Tiefenbohrungen am deutschen Wesen
4. Juni 2022. Thomas Mann, Goethe, Friedrich Gottlieb Klopstock, Hölderlin, Ernst Jünger … you name them. Julien Gosselin und Ensemble tauchen in einem über mehrere Spielzeiten angelegten Großprojekt über die deutsche Literatur die Abgründe zwischen Romantik und Totalitarismus. Hier der erste Streich.
Von Esther Slevogt
"Sturm und Drang – Geschichte der Deutschen Literatur I" von Julien Gosselin und Ensemble an der Volksbühne Berlin © Thomas Aurin
4. Juni 2022. Dass es von der totalen Liebe zum totalen Krieg kein weiter Weg ist, stellt gleich der Anfang klar. Der junge Werther und seine angebetete Lotte liebkosen einen kleinen Vogel, derweil sie in Goethe-O-Ton Zweideutig-Schwülstiges von sich geben. Plötzlich beißt der junge Werther dem Vogel den Kopf ab und zerkaut ihn, bis Blut fließt aus seinem Mund. Das ist auf drei Riesenleinwänden zu verfolgen. Noch ist die Bühne darunter dunkel. Dann geht es auch hier los. Vor einem Hotel fährt eine Kutsche vor, der die Hofrätin Charlotte Kestner, geborene Buff, samt Tochter entsteigen. Im Hotel nimmt sie ein Rezeptionist namens Mager in Empfang, der wie eine versoffene Version von Nosferatu wirkt.
Leiden im Hotel Elephant
Wir sind jedoch nicht in Transsilvanien, sondern im Set von Thomas Manns Roman "Lotte in Weimar", der in den Jahren 1936 bis 1939 einen Besuch der Frau in Weimar ausgemalt hat, die 1771 den damals 23jährigen Goethe zu seinem berühmten Buch "Die Leiden des jungen Werther" inspirierte. Das Hotel Elephant, wo Mann sie 44 Jahre später absteigen lässt, gab es noch immer, als Mann (schon in der Emigration) seinen Roman schrieb. Allerdings musste das Haus aus dem 17. Jahrhundert in diesen Jahren einem Neubau weichen, mit dem Weimar Adolf Hitler ehrte, der hier in den 1920er Jahren des Öftern abgestiegen war und dabei als Berufsbezeichnung "Schriftsteller" angab. Das nur, um kurz den Resonanzraum zu skizzieren, in dem der 1987 geborene französische Regisseur Julien Gosselin sein Regiedebüt in Deutschland angesiedelt hat: den ersten Teil von "Sturm und Drang – Geschichte der Deutschen Literatur", ein Großprojekt, das über mehrere Spielzeiten angelegt ist.
Das Genie und sein Zentrum
Doch wir sind auch in der Berliner Volksbühne, wo René Pollesch und die diversen Trägerinnen seiner Intendanz noch immer an der Restaurierung der Marke Volksbühne arbeiten. Bisher ist besonders die Leerstelle offen, die zuvor Frank Castorf füllte: der in seinen Inszenierungen immer wieder auch die radikalen und gefährlichen Ränder des Deutschen Denkens auslotete und in (s)einen Kunstbegriff zu bannen verstand. Dieses gefährliche Denken flottiert seitdem manchmal beunruhigend frei um den Rosa-Luxemburg-Platz herum. Castorfs vorletzte Volksbühnen-Inszenierung (der bei Gosselin auch einmal genannt wird) war Goethes Faust, eine achtstündige Pathologie des Deutschen Wesens, mit Martin Wuttke in der Titelrolle. Jetzt steigt Wuttke, inzwischen Mitträger der Intendanz Pollesch, als Goethe himself erneut in den Ring. Bis es so weit ist, vergehen allerdings locker zwei Stunden, in denen dieser abwesende Goethe das Zentrum ist, um das alles kreist. Die Leerstelle, um die herum sich der Genie-Kult bildet.
