Forrest Gump wird Kommunist

26. Mai 2022. Was für ein Leben, was für ein Stoff! Die Geschichte des Dichters Ernst Ottwalt, neben Bert Brecht und Slatan Dudow einer der Autoren des berühmten proletarischen Films "Kuhle Wampe", strotzt vor historischen Ereignissen und Orten. Regisseurin Johanna Schall inszeniert an seiner Biografie entlang einen "Totentanz" der Ideologien.

Von Matthias Schmidt

Vorwärts! Wir sind vergessen. von Johanna Schall am Neuen Theater Halle © Falk Wenzel

25. Mai 2022. Jetzt also auch Halle. Eine Premiere, die Uraufführung eines Stückes von Johanna Schall, inszeniert von ihr selbst – nur halbvoll! Eigentlich muss man halbleer sagen, denn trotz der vielen theaternahen Zuschauer und Zuschauerinnen auf der Sitztribüne im "neuen theater" reicht es am Ende nicht einmal zu wirklich stürmischem Premierenapplaus. Der Grund dafür allerdings ist das, was auf der Bühne zu erleben war. Statt einer Handlung - eine Art gespielte Geschichts-Vorlesung. Statt Dialogen - im Wesentlichen Aufgesagtes. In Ermangelung eines Schauspiels - viel Kulissenschieberei.

Gassenhauer oder Gruselschauer?

Irgendwann kurz vor der Pause, nach langen, zähen Diskursen und Zitaten zur deutschen Geschichte des frühen 20.Jahrhunderts, ist es dann endlich einmal zu hören: das Lied, das dem Abend seinen Titel gibt. Martin Reik, der live auf der Bühne Musik macht, der Klänge erzeugt, Samples einspielt und ein Zentrum hätte sein können, ein Lichtblick, aber stattdessen weitgehend im Halbdunkel abgestellt ist, stimmt es in einer elektronisch instrumentalisierten Fassung an. Das ist bewegend, das ist originell. Das lässt Fragen zu: geht das noch, oder ist das nur noch ein Stück Gestern mit Gassenhauer-Qualitäten? Gibt es einen modernen Zugriff auf die Geschichte der Arbeiterbewegung? Gleich danach erklingt es dann auch im Original. Ernst Busch singt Brecht / Eisler: "Vorwärts, und nicht vergessen, die Solidarität!" Das hätte sein können, worum es in dem "ideologischen Totentanz" geht: die kommunistische Utopie zwischen Gänsehaut und Gruselschauer. Aber da war es längst zu spät, um noch Spannung zu erzeugen. Da war der Abend mit einer aneinandergereihten Flut aus historischen Informationen und Zahlen und Zitaten längst zu einem dieser quälend langen Vorträge in Museen und Gedenkstätten geworden. Irgendwie ganz interessant, ganz sicher sehr wichtig, ab und an sogar kurz unterhaltsam, aber letztlich einschläfernd.

Vorwaerts1 Falk WenzelAuf den Spuren der kommunistischen Utopie: Nicoline Schubert, Florian Krannich, Hagen Ritschel, Alexander Pensel © Falk Wenzel

Dabei ist die Idee zum Stück eigentlich schlagend: ein Mann wird porträtiert, ein Mann, der einen Bezug zu Halle hat und der beinahe wie Forrest Gump an erstaunlich vielen historischen Ereignissen beteiligt und an Schauplätzen anwesend war. Ernst Ottwalt, neben Brecht und Slatan Dudow einer der Autoren des Filmes Kuhle Wampe. Mit ihm den ausbrechenden 1. Weltkrieg zu erleben, das Ende des Kaiserreiches, die Novemberrevolution, den Kapp-Putsch, die Straßenkämpfe von Kommunisten und Faschisten, die Machtübernahme der Nazis, den kulturellen Überlebenskampf der deutschen Exilanten in Prag, die Strukturen der Kommunistischen Internationale, schließlich Stalins brutale Hand in Moskau, der mehr Kommunisten zum Opfer fallen als den Faschisten. Was für ein Stoff! An einer Biografie entlang erzählt, ein Traum. Bei Johanna Schall hat man den Eindruck, ihr gehe es gar nicht so sehr um die Biografie dieses "vergessenen Dichters", sondern sie nutzt ihn nur, um an die ihn umgebenden Ideologien zu erinnern. Auch das wäre natürlich ehrenwert, es geht nur nicht auf.

Am Ende wird mitgesummt

Erzählt wird – abgesehen von einer schmalen Rahmenhandlung um Ottwalts Tod in der Sowjetunion – chronologisch. Betonung auf "erzählt". Gespielt wird wenig. Die Zeiten kommen und gehen und mit ihnen wechseln die Helme, die Jacken, die Staatssymbole. Ab und an klingen Lieder an, dem Karl Liebknecht haben wir’s geschworen…, Mit uns zieht die neue Zeit – Musik, die geblieben ist, oft losgelöst von ihren ideologischen Zielen. Das sind, wie gesagt, die guten Momente, mit einem Martin Reik, der andeutet, dass er leichterhand ein großartiger Master of Ceremony hätte sein können, aber Johanna Schall hält sie kurz, als habe sie Angst davor, ins Revuehafte abzudriften. Am Ende summen die Leute noch mit... 

