Die (kleine) Utopie reist mit

20. Juni 2022. Am Schluss der 25. Autor:innentheatertage am Deutschen Theater Berlin steht, wie jedes Jahr, die Lange Nacht der Autor:innen. Drei von einer Jury ausgewählte Stücke werden szenisch vorgestellt. Ausgewählt sind dieses Jahr Paula Thieleckes "Judith Shakespeare – Rape und Revenge", "Fischer Fritz" von Raphaela Bardutzky und "Das Augenlid ist ein Muskel" von Alexander Stutz.

Von Stephanie Drees

"Fischer Fritz" von Raphaela Bardutzky © Rolf Arnold

20. Juni 2022. Das dramatische, das literarische Schreiben, es sei, so Schriftsteller und Juror Ferdinand Schmalz in seiner diesjährigen Eröffnungsrede der Autor:innentheatertage, geprägt von "großer Schlüpfrigkeit". Man schlüpfe als Autor:in aus sich selbst heraus und hinein in Charaktere, die vielleicht so ganz anders sind. Um dann sich zu sehen, "wie man hineinstarrt in den Text". Diese spezifische Form der "Schlüpfrigkeit", sie stehe auch für eines der großen Charaktermerkmale des Theaters, das es, wenn es gelinge, doch immer wieder schaffe, uns Zuschauende "zum Perspektivenwechsel zu verführen", uns die Nase in unsere blinden Flecken zu drücken.

Glaubt man alledem (und klar: man möchte Ferdinand Schmalz glauben), dann könnte man fast meinen, das Theater habe einen heilenden Zaubertrank für diese Zeiten parat. Die Autor:innentheatertage am DT, nun schon im 25. Jahr, gelten als eine Art Gipfeltreffen der jungen, deutschsprachigen Dramatik. Und da ist es natürlich verlockend, genau dort seinen Finger in die Luft zu halten und Tendenzen und Themen zu suchen, zu fragen, wo´s denn so hingehen könnte mit der Gegenwartsdramatik. Immer schwierig, dieses Unterfangen. Was aber bei aller Sprach- und Formverliebtheit, die Schmalz und seine Jurykolleginnen Julischka Eichel und Christiane Rösinger aus den rund 170 Stück-Einsendungen dieses Jahres gefischt haben, auffällt: Die großen, gesellschaftsrelevanten Themen sind zurück. Da ist Aktivismus auf der Bühne, da geht es um Missstände, um große, tiefe Ernsthaftigkeit hinter einer grinsenden Fassade. Da reist mitunter gar die (kleine) Utopie mit im Gepäck.

"Judith Shakespeare": Diskurs-Theater, das ins Figurenkorsett einschnürt

Paula Thieleckes "Judith Shakespeare – Rape und Revenge" ist inspiriert von einem schönen Gedanken der großen Virginia Woolf, den sie in ihrem zeitlosen Essay "Ein Zimmer für sich allein" entwickelt: Was wäre, wenn William Shakespeare eine Schwester gehabt hätte? Eine Judith Shakespeare. Was, wenn sie auch hätte schreiben wollen? Und was, wenn sie dabei hätte überleben müssen – seelisch wie körperlich?

In der Inszenierung von Christina Tscharyiski begegnet eine arg patriarchatsermüdete, innerlich vor Wut schäumende Judith Shakespeare einer ganzen Truppe von Theaterleuten im historisch-queeren Look. Grüne Schlangenleder-Stiefel treffen auf samtenen Morgenrock, treffen auf Sneaker, treffen auf Ballonrock und Barett. Das "Rudel aktivistischer Revolutionär*innen" aus dem "solidarischen Wald der vielgeschlechtlichen Mütter unserer Herzen“ hat sich verkleidet, um ein Stück aufzuführen, aus einer Zeit, in der "Menschen in Machtverhältnissen" leben.

RapeAndRevenge1 c lex karelly"Judith Shakespeare – Rape and Revenge" von Paula Thielecke in der Inszenierung von Christina Tscharyiski © Lex Karelly

Wir haben hier also eine ironisch gebrochene Theater-im Theater-Verschachtelung, und durch diese Bühnen-Matroschka-Matrix stampft eine zunehmend in Furor geratende Maximiliane Haß als Judith in gelbem Gouvernanten-Kostüm und mit goldenen Stiefeln. Eine Rächerin im Herzen, deren vulgär-poetische Ausbrüche zwar viel Unterhaltungswert haben, die aber trotzdem recht eingeschnürt in dieses Figurenkorsett ist. Um Figurenentwicklung oder -psychologie geht es Thielecke und Tscharyiski nur am Rande, das hier ist Diskurs-Theater beinahe in Reinform. Aber: Es weiß mit seinen Ironieschleifen, Wortwitz und Chuzpe den Verkaufsslang des Theatermilieus und des teilzeit-woken Kulturbetriebs zu verwursten.

Der Figurenchor spricht abwechselnd den Eiersalat futternden Theaterdirektor Juri Stein, der Judith zu einem heißeisigen Diskursding-Stück zur Rape Culture überreden will ("Nage am Zahn der Zeit, Judith!"). Oder auch den seelisch wie körperlich missbrauchenden Arschloch-Bruder William. Und dann, in den leiseren Momenten, auch die Stimmen von LUCRETIA / LEDA / KALLISTO / LAVINIA / PHILOMENA / ARETHUSA / GRETCHEN / JUDITH / RÖSCHEN. Literarische Figuren, die eint, dass sie sexuelle Gewalt erlebt haben und die das muntere Sprachtreiben durch starkes, bis in den Zuschauersaal hineinkriechendes Körperspiel unterbrechen. Diese Momente sind stärker als jene, in denen der Chor seine Köpfe aus einer goldumrandeten Vulva reckt und Text abfeuert (wobei die Vulva schon super aussieht).