Martin Wuttke als Goethe himself © Thomas Aurin
So setzen also Julien Gosselin und sein Team auf der Basis von Thomas Mann und Johann Wolfgang von Goethe, aber auch Friedrich Gottlieb Klopstock oder Hölderlin und anderen üblichen Verdächtigen wie Ernst Jünger zu einer Tiefenbohrung am deutschen Wesen und der dafür so typischen Nähe von radikaler Innerlichkeit, humorloser (und nach Verballhornung schreiender) Eigentlichkeitsverfallenheit und dem Hang zum Totalitären an. All das wird im Breitwandformat nach Art des Hauses vorgeführt: Auf der Drehbühne lässt Lisetta Buccellato Bauten kreisen, die mal das Hotel Elephant und mal eine Fachwerkhäuserzeile (wahrscheinlich in Werthers Wetzlar) zeigen. Guillaume Bachelé und Maxence Vandervelde laden das Geschehen mit einem fetten Soundtrack auf, der von Frühbarockem bis Elektro reicht. Auf Leinwänden wird das Innere der Räume nach außen gekehrt, wo sich in einer wilden Textkollage unter anderem Szenen aus der tödlichen Liebe des jungen Werther zu Lotte mit Szenen abwechseln, in denen das Vorbild für diese Lotte bei ihrem Besuch in Weimar als alt gewordene Frau darum kämpft, ihr von der Literatur geraubtes Leben zurückzubekommen.
Glühende Innerlichkeit, gebremste Innerlichkeit
Beide Frauen werden von der Victoria Quesnel gespielt. Sie spricht Französisch und ein merkwürdig mechanisches Deutsch, das die stürmenden und drängenden Texte mit einer ebenso glühenden wie maximal gebremsten Innerlichkeit versieht, so dass der Ausbruch dieser Figur aus dieser Gefangenschaft am Ende ziemlich plausibel ist. Marie Rosa Tietjen ist das irisierende und von radikalen Gefühlen gebeutelte Junggenie Werther, die man fast nur auf der Leinwand agieren sieht. Dann sind da noch Emma Petzet und die tolle Rosa Lembeck, die als Schopenhauers Schwester Adele den männlichen Geniekult mäandernd kommentiert. Und zwar mit Text aus Thomas Manns Erzählung "Tod in Venedig".
Gefangene, nicht nur ihrer Gefühle: Marie Rosa Tietjen, Victoria Quesnel, Benny Claessens © Thomas Auirn
Denn als der abwesende Autor schließlich erscheint, sich die Leerstelle also füllen soll, tut er das in Gestalt des seines Schaffens müde gewordenen fiktiven Schriftstellers Gustav Aschenbach, den Mann ins Zentrum seiner Erzählung stellte. Martin Wuttke liefert hier ein Schaustück seines Könnens, aber auch dafür, was passiert, wenn kein Regisseur eingreift und die Marotten bändigt. Wuttke nölt und barmt unter der mottenzerfressenen Perücke, windet sich als gepeinigtes wie vampirhaftes Genie. An einem Höhepunkt des Abends lässt Gosselin ihn am Schreibpult sitzend aus der Untermaschinerie auf die Bühne fahren, wo inzwischen ein pathetisches Bühnenbild aus Pappmaschee aufgebaut wurde, das wahrscheinlich Josef Hoffmanns Kulissen für die Uraufführung von Wagners Oper "Rheingold" in den 1870er Jahren zitieren soll. Hier ist dann besonders Benny Claessens als eine von drei Rheintöchtern hervorzuheben, der im weißem Wallegewand auch ausdruckstänzerisch zu überzeugen weiß.
Im Assoziationsdschungel
Zuvor konnte man ihm schon als Goethes aufgekratztem Mitarbeiter Riemer begegnen. Auch ist unbedingt Hendrik Arnst zu nennen, der ganz am Anfang als nosferatuhafter Rezeptionist Mager aus dem Hades der jüngeren Volksbühnengeschichte in die Inszenierung aufsteigt und mit aggressiver Servilität seine Figur prägt. Die Inszenierung allerdings gerät spätestens ab Stunde zwei völlig aus den Fugen, wo immer weniger ein ordnendes Prinzip im Assoziationsdschungel zum deutschen Wesen erkennbar wird. Auch fragt man sich irgendwann: Was soll uns das? Heute? Haben wir gerade keine anderen Sorgen?
