Das große Irgendwie

von Willibald Spatz

München, 29. November 2008. Irgendwie müsste man was tun, irgendwie läuft vieles falsch. Aber irgendwie überrollt einen auch ständig das Leben und zwingt einen in die Knie. Der Autor Philipp Löhle ist dreißig und damit in einem Alter, in dem man einerseits seine Ideale noch kennt, andererseits aber einige Kompromisse eingegangen ist. Das ist eigentlich ein paradoxer Zustand, in dem sich seine Generation da befindet.

Als Dramatiker weiß er da einen Ausweg. Er treibt seine Stücke und die Figuren darin in die Groteske. Er übertreibt es dabei aber nicht, so dass man immer noch ein bisschen das Gefühl haben kann, diese Menschen drinnen im Stück sind vielleicht nur leicht abgewandelte Bilder von realen Personen da draußen.

Die aufrüttelnden Aktionen von einst

In "Lilly Link oder Schwere Zeiten für die Rev...", wo die Revolution noch nicht einmal im Titel vollendet wird, gibt es zum Beispiel eine Frau, die Anne heißt und heute eine Boutique besitzt, früher, vor zehn Jahren, jedoch mit Freunden verrückte, die Gesellschaft aufrüttelnde Aktionen durchgeführt hat. Zum Beispiel hat sie mit den andern Parfüm durch die U-Bahn-Belüftung gejagt, damit die Leute sich endlich ihres Geruchssinns bewusst werden. Jetzt kann sie sich das nicht mehr erlauben, jetzt trägt sie einmal wöchentlich Frösche über die Straße, um sie vorm Überfahren zu retten und ihrem Gewissen einzureden, dass sie nicht alles aufgegeben hat, was einst zählte. So jemand ist möglich und im Stück kommt diese Frau auch gar nicht so schlecht weg.

Im Münchner Volkstheater kam die "Lilly" jetzt auf die Bühne, und der Regisseur Philipp Jeschek hat das Groteske der Textvorlage gern aufgenommen und noch ergänzt. Da gibt es unter anderem zwei an sich schon durchgeknallte Männer vom Amt, die dürfen jedes Mal, wenn sie gemeinsam in Aktion treten "Wir sind die zwei vom Amt" plärren. Das Bühnenbild, vor dem sich alles abspielt, ist ein abgerundetes Fenster, das sich gelegentlich öffnet und einen Blick in Lillys braves Zuhause im Schwäbischen und ihre Eltern dort freigibt.

Mehr Witz als der Text

Das sind nur knappe Zwischensequenzen. Flott geht es weiter, alle Schauspieler spielen zwei, drei Rollen, während der Perkussionist Karsten Helmbold die zahlreichen Gesangseinlagen der Darsteller wirkungsvoll unterlegt. Der Abend hat mehr Tempo und Witz als der Text selbst. Noch mehr aufzudrehen schadet zumindest beim Anschauen nicht, man kann sich das Draufgesetzte im Kopf wieder abziehen und dann wieder den eigenen Nachbarn da vorne erkennen, wenn man will.

Lilly selbst – sie wird von Barbara Romaner trotzig melancholisch gespielt – ist hängen geblieben in den alten Zeiten und verachtet die ehemaligen Mitstreiter für ihren Verrat. Ihr Freund, ein Bastler, hat sich selbst entheddernde Kopfhörerkabel erfunden und verlässt sie Richtung Amerika, wo er hofft, das große Geschäft zu machen. Lilly bleibt zurück, weil sie ihren Bruder, der in der Psychiatrie vor sich hin vegetiert, nicht im Stich lassen will. Der ist verrückt geworden bei ihrer letzten Aktion, seitdem steht alles still in seinem Kopf.

Lilly also bleibt bei ihm und macht nun zwei Stunden lang den anderen Vorwürfe, techtelmechtelt mit einem Zeitungspraktikanten, bekommt Zimmer ihrer Wohnung verplombt, weil ihr allein als Arbeitslosengeldempfängerin nicht mehr so viel Wohnraum zusteht. Kurz: im Wesentlichen passiert nichts, was sie oder die Handlung voran brächte, was nicht stört, weil es einen schönen Eindruck vermittelt von dem, was in jemandem vorgeht, der mit sich, seiner Umwelt und dem gegenseitigen Verhältnis nicht zurecht kommt.

Wir hätten es gern anders

Damit doch noch irgendwie was los ist, gibt es da noch einen Selbstmörder, dem sie alle mal das Leben retten, indem sie ihn zum Essen einladen, die Eltern von Lilly, die im eigenen Haus beinahe krepieren, da ein Lack auf den Küchenmöbeln sie krank macht und eine Verschwörungstheorie mit Radkappen als geheimes Kommunikationsmittel unter Verbrechern.

