Richtung Katastrophe

20. Mai 2022. Business-Menschen, die in einem Hotel feststecken, während draußen die Welt im Chaos versinkt: Der japanische Autor und Regisseur Toshiki Okada lässt seine Protagonist:innen über den Zustand dieses Planeten parlieren. Hätte doch eine:r früher den Ausstieg aus der Theorie gewagt, findet Klimajournalistin Sara Schurmann, die sich den Abend für uns beim Theatertreffen angesehen hat. 

Von Sara Schurmann

"Doughnuts" von Toshiki Okada am Thalia Theater Hamburg © Fabian Hammerl

20. Mai 2022. Vielbeschäftigte Vielflieger, wie es eine aus der Gruppe irgendwann selbst sagt, warten in einer Hotellobby auf ein Taxi, das sie zu einer Konferenz bringen soll. Ihre Gespräche kreisen um Belangloses, den hausgemachten Joghurt beim Frühstück, die Trends und Enttäuschungen an eben solchen Buffets, die Zusammensetzung des Duftes im Fahrstuhl, und ob das Arrangement der Aufzüge ein Gefühl von Exklusivität oder von Sicherheit erzeugen. Oder beides.

Ein Bär im Supermarkt

Sie reden über einen Bären, der in einen Supermarkt eingedrungen ist – in das Territorium des Menschen –, was sie live über ihre grell leuchtenden Smartphone verfolgen können, und dass das jetzt ja immer häufiger vorkomme, dass wilde Tiere sich in den Lebensraum des Menschen drängten. Sie reden darüber, ob es wirtschaftlich und praktikabel wäre, den Bären nicht zu erschießen, sondern nur zu betäuben, aber wie bitte soll man ihn dann wieder in die Berge bugsieren? Sie reden darüber, während sich die Menschen in der echten Welt so lange in den Lebensraum von Wildtieren gedrängt haben, dass im Publikum nun alle mit FFP2-Maske sitzen müssen. Darüber, dass die Menschen ihre ungebremste Expansion endlich stoppen müssen, um weitere Pandemien oder Supermarktbesuche von Bären zu verhindern, redet niemand.

Sie reden und reden, auch noch, als sich immer deutlicher abzeichnet, dass kein Taxi erscheinen wird, weder an der eigentlichen Haltestelle vor dem Hotel, noch eines der extra herbeigerufenen. Grund scheint ein ominöser, dichter Nebel zu sein, der selbst die Sicht aus dem 22. Stock verdeckt. Aber warum genau bisher kein Taxi kommt, sei ja auch egal, solange ihnen jetzt die Frage beantwortet werde, ob denn nun eins komme – oder nicht.

Doughnuts3 Fabian Hammerl uVielbeschäftigte in der Hotellobby: Sie reden und reden... © Fabian Hammerl

Vielleicht könne man ja den Bus nehmen, schlägt Frau Sazazuka (Toini Ruhnke) vor, eine der Konferenzteilnehmer:innen. Sie ist wenig später aber froh, dass sie einfach weitergeredet und abgewartet haben, anstatt das zu probieren. Denn der Nebel hat für eine oder gar mehrere Massenkarambolagen gesorgt, so genau könne man das nicht sagen. Und da könnten sie sonst ja jetzt mittendrin stecken.

Die Welt wird immer unvorhersehbarer

Worum es bei der Konferenz denn gehe, will der Hotelangestellte Herr Kimidori (Johannes Hegemann) irgendwann wissen. Einfach sei die Antwort nicht, da sind sich die Teilnehmer:innen einig. Denn die Konferenz drehe sich darum, dass sich die Welt vielen Veränderungen gegenüber sehe und immer unvorhersehbarer werde. Auf der Konferenz sammele man nun neue Perspektiven, um effektiver reagieren zu können.