"Fischer Fritz": Im Kommunikationslabyrinth sitzt der alte, kranke Mann

Was bei allen drei Uraufführungen dieses Festivals auffällt: Es gibt eine große Ehrfurcht vor dem Text. Kaum Striche und Raffungen sind in diesen Inszenierungen zu finden, die Stücke dürfen sich im wahrsten Sinne aus der Mitte heraus entfalten.

Besonders eindrücklich ist das bei "Fischer Fritz" von Raphaela Bardutzky, inszeniert von Enrico Lübbe. Als "Sprechtheater" untertitelt die Autorin ihr Stück, was angesichts der Form recht harmlos klingt. Der Text hat es in sich, nicht nur, weil er – von deutschen und polnischen Zungenbrechern inspiriert – ein ganzes kleines Universum voller Kommunikationslabyrinthe erschafft, in dessen Zentrum der Ex-Fischer Fritz sitzt. Er kann nicht mehr, wie er will. Alt, schwerstkrank, geplagt von dem Niedergang seines Körpers und einer Sprachbehinderung, verursacht von mehreren, kleinen Schlaganfällen, sitzt er im alten Haus in der bayerischen Tiefpampa. In dieses Leben stolpert nun die von Sohn Franz, dem "Städter", engagierte Pflegekraft Piotra. Jung, reise- und lebenshungrig. Wer nun ein Sozialdrama à la "polnisches Manic Pixie Dream Girl heitert vor Themenhintergrund Arbeitsmigration alten Bayernknochen auf" vermutet, dem sei gesagt: weit gefehlt.

fischer fritz 01"Fischers Fritz" von Raphaela Bardutzky, inszeniert von Enrico Lübbe © Rolf Arnold


Bardutzkys Stück ist eine Sprechetüde, in der die Figuren, von sich selbst entfremdet, abgekürzt als "FRI, FRA und P", in stark rhythmisierter Sprache, auf Hochdeutsch, mit Dialekt und Akzent, ihr Inneres nach außen spucken. Sie alle sind abwechselnd personaler:e Erzähler:in und eine der drei Figuren, hören die Gedanken der anderen, fühlen der Sprache, ihren Fallen, ihren Gemeinsamkeiten, ihrer Endlichkeit nach. Die Sprachschwierigkeiten von Fritz werden ebenso wenig ausgestellt wie das gebrochene Deutsch von Piotra. All das wird nur erwähnt und läuft als Information im Hintergrund.

Enrico Lübbes Inszenierung findet dafür eine kluge, die strenge Formliebe des Textes aufgreifende Ästhetik: Da stehen drei Figuren mit weißen Nachthemden und weiß verschmierten Gesichtern auf der Bühne, die abwechselnd ins Publikum sprechen. Sie sind Gespenster im eigenen Leben, grundverschieden, und doch Drillinge im Geiste. Das Haus des alten Fischers ist ein Kubus aus Brettern: ein Tisch, ein Stuhl, ein paar Leuchtröhren, das war´s. Aber der hölzerne Kubus kann auf einem Steg vor- und zurückfahren. Zusammen mit der immensen sprachlichen Leistung der Schauspieler:innen, die dieses hochgradig schwierige Formspiel mühelos tragen, ergibt sich eine ganz eigene Form des artifiziellen, stilisierten Erzähltheaters. Es distanziert sich einerseits von seinen Figuren, andererseits spürt es genau in sie hinein.

"Das Augenlid ist ein Muskel": Vom sexuellen Missbrauch haben alle gewusst

Stark, vor allem in der Zeichnung seiner Figuren, ist auch "Das Augenlid ist ein Muskel" von Alexander Stutz. Es ist mit Abstand der sinnlichste, intimste Text unter den drei Uraufführungen – und harter Tobak. Aaron, ein Mann in seinen Zwanzigern, hat als Kind über viele Jahre hinweg sexuelle Gewalt erlebt. Der zehn Jahre ältere Cousin hat ihn im Keller der Großmutter missbraucht, auf einer alten Matratze, immer und immer wieder. Aaron versucht, auf einem Post-it den Eltern das Unaussprechliche zu erzählen, doch die sind vor allem damit beschäftigt, die brüchige Ehe zu kitten.

Aaron wird klar, als er erwachsen ist: Alle Erwachsenen wussten es. Die Eltern, die sich in der Inszenierung von Jorinde Dröse auf der Sonntagsfahrt zum Täterhaus von Modern Talking durchrütteln und vom Fahrtwind kitzeln lassen. Die geliebte Großmutter, die Hilke Altefrohne zwischen Brille-verrutscht-Slapstick und Verdrängung spielt.

Doch dann beginnt Aarons Körper zu sprechen: Der Magen, der kleine Rebell, erinnert ihn an Szenen des Missbrauchs. Die Augen wollen nicht schließen und sprechen hyperaktiv (Niklas Wetzel) ins Bühnenmikro. Die uralte Matratze berichtet im Scarlett O'Hara-Look von dem, was jahrelang auf ihr geschehen ist.

augenlid 1"Das Augenlid ist ein Muskel" von Alexander Stutz, hier mit Hilke Altefrohne und Paul Grill, inszeniert von Jorinde Dröse © Arno Declair


Durch die Personifikationen im Stück, seine zum Teil allegorische Form, ist "Das Augenlid ist ein Muskel" gut als Jugendstück auf die Bühne zu bringen. Mit dieser Inszenierung setzt das DT darauf, es so zu verkaufen. Das ist nachvollziehbar. Vielleicht geht aber auch deswegen – trotz der tollen Schauspieler:innen – hier einiges an Tragik verloren, für die Alexander Stutz eine sehr eigene Sprache findet.

