Weltstaunen im Blick

9. Juni 2022. Wo die Maskentheatertruppe Familie Flöz auftaucht, gibt's emotional aufgeladene Pantomime, die sämtliche Theaterregister zieht. So auch bei der Uraufführung von "Hokuspokus", einer Familienschöpfungsgeschichte, die die Macht des Erzählens feiert.

Von Stephanie Drees

"Hokuspokus" von Familie Flöz © Simon Wachter

9. Juni 2022. Schon im Moment, als er sich auf das Sofa legt, ahnt man nichts Gutes. Der Junge mit den blau-weißen Ringel-Kniestrümpfen und dem strohblonden Michel-aus-Lönneberga-Haar ist anders als seine beiden Geschwister, viel weniger Rebell als der ältere Bruder, viel weniger Dickkopf als die Schwester. Etwas Verlorenes umweht ihn, ein unsichtbarer Faden verbindet ihn mit der Dunkelheit. So clownesk er aussieht, da schlägt eine ungute, viel zu reife Ahnung in seiner Brust. Und als die Kamera eine Nahaufnahme seines Gesichtes filmt, wir die Projektion auf der Leinwand sehen, groß, das Bild sich schwarz-weiß färbt, die Konturen langsam verwischen, während über dem Kopf Äste und Blätter zu wuchern beginnen – da ist klar: Das endet schlimm.

Es gibt keine Sprache, also auch nicht ihre Endlichkeit

Man schämt sich fast, es zu sagen: Kurz fährt ein Stich in die Brust – es ist einer dieser Momente, die man als Theaterzuschauerin kommen sieht und die trotzdem piksen. Vielleicht, weil man zwar kognitiv dabei war, aber emotional kurz nicht aufgepasst hat. Vielleicht, weil man in "Hokuspokus", der neuen Produktion der legendären Maskentheatergruppe Familie Flöz (kurz: FF), innerlich schon zu sehr mit diesen Figuren verbunden war. Sie sind stumm, können aber mit ihren an sich starren Masken doch so viel erzählen, erleben Alltägliches und berichten viel von der Absurdität des menschlichen Seins. Dieses Hineingeworfen-Sein in eine Welt, die man letztlich vor allem hinnehmen muss. Stolpernd, strauchelnd, bemüht, einfach das Beste aus der Absurdität von Existenz zu machen.

Hokuspokus 2 805 Johannes Kressin uVertrieben aus dem Paradies: das Ur-Paar in "Hokuspokus" © Simon Wachter

Was die Familie Flöz seit 1996 anbietet, ist eigentlich ja eine anachronistische Kiste: eine Art Ur-Theater, bei dem die Spieler:innen Masken tragen und nonverbal, mittels Körpersprache, Gestik, Tanz und Akrobatik die Geschichten ihrer Figuren erzählen. Paralinguistische Zeichensysteme ergänzen das Spiel, da sind Laute und Geräusche, die andere Künstler:innen hinter und auch auf der Bühne produzieren, alles strotzt vor akustischen Anspielungen. Es ist ein hinreichend bekannter, aber wirkungsvoller Trick: So archetypisch diese Figuren sind, so schnell man ihr Stickmuster erkennen kann, so wenig latschen sie die Klischeematrix breit, durch die sie sich bewegen. Es gibt keine Sprache, also auch nicht ihre Redundanz und Endlichkeit.

Masken lesen und selbst lesbar sein

Für diese Ästhetik ist die Familie Flöz berühmt geworden, weit über die Grenzen des deutschsprachigen Raumes hinaus. Angefangen haben sie in der Freien Szene mit der Wiederbelebung des physical theatres, die Wurzeln in der Pantomimenkunst. Das internationale Kollektiv tourt seit Jahren durch die Welt, nun durch große Säle wie dem Berliner Schillertheater, in dem temporär die Komödie am Kurfürstendamm residiert, mit Bühnenbildern, die sich durch die Welt fliegen und verschiffen lassen.

Corona hatte all dem beinahe ein Ende bereitet, Gastspiele wurden abgesagt, die Flöz-Maschinerie stand still. Eine einmalige, größere Förderung des Hauptstadtkulturfonds half bei der Überbrückung dieser Zeit. Nun also wieder Maskentheater vor einem Publikum, das mehrheitlich keine Gesichtsbedeckung mehr trägt, aber in den letzten Jahren doch selbst diese besondere Art des kommunikativen Spiels erlernen musste: Den Mitspieler im öffentlichen Raum mit Maske lesen und selbst lesbar sein.

Ein stummes Paar im Paradies

In "Hokuspokus" geht es um die Schöpfung beziehungsweise die Geschöpfe, deren Lebenswelt live auf der Bühne mittels Sounds, Musik und Zeichnungen erschaffen wird. Seelenlandschaften und Kulissen entstehen teilweise live auf dem digitalen Zeichenbrett, Projektionen werden zum Bühnenbild.