Irgendwie kreuzen sich die Wege all dieser Menschen und praktisch jedes Thema, das irgendwo bis dahin angerissen wurde, bekommt seine Aufösung. Und das wiederum ärgert einen beim Anschauen, weil man sich denkt, dass sich der Autor da etwas einfach macht, sich und seinen schlau entworfenen Figuren, von denen jeder eine Lösung formuliert bekommt.

Die klingt dann zum Beispiel so aus dem Mund der Boutiquenbetreiberin: "Das ist doch alles zu lange her und wir müssen doch sehen, wo wir bleiben. Du solltest das auch tun. Geh woanders hin. In eine größere Stadt. Da kriegst du vielleicht wenigstens ein Praktikum. Das ist doch alles überholt. Lilly. Die Welt ist so und du musst dich in ihr einrichten." Das müssen wir auch und doch hätten wir es gern anders: zum Verzweifeln, aber schön.

 

Lilly Link oder Schwere Zeiten für die Rev...
von Philipp Löhle
Regie: Philipp Jescheck, Bühne und Kostüme: Hannah Albrecht, Musik: Karsten Helmbold.
Mit: Jean-Luc Bubert, Tobias van Dieken, Barbara Romaner, Andreas Tobias, Sophie Wendt.

www.muenchner-volkstheater.de


Mehr zu Philipp Löhle? Lilly Link oder Schwere Zeiten für die Rev.... wurde als dritter Teil von Löhles Trilogie der Träumer am 7. November 2008 in Heidelberg uraufgeführt. Teil eins, Löhles Drama Genannt Gospodin, im Oktober 2007 von Kristo Šagor in Bochum uraufgeführt, war 2008 im Rennen um den Mühlheimer Dramatikerpreis.

 

Kritikenrundschau

Immer gebe es ein paar junge Autoren, "die genau jene Stücke schreiben, in denen die heiße Liebe zur Systemveränderung und die Unmöglichkeit einer solchen gleichermaßen diskutiert werden", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (1.12.2008). Einer "der fleißigsten Don Quichottes der aktuellen dramatischen Literatur" sei Philipp Löhle, dessen am Münchner Volkstheater nachgespieltes Stück "Lilly Link" jedoch nicht über "den Status einer theatralen Eintagsfliege" hinaus komme. Zwar hätte der Stoff "das Zeug zum Satyrspiel", Löhle aber liefere eher "ein Themenangebot als einen dramatischen Text, und wäre Philipp Jescheck, Hausregisseur am Volkstheater, nicht so ergriffen von lauter Achtung vor dem Autor, er hätte dessen Aperçus entrümpelt und auf Vordermann gebracht, statt zart zu musikalisieren ... und sich im Ungefähren der Vorlage zu verlieren". Immerhin könnten die fünf Darsteller "durch ihr biographisches Wissen den Figuren mehr Leben mitgeben als deren Erfinder".

Als "bunte Farce mit Knalleffekten" bringe Regisseur Philipp Jescheck "Lilly Link" auf die Bühne, schreibt Alexander Altmann in der tz München (1.12.2008). Jescheck zeige "mit urkomischen Schauspielern, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt: gesellschaftskritischer Boulevard vom Feinsten".

Philipp Löhles "pointiert geschrieben Szenen" seien "Puzzleteile einer idealistischen Jugendzeit", meint Christine Diller im Münchner Merkur (1.12.2008) über "Lilly Link". In Jeschecks Inszenierung erweise sich das Stück als "urkomisches Spielmaterial für bierernste Themen". Dem Regisseur gelängen "fantastisch schräge Bilder", wenn auch einige Einfälle "bemüht ... oder verwirrend" daherkämen.