Vorwaerts2 Falk WenzelDramatik – und Angst vor der Revue? Hagen Ritschel, Nicoline Schubert, Sithembile Menck, Nils Thorben Bartling, Alexander Pensel, Florian Krannich © Falk Wenzel

Ernst Ottwalts Geschichte wird erst spät, als er seine Frau Waltraud kennengelernt und dadurch eine Ansprechpartnerin an seiner Seite hat, zu einem wirklich erkennbaren Strang. Zuvor kommt ihm das Stück nicht nah genug, da wirkt er wie ein in die Zeiten geworfenes Teilchen, immer mal wieder aufgewirbelt, überfordert alle Male. Man lernt ihn nicht kennen, er bleibt ein Holzschnitt. Er treibt die Geschichte nicht voran, sondern taucht nur ab und an in ihr auf. Doch ohne ihn als Protagonisten wird es schwer. "Vorwärts! Wir sind vergessen." wirkt in weiten Teilen wie ein Stück, das keinen Raum braucht. Man kann sich das als Hörspiel vorstellen. Vieles, was auf der Bühne mit ihren zwei fahrbaren Treppen-Traversen gemacht wird, wirkt unbeholfen. Treppe hoch, Treppe runter, klettern und springen, schieben und ziehen - Bewegung um der Bewegung willen.

Der Mensch ist nicht gut

"Ich habe nicht verstanden, was sie uns damit sagen wollte", flüstert beim Verlassen des Theaters ein Herr seiner Frau ins Ohr. Am Ende deutet Johanna Schall immerhin etwas an: sinngemäß heißt es, der Mensch sei eben nicht gut. Oha. Lag es nur an den Menschen – das Denunzieren, das Bevormunden, das Morden – und nicht an der kommunistischen Ideologie selbst? Bitte nicht, bitte lass es wenigstens nicht diese Dialektik, sondern wirklich einen "Totentanz" auf diese Utopie und gewesen sein. Vielleicht gibt es ja eine andere. Wäre übrigens auch ein schönes Thema gewesen.

 

Vorwärts! Wir sind vergessen.
Ein ideologischer Totentanz
Ein Stück von Johanna Schall unter Verwendung historischer Dokumente und zeitgenössischer Literatur
Regie: Johanna Schall, Bühne: Nicolaus Johannes Heyse, Kostüm: Jenny Schall, Musik: Martin Reik, Dramaturgie: Cornelia Oehme.
Mit: Hagen Ritschel. Alexander Pensel. Nicoline Schubert. Florian Krannich. Sithembile Menck. Nils Bartling. Kinga Schmidt. Martin Reik.
Premiere am 25. Mai 2022
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

https://buehnen-halle.de

  

Kritikenrundschau

Der Abend sei "nicht nur Geschichtsstunde", berichtet Michael Laages in der Sendung "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (25.5.2022). Johanna Schall sei bestrebt, Bewegungen, die Ernst Ottwalt in seinem Leben mache, in "kleinen szenischen Versuchen abzubilden". Die Inszenierung habe daher keinen "großen dramaturgischen Zug", sie versammle aber sehr viele Details aus der Biografie des Protagonisten. Man müsse "historisch auf dem Kieker bleiben", um allen Windungen und Wendungen zu folgen. Der erste Teil des Abends sei dadurch sehr interessant und abwechslungsreich, der zweite "ein bisschen statisch". Ingesamt sei es ein "schöner, starker, schneller Abend", der uns jemanden in Erinnerung rufe, von dem wir wenig wissen, dessen Lebensumstände aber erzählenswert seien.

"Das Format ist nicht leicht zu fassen: zeithistorische Revue, biografisches Schauspiel, ideengeschichtliches Drama. Von allem etwas", beschreibt Christian Egger seine Erfahrungen in der Mitteldeutschen Zeitung (27.5.2022). Aber: "Dass Ottwalts Leben, das ein notorischer Kurzschluss von Politik und Kultur war", auf die Bühne komme, sei "doch ein Ereignis für sich". Zudem seien die Schauspieler*innen "in guter Verfassung" und das Bühnengeschehen immer dann "stark", wenn "es weg geht von der Proklamation hin zum Spiel". Das gelinge vor allem nach der Pause "durchweg".

 

Kommentare  
Vorwärts!, Halle: Reingehen lohnt
Na diese Kritik wird wohl nicht dafür sorgen, dass mehr Menschen diesen Abend sehen. Schade, denn wir waren (auch ohne übermäßig theaternah zu sein) drin (einfach so ;I) und hatten einen wirklich tollen Theaterabend. Wie schon die Trilogie der Unschuld schafft es das NT hier erneut einen Abend zu präsentieren, der politisch absolut relevant, lokal bezogen und schauspielerisch beeindruckend ist. Reingehen lohnt sich voll. Gelangweilt haben wir uns jedenfalls nicht, ganz im Gegenteil.

Ich stelle mal die These auf, dass auch die neue Preisgestaltung der Premieren dazu beträgt, dass a) so wenige Menschen da waren und b) fast ausschließlich älteres Publikum im Saal saß. Mit der Abschaffung der Ermäßigungen für Studis, Auszubildende usw. an Premierenabenden erweist man sich in Halle echt nen Bärendienst.
Vorwärts, Halle: Andere Abende
Nachtkritik hats leider aufn Punkt gebracht. Halle hat allerdings auch viele gute Neuproduktionen gehabt, die leider nicht von nachtkritik wahrgenommen wurden.
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