Nichtsdestotrotz: Es war ein starker Jahrgang bei den diesjährigen Autor:innentheatertagen und es sei hiermit prognostiziert: Von allen drei Autor:innen werden wir noch viel hören. Sie nagen klug am Zahn dieser Zeit.

 

Lange Nacht der Autor:innen

Judith Shakespeare – Rape and Revenge

von Paula Thielecke
Regie: Christina Tscharyiski, Bühne; Sarah Sassen, Kostüme: Jenny Schleif, Choreinstudierung: Almuth Hattwich, Dramaturgie: Karla Mäder
Mit: Maximiliane Haß, Beatrix Doderer, Miriam Fontaine, Katrija Lehmann, Mathias Lodd, Sissi Noé, Clemens Maria Riegler, Rudi Widerhofer.
Fassung des Schauspielhaus Graz
Uraufführung am 18. Juni 2022
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

Fischer Fritz
von Raphaela Bardutzky
Übersetzung der polnischen Textteile von Aleksandra Lukoszek
Regie: Enrico Lübbe, Bühne Hugo Gretler, Kostüme: Sabine Blickenstorfer, Musik: Philipp Rumsch, Dramaturgie: Torsten Buß, Matthias Döpke.
Mit: Amal Keller, Julia Preuß, Mira Fajfer.
Koproduktion mit dem Schauspiel Leipzig
Uraufführung am 18. Juni 2022
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

Das Augenlid ist ein Muskel
von Alexander Stutz
Regie: Jorinde Dröse, Bühne: Janja Valjarević, Kostüme: Juliane Kalkowski, Musik: Jörg Kleemann, Dramaturgie: Bernd Isele.
Mit: Hilke Altefrohne, Paul Grill, Andreas Leupold, Niklas Wetzel.
Uraufführung am 18. Juni 2022
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

Kritikenrundschau

Die Lange Nacht der Autor:innen sei "Jahr für Jahr eine spannende Veranstaltung", schreibt Patrick Wildermann im Tagesspiegel (19.6.2022). "Was treibt die Gegenwartsdramatiker:innen um? Wie werden ihre Texte hörbar gemacht? Und ist den prämierten Stücken ein Nachleben zuzutrauen?" Im Ergebnis falle das allerdings sehr unterschiedlich aus, findet der Autor. Während Alexander Stutz' "Das Augenlid ist ein Muskel" ein "komplexe(s) Geflecht von verdrängten Erinnerungen, Scham, Schweigen" sei, das von Regisseurin Jorinde Dröse "allerdings nicht mit überbordendem Einfallsreichtum" inszeniert werde, schaffe die Leipziger Inszenierung von Raphaela Bardutzkys Stück "schöne, leisere Momente von gemeinsamer Einsamkeit". Paula Thieleckes "Judith Shakespeare" jedoch sei in der Inszenierung von Christina Tscharyiski "ein einziges Missverständnis", in dem das Publikum mit einem "längst Mainstream gewordenen, queerfeministisch-intersektionalen Debattenstand" belehrt werde.

Die Inszenierungen von Jorinde Dröse und Enrico Lübbe hätten sich "am souveränsten durch die Textuhrwerke" gebissen, konstatiert Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (19.6.2022). In Dröses Inszenierung von Alexander Sutz' "schmerzliche(m) Erinnerungslabyrinth" brächten die "charismatischen Schauspieler" Bewegung ins Fließen der Monologe, während Enrico Lübbe Bardutzkys "Fischers Fritz" mit Geschick in "ein schaurig-groteskes Menschenpuppentheater" versetze. Die "furiose Vorlage" von Paula Thieleckes "Judith Shakespeare" konterkariere Christina Tscharyiski hingegen "mit harmlosem Freilufttheater-Klamauk".

"Ein Meisterwerk" sei in diesem Jahrgang nicht zu finden, meint Barbara Behrendt im rbb (19.6.2022), "aber durchaus bemerkenswerte Schreibstile". Für Bardutzkys Stück, dessen Autorin sich "mehr für Alliterationen, Reibe- und Bilabial-Laute interessiert als für das Innenleben ihrer Figuren", schaffe Enrico Lübbe eine "angenehm leichtfüßige Inszenierung", die allerdings "wenig Spuren" hinterlasse. Mit einem "furiosen Paul Grill als Aaron und einem großartig hyperventilierenden Niklas Wetzel als aufgerissenes Auge" präsentiere Jorinde Dröse Alexander Stutz' "Das Augenlid ist ein Muskel" als den "gelungenste(n) Text" der Auswahl. Paula Thielecke biete dagegen kaum mehr als "feministisch-aktivistischen Diskurs-Mainstream", trotz schöner "Grundidee".

Die Jury habe "eine seltsame Vorliebe für eher narrative Werke an den Tag" gelegt, so Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (21.6.2022). "Es wird viel erzählt und wenig gespielt. Misstraut man den Darstellern, oder misstraut man den theatralen Stilmitteln?" Besonders angetan hat es ihr "Fischer Fritz“: "Raphaela Bardutzkys anrührendes Stück verschreibt sich der Realität hinter den Worten, die Inszenierung von Enrico Lübbe fängt diese auf und macht sie greifbar."

 

Kommentare  
Lange Nacht, Berlin: starke Texte
Die Lange Nacht bot eine starke Auswahl von Texten, die Inszenierungen blieben aber zum Teil hinter der sprachlichen Kraft der Vorlagen zurück.

Alexander Stutz gelingt mit "Das Augenlid ist ein Muskel" ein sensibler Text, der um Worte ringt: der Autor lässt den Kloß im Hals oder die Matratze die Worte herauspressen, die der Hauptfigur lange fehlen. In der Inszenierung beeindrucken vor allem die beiden Hauptdarsteller Paul Grill und Niklas Wetzel aus dem DT-Ensemble.