Sturm und Drang – Geschichte der Deutschen Literatur I
von Julien Gosselin und Ensemble
Regie: Julien Gosselin, Bühne: Lisetta Buccellato, Kostüme: Caroline Tavernier, Lichtdesign: Nicolas Joubert, Musik: Guillaume Bachelé, Maxence Vandervelde, Ton: Jonathan Bruns, Julien Feryn, Michele Gambarara, Videodesign: Jérémie Bernaert, Piere Martin Oriol, Videoschnitt: Verena Buttmann, Live-Kamera: Richard Klemm, Gian Suhner, Dramaturgie: Eddy D'aranjo, Johanna Höhmann.
Mit: Hendrik Arnst, Benny Claessens, Rosa Lembeck, Emma Petztet, Victoria Quesnel, Marie Rosa Tietjen, Martin Wuttke.
Premiere am 3. Juni 2022
Dauer: 3 Stunden 25 Minuten, keine Pause
www.volksbuehne-berlin.de
Kritikenrundschau
"Was für eine Schauspiellust!", ruft Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (4.6.2022). "Wie sie die toten, wohlgeformten Texte an ihre Seelen anschließen, von den Gedanken unter Strom genommen werden und zugleich Abstand bewahren! Wie sie sich in die Figuren verwandeln und zugleich herausstellen, dass sie literarische Wesen sind, aus Fleisch, Blut und Papier." Ein Befreiungsschlag sei all das nach viel "diskursiver Verhaltenheit und korrekter Achtsamkeit" der jüngsten Zeit auf deutschsprachigen Bühnen. "Sie spielen wieder", konstatiert der Kritiker.
"Ist das Fatale in der deutschen Kultur ein Kind unerfüllten und erfüllbaren Liebesverlangens, eine Folge narzisstischer Selbstbezogenheit wie bei Werther? Führt der Weg vom Sturm und Drang direkt bis zu Hitlers Nationalsozialismus?", fragt Eberhard Spreng in DLF Kultur vom Tage (4.6.2022). Das bleibe zwar eine Behauptung, dennoch: "Eine solch groß angelegte und in Teilen rauschhaft bildgewaltige Theaterarbeit kannte die Volksbühne nach Castorfs Abschied nicht mehr. Nach dem Kleinklein des missglückten Neustarts unter der Leitung von René Pollesch wummert dieses Theater wieder und stemmt sich erfolgreich gegen das Abrutschen in die Bedeutungslosigkeit."
"Kann das wahr sein?" fragt Rüdiger Schaper angesichts von wackeliger Handkamera, Drehbühne und Screens, die das Geschehen aus dem Räumen in Close-ups zeigen hinter Paywall im Berliner Tagesspiegel (5.6.2022), wo er unter der Überschrift "Grotte in Weimar" zu einer Gesamtvernichtung der Intendanz René Pollesch ausholt. "Ja, ist denn Frank Castorf wieder da?" Gosselins Regie sei "unfassbar epigonal", "eine peinliche Kopie am Ort der Originale". Originaltext werde deklamiert, endlos und schwer verständlich und mit französischem Akzent.
"Das Haus in Wetzlar, wo Goethes junger Werther auf seine Lotte trifft, sieht aus wie der Stall eines Krippenspiels mit Blümchentapete. Das berühmte Hotel "Elephant" in Weimar, in das die echte Lotte, also Hofrätin Witwe Charlotte Kestner, geborene Buff, 44 Jahre später eincheckt, um Goethe wiederzusehen, ist eine Sperrholzkonstruktion, dekoriert mit Omas Lampenschirmen und Ölschinken vom Flohmarkt," schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (7.6.2022). Wer sich auf Martin Wuttke als Goethe gefreut habe, erlebe"das manierierte Porträt träger Alterseitelkeit: Johann Wolfgang von Wuttke. Maulend, nölend, miesgelaunt." Die kleckernde Biederkeit, mit der Julien Gosselins Inszenierung sowohl dramaturgisch wie inszenatorisch die Geduld des Kritikers strapaziert, weckt bei ihm am Ende "schmerzliche Erinnerungen an bessere Zeiten: als der Größenwahn an der Volksbühne auch bei größter Zähigkeit noch richtig was hergemacht hat."