Kommentare  
Vermisse Löhle
In Ihrer Vorschau auf Januar 2009 vermisse ich die Uraufführung von Philipp Löhles neuem Stück "Morgen ist auch noch ein Tag" am 23.01. in Baden-Baden...
Löhle: nicht auf jede Uraufführung aufspringen
Lieber Hartmut Becher, wie heißt es in der obigen Kritik: Löhle, dessen Drama nicht über "den Status einer theatralen Eintagsfliege" hinaus komme etc. Vielleicht sollte sich der junge Autor Löhle tatsächlich erst einmal etwas sammeln, Zeit und Arbeit investieren und dann endlich mit Qualitätsstücken aufwarten. Mehr als Ansätze hat er bisher nicht gezeigt. Da muss man nun wirklich nicht auf jede Uraufführung anspringen. Meine Meinung.
Löhle: nicht nur Ansätze
Liebe(r) Time will tell, Entschuldigung: Philipp Löhles Stück GENANNT GOSPODIN wurde dieses Jahr von einem erlauchten Auswahlgremium, dem einige der nahmhaftesten Kritiker des deutschen Sprachraums angehören (Till Briegleb, Christine Dössel, Wolfgang Kralicek, Peter Michalzik und Franz Wille), als eines der acht besten neuen Stücke der Saison zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen. Die Einladung wäre sicherlich nicht passiert, wenn das Gremium in dem Stück nur "Ansätze" gefunden hätte. Dass nicht alle danach geschriebenen Stücke zum Erlesensten gehören, ist Autorenschicksal: Auch Anja Hilling hat ja nach ihrem Erstlingserfolg MEIN JUNGES IDIOTISCHES HERZ (mit Einladung nach Mülheim) nicht NUR "Glanz-Stücke" geschrieben, und trotzdem ist de Kritikerschar bei ihren Uraufführungen stets vollzählig vertreten. - Was LILLY LINK betrifft, so gehen die Meinungen ja doch ein bisschen auseinander, denn Löhle hat damit ja immerhin den Autorenpreis des diesjährigen Heidelberger Stückemarkts gewonnen! Bei manchen Kritikern habe ich den Verdacht, dass sie die Stücktexte gar nicht gelesen haben, bevor sie ins Theater gehen. Dies wäre aber zumindest bei Uraufführungen ihre verdammte Pflicht, oder nicht?
Löhle: Zeit für einen wirklich vollendeten Text
Lieber Hartmut Becher, ich stimme Ihnen in beinahe jedem Punkt zu. Ja, natürlich sollten Kritiker den Uraufführungstext vorab lesen (Tun sie das nicht? Hegen Sie einen Verdacht gegen die Versammlung in der Kritikenumschau?). "Genannt Gospodin" mag seine Qualitäten haben. In Mülheim fiel es allerdings durch. Nicht alle Stücke, die dort zu sehen sind, gehören tatsächlich zum Erlesensten. Manchmal geht es anscheinend auch darum, ein frisches Talent vorzustellen. Dass Löhle ein eben solches ist, möchte ich nicht bestreiten. Aber es ist an der Zeit, den Talentstatus hinter sich zu lassen. Dafür sollte mal etwas mehr Ruhe einkehren und der Autor sich selbst etwas mehr Zeit für einen wirklich vollendeten Text gönnen. Diese Hatz auf die wievielte Uraufführung binnen weniger Monate scheint mir dann doch etwas verdächtig. Ich fürchte, hier verschleißt sich jemand, noch ehe er überhaupt auf Touren kam. Wenn das Stück für Baden-Baden allerdings wirklich ein Treffer wird, kann Nachtkritik ja immer noch über die Zweit- und Drittaufführungen berichten. "Morgen ist auch noch ein Tag".
Löhle: warten wir die Uraufführung ab
Lieber Time will tell, Sie haben so viel Insiderwissen, dass ich vermute, dass sich hinter Ihrem (eigens für die Korrespondenz gewählten?) Pseudonym ein Mitglied der Nachtkritik-Redaktion verbirgt. Nun gut, warten wir also die Uraufführung ab.
Das Stück haben Sie ja sicher gelesen. Aber wie erfahren Sie überhaupt von der Qualität der Inszenierung? Durch andere Besprechungen? Dann will ich mal hoffen, dass es ein paar Kritiker gibt, die nicht so denken wie Sie und zur UA gehen.
Damit kein falscher Eindruck entsteht: Ich bin ein Fan von "Nachtkritik" und habe gerade mit Genuss Brigitta Niederhausers Kritik zur deutschsprachigen Erstaufführung von Lola Arias' REVOLVERTRAUM gelesen. Schade, dass die Regie nicht auf Augenhöhe mit diesem grandiosen Text war!
Aus dem fernen Buenos Aires wünsche ich Ihnen und der Redaktion ein glückliches und erfolgreiches Neues Jahr!


(vielen dank! in der regel schreiben wir unsere kommentare übrigens unter klarnamen.. die red.)
Löhle: nun doch
Sorry, offensichtlich lag ich mit meiner Vermutung falsch. Und mit Freude stelle ich fest, dass nun doch ein Berichterstatter der "Nachtkritik" nach Baden-Baden fährt.
Noch eine Bemerkung zum obigen Mülheim-Statement von Time will tell: "Nicht alle Stücke, die dort zu sehen sind, gehören tatsächlich zum Erlesensten. Manchmal geht es anscheinend auch darum, ein frisches Talent vorzustellen." Das Mülheimer Auswahlgremium wäre sicher "not amused" über dieses Feststellung: Die Möglichkeit des Irrtums wird es bestimmt einräumen (es gibt dort ja auch nicht nur einstimmige Voten), aber, dass die Auswahl "frischer" Talente (erinnert mich an den "Frischfleisch"-Vorwurf aus dem Kreis der Battle-Autoren!) Vorrang vor der Qualität eines Stücks hätte, kann ich mir nun wirklich nicht vorstellen, denn es widerspräche der Satzung der Mülheimer Theatertage, die von dem Gremium genauestens eingehalten wird. Darüber wachen nicht nur die Gremiumsmitglieder selbst, sondern auch die Festivalleitung.
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