Hokuspokus 4 805 Johannes Kressin uDas geht nicht gut aus, man ahnt es: der blonde Michel und sein wilder Bruder © Simon Wachter

Eine Sängerin singt wunderschön, leicht und schwer zugleich, spanische Worte hallen durch den Raum. Doch um die Worte geht es nicht, zumindest nicht auf der semantischen Ebene. Es geht um ihren Klang. Permanent wird hier mit der Wirkungsmaschine Theater konstruiert und gleichzeitig desillusioniert. Das Geräusch eines aufgescheuchten Vogels, erzeugt aus der Kehle der Musikerin, erschreckt die beiden frisch erweckten Geschöpfe – ein stummes Paar im Paradies. Vor einer stilisierten Pinselstrichkulisse stehen sie da in weißen Nachthemden und schauen – so sieht man bei Familie Flöz nun mal aus, die Familienähnlichkeit qua Maske ist wirklich frappierend – ein bisschen dumm aus der Wäsche. Gleichzeitig ist diesen Gesichtern eine eigentümliche Mischung aus Weltstaunen, Traurigkeit und Wissen eingeschrieben. Auch dieser Ausdruck hat Flöz bekannt gemacht.

Charmant, leise, lebensklug

Die Schöpfer:innen erwecken und beobachten ihre Bühnengeschöpfe, manches erinnert hier an die Livekunst der Bühnenzauberin Katie Mitchell. Es ist auch Theater, das das Theater feiert, ganz pur und unironisch und der Schönheit verpflichtet. Schon in früheren Arbeiten wie "Teatro Delusio" interessierten sich Flöz für das Hervorholen des Hintergrundes, für das Ausstellen der Theatermittel. Mit buchstäblich wenigen Handgriffen entsteht auch an diesem Abend viel Bühnen-Hokuspokus.

Die Geschichte? Geht fix: Ein Paar wird in die Welt geworfen, es findet ein Haus und bekommt Kinder, drei an der Zahl. Es scheinen die 1980er-Jahre zu sein, aber eigentlich ist das nicht wichtig. Sie lieben, sie streiten, sie wachsen auf, werden älter, der Vater versucht auf dem Geburtstag der Tochter mit dem Robo-Dance die Teens zu beeindrucken, es geht natürlich schief. Der Älteste rebelliert mit Ghettoblaster in der Hand. Es passiert eine Tragödie. Das Paar altert, einer geht. Es geht um das Lieben, das Aushalten, die Trauer, die Kostbarkeit, den Tod, gespiegelt in kurzen, hochgradig anschlussfähigen Alltagsmomenten.

"Hokuspokus" ist auf Flötz'sche Art charmant, leise-lebensklug und von jenem Witz durchzogen, den so eben nur wenige können. Erst versucht der Vater mittels Gebrauchsanleitung einen Tisch in die Bude zu zimmern, dann sucht er ebenjene Anleitung mit hektischem Körpereinsatz auch für das schreiende Neugeborene. Da ist so viel Wissen über die Pointen der Körpersprache, dass man FF an diesem Abend meistens auch den etwas altbackenen Ansatz verzeiht, die großen, universellen Fragen ausschließlich am Leben der klassischen Kleinfamilie aufzuhängen. Wobei: Über diesen Punkt könnte man nochmals nachdenken.

 

Hokuspokus
Von Familie Flöz (Fabian Baumgarten, Anna Kistel, Sarai O’Gara, Benjamin Reber, Hajo Schüler, Mats Süthoff, Michael Vogel)
Regie und Masken: Hajo Schüler, Bühne: Felix Nolze (rotes pferd), Kostüm: Mascha Schubert, Licht/Video: Reinhard Hubert, Sound: Vasko Damjanov, Musik: Vasko Damjanov, Sarai O’Gara, Benjamin Reber
Zeichnungen: Cosimo Miorelli.
Mit: Fabian Baumgarten, Anna Kistel, Sarai O’Gara, Benjamin Reber, Mats Süthoff, Michael Vogel.
Uraufführung am 8. Juni 2022
Dauer: 1 Stunde, 30 Minuten, keine Pause

www.komoedie-berlin.de
www.floez.net

 

Kritikenrundschau

Auf poetisch anrührende Weise entspinne sich das Werden und Vergehen einer Familie. Wie üblich ohne Worte, "aber mit perfekt getimter, ausdrucksstarker Körpersprache und ebensolchen Sounds", so Ulrike Borowczyk von der Berliner Morgenpost (9.6.2022). "Die fabelhafte Familie Flöz erzählt das Leben hier im Zeitraffer hintergründig und mit viel Witz in ihrer bislang wohl emotionalsten Produktion."

Kommentare  
Hokuspokus, Berlin: Vergleich mit Katie Mitchell
"manches erinnert hier an die Livekunst der Bühnenzauberin Katie Mitchell." schreibt die Kritikerin ... inwiefern?
Hokuspokus, Berlin: Katie Mitchell
Liebe:r holm,

...ich bezog mich bei dem Verweis auf Katie Mitchell auf ihre Mischung aus Live-Videoeinspielungen, Film, Musik und Geräuschen auf der Bühne – und das damit verbundene Ausstellen der Theatermittel. Das ist m.E. in diesem Stück von Familie Flöz ähnlich gelöst bzw. erinnerte mich daran. Nicht was die Inhalte angeht, sondern nur in ästhetischer Hinsicht.

Liebe Grüße aus der Redaktion

Stephanie Drees
Hokuspokus, Berlin: Treffend
Habe das Stück auch gesehen. Ein sehr treffender Text über den Abend, wunderbar!
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