Jorinde Dröse inszeniert den nachdenklichen Text sehr temporeich mit schweißtreibenden Tanz-Einlagen zu Modern Talking, der Lieblingsmusik von Aarons Mutter. Vor allem in der ersten Hälfte verzettelt sich Dröse sehr: der Abend droht sich mit Comic Relief zu verläppern, Slapstick-Nummern reihen sich unmotiviert aneinander und es wird nicht klar, worauf die Inszenierung hinaus will, bis Grill und Wetzel das Ruder in die Hand nehmen und den Abend erden.

Eindimensional, stellenweise witzig und oft zu platt ist die Uraufführung von "Judith Shakespeare - Rape and Revenge", die vor allem von den jungen Zuschauerinnen als Empowerment bejubelt wird, aber zu selten über Schlagworte und Klischees aus den aktuellen Diskursen in Theaterblase und Gesellschaft hinauskommt und ihre Botschaft oft in ordinärer In-your-Face-Sprache rausbrüllt. Nach 95 Minuten fragt man sich, ob der Text nur wegen seiner gutgemeinten feministischen Geradlinigkeit eingeladen wurde.

„Wonderwomb“ von Amir Gudarzi erhielt von der ATT-Jury eine lobende Erwähnung, gewann mittlerweile den Kleist-Förderpreis und wird in der kommenden Spielzeit in Marburg uraufgeführt. Das Trio Maren Eggert, Ex-Ensemble-Mitglied Camill Jammal und Božidar Kocevski präsentiert in 45 Minuten einige Szenen der Textes, der an der Netflix-Ästhetik geschult ist: in Parallelsträngen verhandelt Gudarzi die Krisen-Themen des Nahen und Mittleren Ostens, die großen Themen der Weltpolitik wie die Gier nach dem Öl und den von Donald Trump, der konsequent nur als „orangengesichtiger Präsident“ bezeichnet wird, befohlenen Drohnenangriff auf den iranischen Revolutionsbrigaden-General Qassim Soleimani im Januar 2020.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/06/19/lange-nacht-der-autorinnen-2022-theater-kritik/
Lange Nacht, Berlin: Zustimmung
Ich habe auch alle 3 Stücke am Sonnabend sehen können und stimme der Kritik zu: "Fischer Fritz" war sehr stark. Auch dank seiner super Inszenierung. Lübbes Idee, nicht der Verlagsvorgabe zu folgen und den Text mit 2 Männern und 1 Frau zu spielen, hat mich zuerst irritiert. Ging dann aber voll auf. Und hat dem Text noch einen zusätzlichen Kniff gegeben. Chapeau!
Lange Nacht, Berlin: Unterhalten lassen
"Verdammte Scheiße!" - Zitat aus "Judith Shakespeare - Rape and Revenge" von Paula Thielecke, ur-aufgeführt vom Schauspielhaus Graz am 18. Juni 2022 im Deutschen Theater Berlin und von der Hauptdarstellerin mehrfach hintereinander
heraus gestoßen - einen Sinn für den Text konnte ich nicht entdecken, außer vielleicht: Die Darstellerin hatte Vergnügen daran, "unanständige Worte" laut zu sagen, so wie sie ihre gelbes Gewackel wohl für Schauspielkunst hielt.
(Ich hoffe, die Redaktion wird diesen Anfang nicht streichen, es handelt sich bei dem Zitat doch um eine bereits öffentlich gemachte Äußerung.)
Die Aufführung begann mir einer Lüge: Während die Zuschauer den Saal betraten,
taten die Damen und Herren des darstellenden Personals so, als würden sie eben
noch flink die Bühne herrichten. So ist aber Theater allenfalls nur im Ausnahmefall, der war aber nicht gespielt. Aber grellbunte Kostüme, die die Zeit Shakespeares signalisieren sollten, aber die Schauspielerinnen und Schauspieler nur zu Kleiderpuppen machten. Schlecht gearbeitete Chöre - aber ganz gegen Ende trat die Dramaturgin auf, ganz privat und also "authentisch" und erklärte
auf neckische Art und Weise dem Publikum, warum das Stück gespielt worden sei und machte eine Befragung. Da wusste ich dann, ich war in der belehrenden Veranstaltung einer Klipp-Schule gewesen. Mit Beginn des Beifalls verließ ich den Saal.

Ich habe von den Theatertagen nur drei Vorstellungen sehen können - alle (acht?)
schafft vermutlich nur ein professioneller Rezensent.
Ich bin altmodisch und will im Theater nicht belehrt werden, sondern mich vergnüglich unterhalten lassen. Dazu gehört Drama. Gibt es so etwas in der neuen
dramatischen Literatur noch? Ich verstehe darunter: Figuren (also fiktive Personen) treffen mit unterschiedlichen Handlungsabsichten aufeinander, daraus entstehen Situationen, aus denen eine Handlung sich entwickelt. Ich kann mich zu den Ereignissen als gegenübersitzender Betrachter frei verhalten. Mitunter kann es freilich geschehen, dass eine Figur versucht, mich zu ihrem Parteigänger zu machen.

In den beiden anderen Vorstellungen, die ich besuchen konnte, gab es eine vorherrschende Haltung der Figuren (der Darsteller?), die sich direkt an den Zuschauerraum wandte und mich zum Partner einer Situation zu machen suchte,
einer Situation, die ich nicht überblicken konnte.

Bei Fritz Katers "Milchwald" war es mir nicht möglich, eine Handlung, eine Geschichte zu erkennen. Ein Abend in Abwesenheit von Drama und in Abwesenheit von Schauspielkunst.
Bei Alexander Stutz` "Das Augenlid ist ein Muskel", wo man freilich auch gleich
von einer Schauspielerin überfallen wurde, die per Mikrofon den Zuschauer anzugehen angehalten war, wurde man dann durch die teilweise überraschend gute und sehr gute Schauspielkunst (insbesondere der beiden jungen Herren)
versöhnt, und es hätte eine Vergnüglichkeit werden können, wenn sich die Regisseurin noch mehr darauf eingelassen hätte, Situationen zu erspielen.

