Gespenster in der Sauna

29. Mai 2022. Im Leipziger Matthäikirchhof stapelt sich Geschichte. Ein Wiener Kollektiv lädt in die Kellergänge des historischen Gebäudes ein, wo man Gespenster der Vergangenheit und Zukunft begegnen kann. Entstanden ist ein intensives Labyrinth, das sich irgendwann in Gleichklang verliert.

Von Tobias Prüwer

"Letzter Aufguss" im Matthaikirchhof, Leipzig © Rolf Arnold

29. Mai 2022. Lautlos huscht das Gespenst über den Hof, winkt den aus den oberen Stockwerken Zuschauenden munter zu und verschwindet. "Ach hier sind Sie", holt der auftretende Hausmeister das Publikum ins Jetzt zurück. Er klappert mit dem Schlüsselbund. "Ich habe seit einer halben Stunde Feierabend. Nun verlassen Sie bitte das Gebäude." Mit dem Gang nach draußen endet "Der letzte Aufguss", mit dem die Wiener Gruppe DARUM einen historisch aufgeladenen Ort schräg gegenüber des Schauspiel Leipzig in dessen Auftrag bespielte. Und Gespenster der Geschichte heraufbeschwor, von denen nicht jedes winkte.

Geschichte, Gespenster, Gegenwart

Zwingburg und Schwulensauna, Bettelkloster und Stasizentrale, Lazarett und Brache: Das Areal am Leipziger Ring, das man seit 150 Jahren Matthäikirchhof nennt, ist historisch aufgeladen. Hier befand sich eine slawische Siedlung und später die befestigte Siedlung, der Leipzig seine urkundliche Erstnennung verdankt. Dann wurde auf dem Gelände ein Barfüßerkloster errichtet, später eine protestantische Kirche, die 1943 bei einem Luftangriff zerstört wurde. Staatssicherheit und Volkspolizei zogen 1985 in den als Bezirkszentrale neugebauten Komplex, der nach der Wende allerlei Neu- und Nebennutzung erfuhr. Künftig soll hier ein Forum für Freiheit und Bürgerrechte einziehen und Wohnraum entstehen. Das ist zu erfahren beim Bürger:innengespräch, mit welchem der Abend beginnt. "Mit der Reformation dann weg, alles raus", erklärt die Projektleiterin, um in großen Zeitsprüngen endlich zur Zukunft zu gelangen. Schon ihre Präsentation trägt gespenstische Züge. Manchmal spricht sie in Satzellipsen, entfällt ihr ein Wort, wenn sie von utopischen Tagträumen, dem Miteinander aller ohne und in aller Differenz und vom Wohnungslosenheim mit Riesenrad fantasiert.

Berührt von der Vergangenheit

Das Reale bricht hinein in der Person des Hausmeisters. Der fragt, ob denn wirklich alle mit gemeint seien und was mit denen ist, die nicht mit gemeint sind. Er warnt, dass es im Gebäude spuken würde und ruft zur Abstimmung, ob das Publikum die heimgesuchten Keller nicht sehen wolle. Das lässt sich nicht lange bitten und betritt das unterirdische System aus meist gefliesten Gängen und Räumen. Dort hängen Bademäntel, Licht geben zumeist Lichterschläuche mit roten Leuchtdioden. So sieht wohl eine Schwulensauna aus. Jeder der 20 Besucher:innen erhält einen individuellen Zettel, auf dem steht in welcher Abfolge die sieben Räume beziehungsweise Stationen abzulaufen sind. So wird man von der Vergangenheit berührt und trifft auf zum Teil namenlose Verkörperungen dieser – alle kann man nicht erleben. Meistens geht es um eine andere Geschichte. Das Klagen der Töchter von Johann Sebastian Bach erklingt beispielsweise, die am Ort einst verarmt lebten. Ein Lazarettarzt berichtet vom Leiden der Soldaten, die zur Zeit der Völkerschlacht hier dahinsiechten.

Letzter Aufguss3 Rolf Arnold uBegegnungen mit der Vergangenheit im Bademantel © Rolf Arnold

Besonders beklemmend wird es, wenn ein Mönch im Halbdunkeln erzählt, wie mit der Reformation sein Glauben als falsch galt und das Kloster aufgelöst wurde. Das Ringen um Wahrheit und Überzeugung gibt Andreas Keller glaubhaft, vor allem durch Stimme und Präsenz. Es gelingt auch allen anderen Schauspielenden gut, mit Genauigkeit, dem Sich-Verlassen auf die Sprache und die Wirkung durch die Nähe, ihre Stationen fesselnd zu bespielen. Dicht dran ist man an Dirk Lange, der schwule Geschichte mit Wende- und Nachwendeerfahrungen verstrickt. Wenn er von der Implosion des utopischen Moments spricht, als die neue deutsch-deutsche Gesellschaft sich doch nur als deutsche Gesellschaft entpuppte, ist das ergreifend. Und dann singt er, gesten- und trostlos dastehend und doch ein großes Bild abgebend, Depeche Mode: "Tonight / And I haven't felt so alive / In years".

Labyrinth mit Feierabend

Diese historischen Labyrinthgänge sind intensiv. Irgendwann jedoch hält die Spannung nicht, beziehungsweise wechselt kein Rhythmus und verliert sich der Abend im Gleichklang. Jeder Slot an jeder Station ist gleich lang gestaltet, damit das Publikum wechseln kann. Diese technische Anforderung erzeugt aber eine grundlegende Monotonie, gegen die keine Dramaturgie etwas ausrichten kann. Die Gleichförmigkeit bewirkt Erwartbarkeit, lässt Überraschung nicht zu, erzeugt Länge. Das dämpft zum Ende hin die – natürlich nur vermeintliche – Unmittelbarkeit der Erfahrung. Und wenn schlussendlich beim Endspiel im Treppenhaus ein Gespenst unter seinem Bettlakenkostüm hervor winkt, scheint es froh, mit dem Hausmeister zusammen Feierabend zu haben.

