Dämonen - Theater Basel
Du bist nicht Dein Ideal
27. Mai 2022. Raus in die Stadt, live und in Farbe: Die Spieler:innen ziehen durch die Straßen, erschrecken Vorbeigehende, stoppen Autos, schlagen gegen Fensterläden und entäußern sich ihrer Geschichte(n). Auf einer Leinwand sieht das Publikum dabei zu, wie Boris Nikitin und Sebastian Nübling ein jugendliches Selbstgefühl einfangen.
Von Claude Bühler
27. Mai 2022. Eine junge Frau auf der Bühne. In die Kamera erklärt sie, das Bild- und Ton-Signal gehe jetzt auf dem Meeresboden des Atlantiks nach Amerika zu einem Server, von dort wieder zurück, das dauere 12 Sekunden. "Das ist die Lücke zwischen uns und euch. Wir sind euch voraus!" In dieser Ansage steckt das jugendliche Selbstgefühl, das die nächsten dreieinhalb Stunden nicht abreißen wird. Die Frau hastet mit der Kamera im Schlepptau auf die Straße – und wir im Schauspielhaus folgen ihrem Ausbruch aus dem Theater via riesigem Videoscreen.
Virtuoser Live-Film
Mit ihrem forschen Tempo erschreckt sie Passantinnen, stoppt Autos auf den Straßen, in der Ferne hören wir Kirchenglocken, bald die Durchsagen im Bahnhof. In ihren raschen Lauf über die Perrons gesellen sich bald ein, zwei, drei, am Ende sieben schwarz gewandete Gestalten mit strenger Miene: eine Gruppe mit einer Mission, aber ohne Ziel, so wirkt das.
Die Vorstellung, alles unablässig real in Echtzeit zu erleben, kollektiv im Theatersaal, saugt an der Seele. Was scheinbar spontan und simpel wirkt – Kamera filmt Gruppe auf Stadtrundgang – ist in Wirklichkeit exakt durchgeprobt. Das zeigt sich etwa dann, wenn die Kamera die Leute "verliert", um sie später wieder aufzufinden. Dass das Publikum dranbleibt, liegt auch an den virtuosen Kamerabewegungen (wie haben die von Hand diese Rundumschwenks gemacht?), vor allem aber am Spiel und den Figuren.
Verstörende Geschichten
Filmische Übergröße erlangen diese Figuren, wenn sie einzeln im Lauf ihre Gesichter zur Kamera drehen und im Sog der Kamera zunehmend zu Hochform auflaufen. Es sind junge Menschen, die Verstörendes berichten. Sven Schelker sah seinen besten Freund bei einem Velounfall sterben ("es sah unecht aus"). Ann Mayer schlich sich ins Pornokino, um Männern beim Masturbieren zuzusehen ("so ein erregter Körper hat etwas Schmerzhaftes – und etwas Schönes"). Elif Karci erfuhr, dass ihre Mutter sie abtreiben wollte ("das hätte ihr vieles erspart, mir auch"). Für Elisa Dillier ist die Realität ein Fake.
Magersucht, Klinikaufenthalte und Depressionen, eine Kindheit in einem Kaff oder einem öden Gewerbebezirk: Jede Geschichte schmerzt – und ins Bild gucken auch Unbeteiligte. Man ertappt sich bei der Ahnung, dass wohl viele sowas zu erzählen hätten. Sind die Geschichten alle echt, fragt man sich? Auf jeden Fall ist das fiebrig-lustvolles Jugendtheater, bei dem man mit Auge und Herz die Gesichter auf dem Großbildschirm abtastet, die rastlos erzählen, während ihr Körper energisch den kilometerlangen Stadtparcours bewältigt.
Fulminante Prozession
Nach dem Eindunkeln kippt der Schmerz in Aggression. In Goth-Klamotten, Skelett-Kostümen und gruseligen Masken zieht die Bande zu pumpendem Techno durch die Straße, schlägt an Fensterläden, hüpft auf Abfallkübel, rüttelt an Verkehrszeichen. Nicht selten erinnert diese Düsterstraßenparty an den einstigen Prodigy-Tänzer Keith Flint. Erstmals an dem Abend wirken die Bilder wie abgeguckt: aus Pop-Videos. Aber in einer Tiefgarage kommt die Gruppe mit offenen Gesichtern wütend zur Kernaussage: Die jungen Leute wollen sich für nichts mehr entschuldigen. Nicht dafür, dass sie kein Safe Space sind, nicht, dass sie nicht ehrlich sind, nicht, dass sie nichts mehr glauben können und ihre Freunde verraten wollen.