Ich vermute, meine Äußerungen sind sehr rigoros - ich bitte, sie auch als Ausdruck meiner Hilflosigkeit zu verstehen. Ich gehe weiterhin ins Theater und erhoffe Drama und Schauspielkunst.

Mit freundlichen Grüßen
Peter Ibrik
Berlin-Pankow
Lange Nacht, Berlin: Von Ästhetik abgeschreckt
Paula Thielecke hat ihren Job wirklich gut gemacht. Aber was Regie, Bühne und Kostüm da zusammengeschustert haben, hat mir wirklich nicht gefallen. Damit war ich wohl auch nicht alleine, aber vielleicht war das auch nur in meiner Bubble so. Ich verstehe ja die Idee, dass man das Theater auf die Theaterbühne holt. Aber muss das dann so laienhaft aussehen? Es bringt mir doch als Zuseher nichts, wenn ich von der ganzen Ästhetik vollkommen abgeschreckt bin. Einzig die Vulva hat einen guten Punkt bei mir getroffen, aber das kann es ja auch nicht sein.
Lange Nacht, Berlin: Ablassen
Sehr geehrter Herr Ibrik,

bei Ihrer Rückmeldung geht es ja gleich zu Beginn schon hoch emotional her und es vergeht gerade einmal ein Absatz, bis Sie mit Anschein der Objektivität über Können und Nicht-Können urteilen - in einer nicht gerade zimperlichen Manier, bei der ich mich frage was Sie denken würden, wenn so über Sie öffentlich geschrieben würde.
Ich habe jedoch das Gefühl, dass sie zum Ende hin schließlich auf das kommen, was sie eigentlich zu bemängeln versuchen und wesentlich persönlicherer Natur ist als die 'objektive Rezension' zu implizieren versucht: Habe ich es richtig verstanden, dass Sie von der gesamten Veranstaltung enttäuscht sind, da Sie sich etwas anderes erhofft haben? Das kann ja durchaus passieren - aber "Wat den eenen sin Uhl, is den annern sin Nachtigall".
Die woken Kids von heute nennen das Ablassen und sich Befreien von solcher Enttäuschung oder anderen negativen Gefühlen "Venting". Ich frage mich und Sie an dieser Stelle nur, ob ihre Rückmeldung hier und in dieser Form der richtige Weg dafür war.
Lange Nacht, Berlin: Ablassen von Enttäuschungen
#5: Gibt es irgendeine eine Verpflichtung als Nicht-Kid es den woken Kids von heute beim Befreien und Ablassen von Enttäuschungen gleichzutun, um als Mitglied der Gesellschaft akzeptiert zu werden? Vielleicht fällt es den woken Kids ja auch nur leichter, weil sie inzwischen so an Enttäuschungen und negative Gefühle gewöhnt sind, dass sie ihnen gegenüber eine unbewusste leck-Arsch-Stimmung entwickelt haben, was man etwas altmodisch auch als Ignoranz gegen Realität oder etwa Zynismus als Grundhaltung zum Leben bezeichnen könnte? Haben Sie auch einen konkreten Verhaltenvorschlag für den Herrn Ibrik? Sollte er lieber seine Enttäuschung von Theater - zumal so betont inszenierter vermeintlicher neuer Dramatik - durch Überfahren einer roten Ampel oder etwa durch anlasslose Meckerei mit einer Supermarktkassiererin befreit haben? - Jaja, Sie haben schon recht: vollkommen abwegig das dort zu tun, wo über Theater professionell Qualitätsurteile gefällt und vor allem solche gefällten mit geförderter Reichweite verbreitet werden...
Lange Nacht, Berlin: Rigorose Meinungen
Sehr geehrter Herr Staaks!

Ich danke Ihnen für Ihre Reaktion auf meinen Beitrag.
Ich denke, nachtkritik.de ist eine Möglichkeit, auch rigorose Meinungen zu äußern.
Ich meine schon radikalere Äußerungen gelesen zu haben.
Und es gibt doch zu Recht eine Redaktion, die....
Wenn Sie einen anderen Weg wissen sollten - ich wäre dankbar, wenn Sie das mitteilen würden.

Sie fragen, wie ich reagieren würde, wenn meine Arbeit mit einer "nicht gerade zimperlichen Manier" beurteilt würde. Ich würde meinen Zorn unterdrücken und nachdenken: Vielleicht ist in der Äußerung doch etwas, was der Verbesserung meiner Arbeit dienlich sein könnte. (Ich betone: Es geht um Arbeit, nicht um die Person.)
Und ich versichere Sie: Meine Verärgerung und meinen Zorn während und nach der Vorstellung aus Graz habe ich in vollem Umfange gar nicht auszudrücken
gewagt.

Was ich erwartet hatte, habe ich ausgedrückt:
Da es sich um Autorinnen- und Autorentage für das Theater handelt, habe ich Drama und Schauspielkunst erwartet. Was ich darunter verstehe, habe ich ausgedrückt - und ich maße mir an, das beurteilen zu können.

