Schuld und Sühne - Schauspiel Stuttgart
Wer spannt sich vor den Schuld-Karren?
19. Juni 2022. Wer ist gewöhnlich und muss sich an Gesetze halten – und wer ist ein Genie, das sich selbst über ein Gebot wie "Du sollst nicht töten" hinwegsetzen darf? In seiner Adaption des Dostojewski-Klassikers blickt Oliver Frljić auf die individuellen Motive der Figuren – und auch wenn Aktualität nicht sein Ziel ist, hat er eine Botschaft, die sich als Kommentar auf Russlands Krieg gegen die Ukraine verstehen lässt.
Von Steffen Becker
19. Juni 2022. Wo ist Putin? Die Frage stellt sich in fast jedem Moment von "Schuld und Sühne". Das Werk eines russischen Dichters über Verbrechen auf ideologischer Grundlage, inszeniert von einem Regisseur mit Skandal-Ruf – wie aktuell! Aber Fakt ist: Oliver Frljić hatte die Idee zur Inszenierung des Dostojewski-Klassikers bereits vor Corona. Im Interview mit dem Magazin des Schauspiels Stuttgarts bekennt er, dass der Krieg seine Sicht auf russische Literatur nicht verändert habe. Und an Dostojewskis Werk interessiert ihn der ideologische Unterbau, der zu aktuellen Referenzen eingeladen hätte, erstaunlich wenig.
Familienaufstellung nach Außergewöhnlichkeit
Kern der Erzählung ist eigentlich die Unterscheidung von Menschen durch den Studenten Raskolnikow in gewöhnliches "Material" und außergewöhnliche Genies. Erstere haben sich an Gesetze zu halten, zweitere dürfen sie qua ihrer Außergewöhnlichkeit überschreiten, wenn es zur Erreichung ihrer Ziele notwendig ist. Getragen von diesem Gedanken (und finanziell abgebrannt) tötet Raskolnikow eine alte Pfandleiherin. Auf der Stuttgarter Bühne schwingt der Student die Axt allerdings erst kurz vor der Pause. Die Herrenmensch-Haltung führt Frljić dagegen gleich zu Anfang ein – in einer Art bizarrer Familienaufstellung aller Figuren, die in außergewöhnlich und gewöhnlich sortiert werden. Und sich zum Teil entgegen ihrer Platzanweisung selbst am liebsten in die Masse einreihen.
Danach tritt die Auseinandersetzung mit der Rechtfertigung der Schuld in "Schuld und Sühne" in den Hintergrund. Das Psychoduell des Täters Raskolnikow mit dem Ermittler Petrowitsch fällt in Stuttgart weitgehend aus. Es beschränkt sich auf Slapstick-Einlagen, in denen Felix Strobel als Ermittler rasend schnell umherzappelt, Beile von der Decke herabfahren lässt, mit einem sehr langen Verhandlungstisch immerhin für einen Putin-Moment sorgt und David Müller als Raskolnikow zwischen eine Leiter klemmt und mit einem Aktenberg bewirft. Das ist witzig, energiegeladen und sorgt für Szenenapplaus – und ist ein Bruch mit der düsteren Stimmung der Inszenierung.
Grollender Hintergrundsound für innere Qualen
Regisseur Frljić arbeitet mit grollendem Hintergrundsound, einer abgedunkelten Bühne, die ihre Lichtspots eng auf die Individuen richtet – und im übertragenen Sinne auf ihre individuellen Motive. Die Inszenierung hält sich kaum an die Chronologie der Erzählung Dostojewskis, schaut weniger auf den Überbau, die gesellschaftlichen Verhältnisse eines verarmten Kleinadels und Bürgertums. Die Figuren stehen am sozialen Abgrund, aber im Zentrum stehen ihre inneren Qualen. Frljićs Raskolnikow bekennt am Ende freimütig, dass er nicht aus edlen Motiven gemordet hat, nicht um der Welt etwas zu beweisen, nicht um Mutter und Schwester aus der Not zu helfen, sondern um die Grundlage für ein eigenes besseres Leben zu schaffen.