 

Letzter Aufguss
Ein (Teil-)Abriss von DARUM
Regie: Victoria Halper, Kai Krösche, Text: Kai Krösche, Video & Recherche: Victoria Halper, Musik und Sounddesign: Kai Krösche, Ausstattung & Kostüme: Matthias Krische, Dramaturgie, Interviews und Recherche: Laura Andreß, Licht: Veit-Rüdiger Griess.
Mit: Christoph Müller, Sonja Isemer, Eidin Jalali, Thomas Braungardt, Dirk Lange, Teresa Schergaut, Markus Lerch, Andreas Keller, Wenzel Banneyer, Denis Grafe, Michael Pempelforth.
Premiere am 28. Mai 2022
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspiel-leipzig.de

 

Kritikenrundschau

"Ein erhellender Ritt durch die Geschichte sowohl des Ortes als auch der jeweiligen Zeiten und Befindlichkeiten der Menschen" ist diese Theatertour für Wolfgang Schilling auf MDR Kultur (29.5.2022) gewesen. Einziger Einwand: "Bei einer über tausendjährigen Geschichte sind es nicht nur schlimme Sachen, die passiert sind; da gibt es bestimmt auch mal was Heiteres", aber dies sei aus der Produktion ausgespart gewesen. Gleichwohl sei die Arbeit "gut recherchiert" und ergebe ein "total intensives Erlebnis" und "Theater auf absoluter Tuchfühlung".

Einer "theatralen Installation, die ein bizarres Personen-Panoptikum" aufführe und durch "intensiv gespielte, manchmal fast verschwörerische Miniaturen" Atmosphäre erzeuge, wohnte Dimo Reiß von der Leipziger Volkszeitung (30.5.2022) bei. "Dabei geht es weniger um konkrete Persönlichkeiten. Gut komponiert entsteht ein Blick für typische Schicksale der Epochen und damit für die Schichten der Zeit, aus denen Stadt gewoben ist, eine Art geistige Archäologie."

Kommentare  
Letzter Aufguss, Leipzig: Toller Abend
Ich war gestern in der späten Vorstellung und habe viel mehr gesehen als in dieser Kritik beschrieben wird. Für mich einer der bewegendsten Abende seit langem, über dessen zahlreiche Details ich auch am Morgen danach noch nachdenken muss.

Vor allem klang für mich in all den Geschichten immer auch die Gegenwart an beziehungsweise jüngere Geschichte, zum Beispiel bei der Bachtochter, die davon spricht, dass sie nie die Gelegenheit hatte, selbst als Musikerin arbeiten zu dürfen, die aber ja gleichzeitig auch ohne dass es je explizit ausgesprochen wird, von den Verletzungen und Demütigungen von Arbeitsamterfahrungen der Nachwendezeit miterzählt. Da gingen bei mir ganz stark Bilder auf von Erzählungen, wie ich sie aus meiner eigenen Familie kenne, aber ohne dass es wieder so 1:1 ist.

Oder dass sich in den Erzählungen des in der Kritik erwähnten Arztes aus der Völkerschlacht, der ja außerdem mit einem jungen Nazi aus dem Zweiten Weltkrieg in seinem Raum eingesperrt ist (was zu absurden Situationen führt), Dinge ganz schrecklich stark nach aktuellen Ereignissen klingen.

Den Mönch habe ich leider nicht gesehen, aber mich persönlich haben auch sehr die Geschichten vom Stasiopfer und auf der anderen Seite dem Stasitäter berührt. Letztere im besten Sinne unangenehm, weil sie so unbemerkt von hinten daherkam, obwohl man ja eigentlich bei dem Spielort in der Stasisauna damit rechnen musste. Das war richtig beklemmend.

Für mich hat übrigens gerade diese wiederholende Struktur des Abends Sinn gemacht. Also dieses Schleifenartige, in dem diese Geister ihre Stories immer und immer wieder erzählen, das Gespenstische von Geschichte, die sich in abgewandelter Form wiederholt und wo sich die Dinge überlagern. Und das alles in Verbindung mit dem ziemlich krassen Licht und Ton (und auch Video), was ja auch wie eine brutale Maschine wirkte, die einfach fortlief und die Figuren immer wieder zurückwarf auf den Anfang. Fast wie ein Fegefeuer, von dem ja immer wieder die Rede ist. Jedenfalls hab ich das so für mich interpretiert.
Letzter Aufguss, Leipzig: Warum? Darum!
Wie der Kritiker gestern einen Abend von "Gleichförmigkeit" und "Erwartbarkeit" erlebt haben kann, ist mir gänzlich unbegreiflich. Meine Begleiterin und ich sind fast ein bisschen entsetzt. Denn wir haben das genaue Gegenteil gesehen: ein bis zur letzten Minute perfekt inszeniertes und choreografiertes Spektakel, an einem Ort voller Spannung und Überraschung, mit Schauspieler in absoluter Bestform, fern des gewohnten Bühnendeutsch-Blablas. Kurz: ein Gesamtkunstwerk, das zumindest uns nicht nur tief bewegt, begeistert und nachdenklich zurückgelassen hat, sondern gleichzeitig zeigt, was die alte Tante Theater in einer digitalen Unterhaltungswelt bieten kann. Nämlich Abende wie diese. Oder um es mit dem Namen des Wiener Kollektivs zu sagen: warum Theater? Darum!
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