Bitte widersprechen Sie
und "Bleiben Sie fröhlich und gesund"!
Mit freundlichen Grüßen
Peter Ibrik
Lange Nacht, Berlin: Replik
Sehr geehrter Herr Ibrik,
vielen Dank für die Replik. Wie oft beim geschrieben Wort ist dieses Medium ein perfekter Nährboden für Projektion und Missverständnisse. Durch Ihre Antwort glaube ich, Ihre Sichtweise besser nachvollziehen zu können und fühle mich gleichzeitig in meiner Deutung bestätigt. Ich muss zugeben, ja, ich stoße mich vor allem an ihrer Kritik an der Grazer Inszenierung: "Die Darstellerin hatte Vergnügen daran, so wie sie ihre gelbes Gewackel wohl für Schauspielkunst hielt." Während der erste Teil zeigt, dass sie in Ihrer Kritik nicht zwischen Figur (mit Worten, die ihr von einer Autorin in den Mund gelegt wurden) und Darstellerin (der verkörpernden Künstlerin) unterscheiden können, ist der zweite Teil des Zitats im besten Falle schlechter Stil und im schlimmsten Fall eine, aufs Persönliche abzielende Herabsetzung.
Ehrlich gesagt muss ich etwas kichern, denn ich kann mir gut vorstellen, wie die Judith aus dem Text sich in diesem Falle frech vor Sie gestellt und provokant gefragt hätte, ob Sie so etwas auch einem ihrer männlichen Kollegen ins Gesicht gesagt hätten.
Womit wir beim zweiten und vorletzten Punkt meiner Gegenrede wären: In dem Stücktext von "Judith Shakespeare" geht es u.A. um einen mittelalten, sich mit allen Wassern gewaschen fühlenden Intendanten, der einer Frau um die dreißig seine angebliche Weisheit ausschüttet, sie belehrt, nicht ernst nimmt, herumschubst, runtermacht. Er habe das Wissen und niemand könne ihm das Wasser reichen, noch nicht einmal und erst recht nicht die unbekannte Schwester von William Shakespeare. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, doch die Art und Weise, wie Sie mit dem Begriff der 'Schauspielkunst' umgehen, lässt mich hieran denken. So gibt es "die Schauspielkunst" nicht und hat es noch nie gegeben. Nie gab es "den Standard" in der Ausbildung, "Schauspielkunst" war immer zu einem gewissen Grad divers, zu jeder Bewegung gab es gleichzeitig eine Gegenbewegung. Heute wie gestern, wie damals, wie in der Zukunft. Dabei ist es jedoch völlig legitim eine bestimmte Darstellungsweise zu bevorzugen, wir alle springen natürlich auf andere Dinge an. Daher das plattdüütsche geflügelte Wort. Aber wer seinen Geschmack als übergeordnete Norm durchgesetzt sehen will - der/die wird wahrscheinlich wenig Freude im zeitgenössischen Theater haben und weiter der Frage hinterhersinieren "Wann wird Theater endlich wieder wie es nie war?". Hier kann ich nur einladen, die vielen unterschiedlichen Stile und Ausdrucksformen zu erforschen, denn in diesem bunten Wirrwarr gibt es so viele Schätze und Überraschungen zu finden.
Zu guter Letzt: Es waren die Autor*innentheatertage - hier stehen die Autor*innen und deren Texte im Vordergrund. Die Erfüllung des Textes auf dem Theater darf dabei natürlich nicht fehlen. Dabei ist eine Inszenierung doch stets eine der vielen möglichen Umsetzungen - die 'eine, richtige' Umsetzung des Textes gibt es jedoch nicht. Umso spannender ist es, sich im Vorfeld mit den Gewinnertexten auseinanderzusetzen und nun das Spannungsfeld von "innerem Theater" beim Lesen und der Fantasie des Leading Teams und des Ensembles in der Inszenierung zu Erforschen. Das ist der ausgesprochene Fokus dieser Veranstaltung, der Kontext, in dem die Aufführungen stattfinden und unter dem es sie zu betrachten am lohnenswertesten ist. Wenn Sie "Schauspielkunst" sehen möchten, so werden sie vielleicht einfach bei einer Veranstaltung wie beim Berliner Theatertreffen glücklicher.

Zu allerletzt: Das Wort verbieten wollte ich Ihnen auf keinen Fall, ich hoffe, das haben Sie auch so aufgefasst. Wenn Sie Ihrem Zorn Ausdruck verleihen wollen, dann machen Sie das - auf jeden Fall! Aber benennen Sie das auch so, denn nicht jedes "Ich finde, dass" ist ein "Das ist so". Alter Intendantenfehler. (Jedenfalls der bei Judith)

Mit den besten Grüßen,
Timo Staaks
Lange Nacht, Berlin: Handlungsabsichten
Sehr geehrter Herr Staaks!

Ich bin animiert, Ihnen sofort zu antworten!

Ich habe in meinen Texten deutlich gemacht, sie sind subjektiv und nicht frei von
einem Anteil an Emotionalität.

Ich verstehe unter Schauspielkunst: Eine Darstellerin oder ein Darsteller oder mehrere spielen (!) Figuren mit Handlungsabsichten und mit deren Veränderung.
Das ist seit der Antike so.
Eine Darstellungsweise ist - so erlaube ich mir zu meinen - die Zusammenführung
von Schauspielerinnen und Schauspielern zu einer Inszenierung, wobei die Unterschiedlichkeit der Persönlichkeiten positiv zu Buche schlagen kann. Aber auf jeden Fall sollte gespielt werden.
Und es können zu unterschiedlichsten Zeiten die unterschiedlichsten Theaterformen entstehen - und sie sind entstanden - aber immer war Spiel als künstlerische Äußerung die Voraussetzung.

Ihrer Meinung nach kommt es bei den Autorentagen in erster Linie auf den Text an, Spiel und Inszenierung seien also mindestens zweitrangig. Autorinnen und Autoren sollten lautstark protestieren. Dann könnte man doch einfach nur Lesungen machen. Der Vorzug der Autorentage ist doch, dass Texte, die für die Aufführung auf der Bühne geschrieben sind, auch dort ausprobiert werden dürfen.
Und je besser die Schauspielkunst, also die Fähigkeiten der Spieler und die Erfahrung der Regisseurinnen und Regisseure, desto mehr Gewinn wird für die Texte herauszuholen sein.
Wenn die Kenntnis des Textes, also das Lesen, für den Zuschauer die Voraussetzung für den Besuch der Vorstellung werden sollte, so bedarf es einer anderen Organisationsform für die Autorentage. Kann das ein Theater leisten?

