde „Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue IV“ durch die Berliner Nationalgalerie, weil es in den Augen des Blatts ein Skandal war, dass so viel Geld ausgegeben werde für das „Werk eines Antreicherlehrlings“. Ihr „Stein des Anstoßes“ ist nun ein international agierender „Festivalzirkus“, der gnadenlos das, was er für das „letzte heiße Ding“ hält am Publikum vorbei programmiert. Und dafür viel Geld hinwirft, jedenfalls suggerieren Sie das, aber wissen tun Sie das nicht, oder? Vier der zehn Koproduktionspartner sind übrigens Theater und keine Festivals. Und haben Sie sich schon mal schlau dazu gemacht, wie viele frei und international produzierende Gruppen viele Kooperationspartner haben, unabhängig davon, ob sie etabliert sind oder nicht? Und denken Sie wirklich, dass das nach zwei Jahren Pandemie mit unglaublich vielen Vorstellungs- und Einnahmeverlusten ein Zeichen dafür ist, dass das Geld auf der Straße liegt und dem „letzten heißen Ding“ nur so hinterhergeworfen wird?
Sie fühlen sich von den Lobhudeleien im Pressematerial bevormundet? Ach, Frau Hift, Sie sind doch eine erwachsene Frau!
Natürlich haben Sie zu kritisieren, was Sie zu kritisieren haben. Das ist ja schließlich der Auftrag, den Sie von nachtkritik.de haben. Aber dass Sie journalistisch unsachlich und diffamierend mit einem Produktionshintergrund umgehen, über den Sie ganz offensichtlich nicht besonders viel Kenntnisse besitzen, folgt einem Populismus, den man so leider auch aus dem konservativen bis rechten Lager kennt. Und so gesellen sich dann auch die Kommentator*innen I und II mit dem Ruf nach der guten alten Hochkultur wie’s Brüderchen zum Schwesterchen.
Christine Wahl beschreibt im von Ihnen zitierten Artikel über die Eröffnung von nachtkritik.de vor 15 Jahren zuerst einmal die Idee, die Online-Kritik als die „Einladung zum Gegenverkehr“ zu begreifen, also als ein Angebot zum Diskurs, zur Kommunikation über die Kunst. So etwas kann man auch mit einem Verriss machen. Davon sind Sie, Frau Hift, leider weit entfernt. Im Gegenteil, Sie produzieren Ressentiments und Diffamierungen, in einer Art und Weise wie sie auch häufig aus dem rechten Lager zu vernehmen sind. Und das ist, entschuldigen Sie, in meinen Augen erbärmlich.
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