Wichtigstes Bühnenutensil ist ein schäbiges Pferdegespann, Raskolnikow will sich nicht wie andere Figuren davor spannen lassen. Diese Häutungen in der Auseinandersetzung mit der Schuld vollführt David Müller angespannt, fahrig, nervlich angegriffen – und zum Segen des Abends nicht über den Rand des Wahnsinnigen hinaus. Bei ihm bleibt man als Zuschauer dran und dabei, wie er den Schock seiner Tat verarbeitet. Das gleiche gilt für Sven Prietz, der als pädophiler, aber reicher Belästiger von Raskolnikows Schwester, ebenfalls mit Schuld, schlechtem Gewissen und zusammengezimmerten Ausreden ringt. Beide schaffen es, mit ihrer Figurenzeichnung Ambivalenz zu zeigen und den Zuschauenden ein glaubhaftes seelisches Desaster vorzuführen.
Gewalt ist einfach Gewalt
In den Nebenhandlungen gelingt Regisseur Frljićs diese Führung weniger gut. Peer Oscar Musinowskis Beamter Pjotr Luschin etwa gerät inklusive Outfit klischeehaft so, wie man in TV-Reißern einen Nazi-Helfer besetzt. Auch mit einigen gut verzichtbaren Schreidialogen überspitzt und strengt die Inszenierung streckenweise an. Die im ganzen guten Darstellerleistungen kompensieren das. Insbesondere Paula Skorupa als Zwangsprostituierte Sofja überzeugt als Konterpart zum hibbeligen Raskolnikow.
Ruhig und abgeklärt rundet sie den Ansatz von Regisseur Frljić ab, dass Verbrechen aus Egoismus ein Naturgesetz ist. Sofja bietet Raskolnikow mit dem Glauben eine weitere Ideologie an – diesmal als Weg der Reue und Wiedergutmachung. Dabei schlägt sie einem gekreuzigten dickbäuchigen Jesus den glubschäugigen Kopf ab und stopft ihn sich als Babybauch unter den Rock. Diese "Mutter Gottes" spielt sie mit einem Fatalismus, der klar macht: Auch dieser Überbau wird nicht tragen. Am Ende ist Dostojewski in der Stuttgarter Fassung entkernt. Positiv formuliert: Oliver Frljić legt bloß, dass es kein komplexes Konstrukt braucht, um Verbrechen zu erklären. Gewalt ist in einer Welt ohne allgemeingültige Werte gebräuchliches Mittel zum Zweck – ob man sie nun ideologisch ummantelt oder nicht. Darin ist seine Inszenierung dann doch brandaktuell.
Schuld und Sühne
Nach Fjodor M. Dostojewski
In der Übersetzung von Swetlana Geier
Regie: Oliver Frljić, Bühne: Igor Pauška, Kostüme: Maja Mirković, Musik: Daniel Regenberg, Licht: Jörg Schuchardt, Dramaturgie: Carolin Losch.
Mit: David Müller, Gabriele Hintermaier, Celina Rongen, Valentin Richter, Felix Strobel, Sven Prietz, Peer Oscar Musinowski, Reinhard Mahlberg, Therese Dörr, Paula Skorupa.
Premiere am 18. Jiuni 2022
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.schauspiel-stuttgart.de
Kritikenrundschau
"Frljić will nicht Handlung abarbeiten, sondern punktuell vertiefen, verzichtet damit auf den psychologischen Sog des Romans, auf Thriller-Suspense", so Otto Paul Burkhardt in der Südwest Presse (20.6.2022). Stattdessen aber punkte die Regie mit "mit leitmotivischen Bildern", die "stark" seien, das Ensemble gar "famos", urteilt der Kritiker.
Gerade bei den Frauenfiguren, denen der Roman "kein scharfes Profil" zugestehe, weise die Regiearbeit weit über den Text hinaus, meint Elisabeth Maier in der Eßlinger Zeitung (20.6.2022). Die Stuttgarter Schauspielerinnen würden hierbei "Maßstäbe setzen". Frljićs Theaterbilder legten dabei "die Aktualität von Dostojewskis Roman offen, ohne ihn seiner historischen Tiefe zu berauben", zeigt sich die Rezensentin erfreut.
"Visionäres oder Überraschendes bietet Frljić – ansonsten bekannt für provokative Zugriffe – mit seiner eher mediokren Klassikerannäherung nicht", findet Björn Hayer im Freitag (online 21.6.2022). Vielmehr verstehe sich diese Interpretation von Schuld und Sühne als ein beschreibendes Stimmungsgemälde. "Es fängt eine Gegenwart ein, deren Orientierungsverlust sich im Gefühl einer epochalen Agonie niederschlägt."
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