Das, was Sie über den Inhalt von "Judith Shakespeare..." schreiben, habe ich auf der Bühne nicht sehen können. (Und - am Rande - damit bin ich in "guter Gesellschaft" - siehe die Presse-Ausschnitte oben.) Über den Text an sich habe
ich kein Urteil, ich habe ihn nicht lesen können. Wo hätte es denn eine Möglichkeit gegeben?

Wenn Sie mein Urteil über die Frau, die vorgab Judith zu spielen, als Angriff auf die Person verstehen, dann verstehen Sie recht. Es wurde nicht gespielt. Ich konnte nicht anders als die gesprochenen Worte wie eine private Aussage der Frau verstehen, die dort auf der Bühne stand.
Wenn Sie mir aber unterstellen und dabei die fiktive Figur Judith vorschicken (die es nicht gegeben hat), ich hätte einen männlichen Darsteller anders beurteilt, so ist das eine Unverschämtheit. Damit wird Ihre gesamte Äußerung in hohem Maße unseriös.

Mit Grüßen
Peter Ibrik
Lange Nacht, Berlin: Hinweis
Die TAZ dazu:
https://taz.de/Neue-Texte-nah-am-Siedepunkt/!5859465/
Lange Nacht, Berlin: Texte verheizen?
#9 und #10: In Ihren beiden Beiträgen kristallisiert sich eine Schwäche sämtlicher AutorInnen-Theatertage (Veranstaltungsreihen, die der Vorstellung neuer Dramatik dienen sollen) heraus: Wir tun so, als käme es nur auf die Texte an, aber wir probieren sie in Wirklichkeit nur aus. Allerdings probieren wir sie nicht richtig aus, d.h. erst mal b l i n d dem Text einer/eines "neuen" AutorIn/Autors vertrauend auf Probebühnen OHNE Publikum, sondern vor Publikum. Schlechte Ur-Inszenierung? Merkt man ja nicht, wenn den Lese-Text keiner im Publikum kennt - Tja, Pech für den/die Neuen... Wir verheizen also Texte von neuen, bislang unbekannteren AutorInnen(- und damit diese in persona), indem wir sie möglichst preiswert für die Theaterverlage als lohnende Ankaufmasse gezielt ausprobieren auf Wirkung beim Publikum. So bekommen wir ganz bestimmt richtig Relevanz ins Spiel und diverses Publikum ins Theater auch außerhalb von extra-AutorInnen-Theatertagen...
Lange Nacht, Berlin: Hinweis
Vielleicht wäre es hilfreich zu wissen, dass es sich bei Herrn Staaks nicht um einen "unbedarften" Zuschauer handelt, sondern um einen Theaterpädagogen des Grazer Schauspielhauses...
Lange Nacht, Berlin: Nichts Schöneres
Sehr geehrte Frau Hathaway! Danke für den Hinweis. Ich hatte es schon selbst entdeckt: Das internet weiß alles - oder beinahe alles. Aber hätte Herr Staaks, wenn er schon eine solche Position inne hat, nicht ein besseres Deutsch schreiben können und bessere Argumente zur Hand haben können?
Für den Absender von "Kunst und Freiheit": Warum halten Sie sich anonym? Und: Es ist ein Irrtum: Man kann einen Text, der für die Bühne und für die Aufführung durch Menschen vor Menschen geschrieben ist, nicht auf einer leeren Probebühne ausprobieren. OHNE ZUSCHAUER FINDET THEATER NICHT STATT!

Und noch eine Beobachtung:
Ich habe wenige Tage nach den Autorentagen am selben Orte, nämlich im Deutschen Theater, die letzte Vorstellung von "Die Wildente" (Ibsen) gesehen. Ich kannte die Aufführung schon. Und es war wieder ein Genuß: Fünf sehr gute Schauspieler spielten ein rigoros aber sehr sinnvoll gekürztes DRAMA, sie handelten als Figuren in Situationen , die eine Geschichte voran brachten - wenn man so will, war das ganz konventionell. Aber bemerkenswert war: Es waren überwiegend junge Zuschauer im Saal, die aufmerksam dem Spiel folgten (es gab keine "falschen" Lacher), es gab einen langen Applaus und - das war auffällig - sie standen nach der pausenlosen Vorstellung vor dem Theater und diskutierten offenbar über das, was sie gesehen hatten: Sie hatten ein Erlebnis gehabt, das sie beschäftigte -
was kann man sich Schöneres denken.

Mit freundlichen Grüßen
Peter Ibrik
Berlin-Pankow
Lange Nacht, Berlin: Probieren vorgespielt
Antwort auf die Frage von Herrn Ibrik an mich:

Lieber Herr Ibrik – ich halte mich anonym, weil ich unter meinem Echtnamen- auch hier - mich schon genug herumgestritten habe mit Intendanten, RegisseurInnen, KulturjournalistInnen, DramatikerInnen und LektorInnen. Mich langweilt das entsetzlich, dass die einfach nicht mit KONKRETEN Fragen zu meinen KONKRETEN Gegenentwurf-Texten reagieren. Wenn sie schon reagieren, was sozusagen schon der Gipfel des Anstandes ist, den ich so unverschämt bin, nicht als solchen hinreichend würdigen zu können...

Ich meine, wenn das drei Jahre so geht – okay. Zehn – ja gut. Aber bei 30 Jahren wird’s doch langsam lächerlich und zum Fremdschämen...