"So ziellos wie hier der vermeintlich beklagenswerte Zustand der Welt umkreist wird, könnte es sich fast um eine zeitgenössische Fortsetzung von Samuel Becketts 'Warten auf Godot' handeln“, heißt es in einer Rezension von "Doughnuts" hier auf nachtkritik.de. "Letztlich ist sein Herr Funabori der Wagemutige unter den Expert:innen im Nebel. Er traut sich zu sagen, dass er die reale Welt bei gelegentlichen Begegnungen als gar nicht so bedrohlich empfunden habe, wie es die Fachleute gemeinhin annehmen. Alles halb so wild also? Wenn da dann aber nicht mal irgendwann das Budget für die Konferenzen zusammengestrichen wird!" 

Doughnuts1 Fabian Hammerl uDie Konferenzteilnehmer:innen hängen im Hotel fest, während die Stadt im Nebel versinkt © Fabian Hammerl

Wer sich des Planetary Emergency bewusst ist, in dem wir gerade Richtung Katastrophe schlafwandeln, wünscht sich beim Zuschauen, irgendjemand hätte sich irgendwann irgendwo festgeklebt, um die Protagonist:innen aus ihrer Bräsigkeit zu reißen. Oder einer von ihnen hätte früher den Ausstieg aus der Theorie gewagt und zumindest mal eine Konferenz geschwänzt, wenigstens an einem Freitag.

Wozu weiterreden?

Angst um ihr Budget müssen sie nicht haben, weil die Welt weniger gefährlich ist als prognostiziert, sondern weil all die Prognosen und das Reden die Krisen nicht davon abgehalten haben, immer weiter zu eskalieren. Zunehmend gerate man in Situationen, in denen man an seine Grenzen stoße, stellt Herr Funabori (André Szymanski) fest – an absolute Grenzen. Nicht an technische oder budgetäre. Wozu also weiterreden, könnte man sich fragen.

Beim Einlass wird in Erfahrung gebracht, ob man mit dem Fahrrad oder dem Flugzeug angereist sei – das Berliner Theatertreffen hat Interesse an seiner eigenen Klimabilanz. Zum Schluss gibt es eine Ehrung: Wie alle Inszenierungen der Zehnerauswahl erhalten Regisseur Toshiki Okada und sein Team einen Pokal, der eingepflanzt werden soll, geformt aus Erde, voller Samen. An einem Ort, der dem Team wichtig sei, vielleicht in Hamburg, oder Japan, auf dass ein Wald daraus entstehe. Im Publikum applaudieren Politiker:innen, Theatermenschen und langgediente Kritiker:innen und parlieren im Anschluss bei Sekt aufs Haus über die Parabel. Draußen, bei gefühlt 26 Grad um 21.30h, an einem Abend Mitte Mai.

 

Sara Schurmann DSCF2720 c Julia Steinigeweg kleinSara Schurmann arbeitet seit mehr als zehn Jahren als Journalistin, vor allem als Redaktionsleiterin, Textchefin und Beraterin. Sie war unter anderem tätig für den Tagesspiegel, Gruner+Jahr, Vice, Zeit Online, funk und den SWR. 2020 schrieb sie einen offenen Brief an ihre Kolleg:innen, um eine Diskussion über die Klima-Berichterstattung anzustoßen; im Sommer 2021 gründetet sie das Netzwerk Klimajournalismus Deutschland mit. 2022 erschien ihr erstes Buch, Klartext Klima

 

In der Reihe Das Theatertreffen 2022 von außen betrachtet hat nachtkritik.de theaterferne Expert:innen gebeten, die Berliner Festivalgastspiele zu begutachten. Aus frei gewähltem Blickwinkel, ohne formale oder inhaltliche Vorgaben. Zu fast allen Einladungen finden sich auch Nachtkritiken, die bereits zur Premiere der Produktionen entstanden. 

Die Nachtkritik zur Premiere von Doughnuts am Hamburger Thalia Theater gibt es hier.

Zur Festivalübersicht des Berliner Theatertreffens 2022 geht es hier entlang.

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