Fulminant ziehen sie in einer Prozession durch die belebte Kinostraße mit den Outdoor-Bars, voran einer wie ein Zeremonienmeister mit hoher Federperücke. Sie stürzen sich auf die Partygänger: "Du bist nicht Dein Ideal, Du bist nicht perfekt, nicht frei, nicht zufrieden, nicht glücklich, aber das ist ok!" Und die Leute – nicken, stimmen zu. Bei aller Suggestion in diesen Verbalüberfällen: Es wirkt unzweifelhaft, dass das Ensemble und mit ihnen die Regisseure Boris Nikitin und Sebastian Nübling den Ton einer Jugend erwischt haben, die sich von Leistungsdruck, Perfektionszwang und Moral massiv bedrängt fühlt, sich vor jeder Illusion fürchtet und eigentlich glauben will.
Star-Appeal auf offener Bühne
Als die Gruppe, die man bis dahin nur von der Leinwand kennt, ins Theater einzieht, haftet ihr ein Star-Appeal an. Auch aus der Überhöhung bezieht der Abend seine Energie. Begeistert springt das Publikum zum Applaus jubelnd von den Sitzen auf. Man kann auch mäkeln: Der Ernst in den Mienen ist zuweilen etwas dick aufgetragen, der Weltschmerz stellenweise etwas beliebig und nicht jede Eskapade wäre nötig.
Aber wohl selten hat Theater so formal überzeugend und eindringlich Menschen auf der Suche nach so etwas wie Identität nahegebracht, die letztlich sogar ihrem Blick auf die Realität misstrauen und sich dabei trotzdem Humor bewahren.
Dämonen
Uraufführung mit Texten des Ensembles, von Boris Nikitin und Sebastian Nübling
Konzept und Inszenierung: Boris Nikitin und Sebastian Nübling, Bühne: Dominic Huber, Kostüme: Ursula Leuenberger, Video und Live-Kamera: Robin Nidecker, Videoassistenz und Live-Kamera: Jelin Nichele, Sound: Adolfina Fuck, Licht: Vassilios Chassapakis, Dramaturgie: Inga Schonlau. Dramaturgische Mitarbeit: Uwe Heinrich.
Mit: Elisa Dillier, Dominic Hartmann, Elif Karci, Ann Mayer, Julian Anatol Schneider, Sven Schelker, Lukas Stäuble.
Eine Kooperation mit dem jungen theater basel
Premiere am 26. Mai 2022
Dauer: 3 Stunden und 20 Minuten ohne Pause
www.theater-basel.ch
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Kritikenrundschau
"Das hat enorm viel Präsenz und eine Ausstrahlung, die es bis in den Saal schafft", so Andreas Klaeui auf SRF 2 (27.5.2022) über die Performance des Ensembles. Mit einer absolut mitreißenden Energie arbeiteten die jungen Spieler:innen ein Lebensgefühl der Verlorenheit heraus. "Der Parcours durch die Stadt ist sehr tänzerisch, choreografiert, immer wieder gibt es einfach starke, ausdrucksvolle Körperbilder, die ihrerseits die Suche nach einer Position auf der Welt veranschaulichen."
Dominique Spirgi von der bz Basel (29.5.2022) hörte "sehr intime und auch aufrüttelnde Bekenntnisse der jungen Menschen über ihren brutal schwierigen Weg der Selbstfindung zwischen Assimilation und Distanzierung". Und weiter: "Der Abend hat seine Schwächen, wenn er zuweilen etwas sehr in eine Künstlichkeit abschweift. Er hat auch gewisse Längen." Doch an all das denke am Schluss niemand mehr. "Der Abend lebt von und begeistert durch die unbändige Energie und Kraft der jungen Spielerinnen und Spieler."
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