In den Lockdown zurückversetzt, als das Theater nur per Stream zu verfolgen war, fühlt sich Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (7.6.2022), wo sie diverse Berliner Premieren des Pfingsowochenendes bespricht. "Drei Leinwände hängen über einem meist elegisch verdunkelten Bühnenbild, das die Lobby des berühmten 'Hotel Elephant' in Weimar darstellt." Die Inszenierung empfand sie als "prätenziöse Zumutung" und "groben Unfug". Der Nachhilfelehrer und Hobby-Filmemacher Gosselin lasse "wie in einer Förderklasse Goethe erklären und aufsagen. Und peinlich abgedroschen den Geniekult aushebeln, weshalb am Schluss die fabelhafte Victoria Quesnel als Lotte mit einer Pistole auf den schlimm maulenden und jaulenden Martin Wuttke als banale Karikatur von einem Goethe zielt."
Gosselin "zitiert" Castorfs "Stil in einem Maße, das bisweilen der Imitation nahe kommt. Zu seinen Gunsten könnte man sagen, dass er Castorfs Methode nicht nachahmt, sondern sie nur so genau wie möglich erforscht, um dem deutschen Wesen auf den Grund zu gehen." So beschreibt Peter Kümmel den Abend in der ZEIT (9.6.2022). Dass der Abend "trotz" seiner "Anleihen bei tödlich bekannten Methoden" von Castorf (etwa der Überlänge oder der Live-Filmarbeit) in den Augen des Kritikers gelingt, "verdankt Gosselin einem klassischen Castorf-Schauspieler, Martin Wuttke, der hier den alten Goethe spielt."
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Viel Nostalgie und Retro bietet Julien Gosselin, der in den 2010er Jahren als Wunderkind des französischen Theaters gefeiert wurde und mit „Sturm und Drang – Geschichte der deutschen Literatur I“ erstmals auf einer deutschen Bühne inszeniert. Der Abend ist geprägt von Epigonentum und Verehrung für die stilprägende Ära von Frank Castorf und Bert Neumann. Irgendwann werden per Name-Dropping auch all die anderen großen Namen aus der Geschichte der Volksbühne heruntergerattert: die Schlingensiefs, die Bessons, die Marthalers.
„Sturm und Drang“ ist nicht nur für Castorf/Neumann-Nostalgiker, sondern auch ein Fest für Literatur-Nerds, die Spaß daran haben, nachzuspüren, wie hier die Textstellen zusammengepuzzelt werden, und sich an den Anspielungen erfreuen. Tief hat sich Gosselin in die Werke eingegraben. Im knappen Programmblättchen erzählt er von seiner Faszination für diese „tote Materie“, die er wie ein Archäologe durchwühlt und dabei die Scherben seiner Fundstücke neu zusammensetzt. In der ersten Hälfte hat dies durchaus Raffinesse und liegt über dem Niveau banaler Soaps und schludriger Stückentwicklungen, mit denen wir viel zu oft in dieser Spielzeit konfrontiert waren. Aber das Problem des Abends ist, dass diese Art von selbstreferentiellem Literatur-Nerd-Theater spaltet: einige jubeln, aber die Absprungrate Richtung Saaltür war so hoch wie zuletzt nur bei Christopher Rüpings Theatertreffen-Eröffnung: der auf Twitter vieldiskutierte Publikumsschwund und seine Ursachen lassen sich am besten doch live studieren.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/06/04/sturm-und-drang-volksbuhne-theater-kritik/
So bleibt alles etwas unverbunden stehen, der Monolog beim letzten Mahl zeigt fast nichts. Ich mag die Volksbühne, auch die neue. Und in dem Stück gestern Abend gab es viel schöne Momente, aber eine sinnlose Konzeption und Meta: "Jelinek" und "Intendant" Witze, die so unlustig sind, dass selbst ich mit meinen Cringemillenial Humor nichts in Bewegung bringe, außer meine müden Oberschenkel in eine neue Sitzposition. Naja ich hab danach noch eine geraucht und war eher traurig, das war mal anders..
Optisch beeindruckend aber viel zu lange und irgendwann nach 1,5h freut man ich nur aufs Ende. Gäbe es eine Pause wäre der Saal danach vermutlich leer.
Bezeichnend auch der Obdachlose vor der Tür, dessen Monolog den Monologen im Theater nicht viel nachstand.
Ich rate zu einem Platz an der Seite um dem sprichwörtlichen Theater nach einer Stunde, ohne Aufmerksamkeit zu erzeugen, entrinnen zu können.