Was die Probebühne zum blinden Ausprobieren NEUER Texte, die behaupten, Dramatik zu sein, anlangt, haben wir uns entweder missverstanden oder sind unterschiedlicher Auffassung über die Bedeutung von Proben für neue Dramatik. Ich bin tatsächlich der Auffassung, dass man nur merkt, ob ein neuer Dramen-Text zu Theater und mithin für Publikum taugt, wenn sich herausstellt, dass er beim Zusammenspiel funktioniert. Dass er Handlung und Körperbewegung nur durch den Text zwingend vorantreibt, wenn man ihn in Rollenbesetzung spricht und dass er Zusammenspiel von SchauspielerInnen innerhalb einer Szene nahezu erzwingt. Sogar dann, wenn zunächst der Inhalt des Textes oder die Bedeutung einer Szene für den Handlungsverlauf von den SpielerInnnen gar nicht vollständig erfasst wurde oder unbefriedigend unerschlossen bleibt fürs Erste... Ob ein NEUES Drama funktioniert, merkt man nur beim Probieren, bei Verständnis-Fragen kann man als AutorIn zur Verfügung stehen. WENN es auf der Probebühne funktioniert, dann kann man die weitere Theatermaschine anschmeißen und es dem Publikum zumuten, weil es dann einen geistigen Mehrwert für ALLE Beteiligten, sogar für das Publikum!, enthält.

Das Problem der Aurorentheatertage ist m.E., dass die Auszeichnung für AutorInnen darin besteht, überhaupt erst einmmal probiert zu werden und dass eine der Probebühne von der Sache her NACHgeordnete Instanz über die Auswahl entscheidet, was NEUE Dramatik ist und was nicht.

Es wird also dem Publikum Probieren vorgespielt, aber im Sinne von Theater als solchem nicht probiert. Die Autorentheatertage sind ein – sehr gutes - Markt-Instrument, aber kein Instrument zur Entdeckung neuer Dramatik – Man darf es aber nicht sagen! Das stört nämlich den Markt, der so seit vielen Jahren wie geschmiert läuft. Wäre dem nicht so, wüssten Sie längst wie ich heiße.

Das große Problem für NEUE Dramatik scheint mir, wie sie BLIND und also UNVOREINGENOMMEN an SchauspielerInnen und Probebühne kommt: Ohne reine Lese-Vorauswahl durch DramaturgInnen, ohne Jury mit ihren individuellen Präferenzen, ohne Verlag mit Verkaufsabsichten und Absatz-Vororientierung, ohne Privatbeziehungen über TheatermitarbeiterInnen oder JournalistInnen, ohne Patenschaften zwischen Hochschule und Theater... Leider konnte ich in mehr als 30 Jahren dieses Problem nicht lösen, war aber so frei, es zu probieren-

Danke für Ihren Einwand, Herr Ibrik. Ihnen und auch den diensthabenden Mitarbeitern, die hier sich wieder durch die Kommentare lesen, einen guten Sonntag.
Lange Nacht, Berlin: Puddingpulver
Nochmalige Antwort an "Kunst und Freiheit"

Die Aufdeckung Ihrer Identität interessiert mich nicht.

Ich meine aber:
Ein erfahrener Dramaturg und natürlich eine ebensolche Dramaturgin und desgleichen Regisseure und -innen (wie albern scheint unser Umgang mit der deutschen Sprache noch zu werden?), die das Theater meinen und nicht nur den eigenen Erfolg, sind in der Lage beim aufmerksamen Lesen eines Textes eine Entscheidung darüber zu treffen, ob der Text auf der Bühne durch Spiel ausprobiert werden sollte - Irrtümer immer möglich.
Die "eleganteste" Variante ist dann immer noch: Eine mißlungene Inszenierung nach einigen Vorstellungen abzusetzen. (Intendant Thomas Langhoff - nur so zum Beispiel - hat das mit seiner Inszenierung von "Die lustigen Weiber von Wiesau" weiland getan.)
Die Absetzung muß einen anderen Versuch nicht ausschließen.
Man kann auch sagen: "Der Pudding erweist sich beim Essen!"
Zu große Umständlichkeiten können auch das beste Puddingpulver verderben.

Mit freundlichen Grüßen

Peter Ibrik
Lange Nacht, Berlin: Puddingpulver
Lieber Herr Ibrik, Sie wollten wissen, WARUM ich mich anonym halte. Das habe ich begründet und ich kann mit Ihrem persönlichen Desinteresse an einer Aufdeckung meiner Identität sehr gut leben.

Da es inzwischen in der Tat Regisseure und Regisseurinnen gibt, Dramatiker und Dramatikerinnen usw. kann man doch, spricht man nicht allgemein, sondern persönlich, ruhig umständlich sein. Ich bin keine ideologisch motivierte Genderfanatikerin, aber mag höfliche Umgangsformen und auch gegenwärtigen unleugbaren Tatsachen gerecht werden. Das ist aus meiner Sicht dann kein zunehmend alberner Sprachgebrauch (auch wenn das bei Nennung von Titeln und Amtsbezeichnungen ebenfalls angewandt unsäglich unsinnige Blüten treiben kann)...

Natürlich kann man sagen, dass ein Pudding sich beim Essen erweisen würde. Das Problem ist nur, dass ein Drama kein Puddingpulver ist. Wäre es eines, hätte ich mich auf die Herstellung von Puddingpulver verlegt. Das kann ich zwar auch herstellen - ich schwöre, es ist keine Kunst!, bin aber noch nie auf die Idee gekommen, hausgemachtes Puddingpulver in ein Theater oder einen Verlag zu schicken.

Das Problem ist m.E., dass es auch sehr erfahrene Dramaturgen oder Lektorinnen oder dergleichen geben kann, die durchaus nicht aufmerksam lesen. Oder beim aufmerksamsten Lesen trotzdem nicht verstehen, warum der Text eben entgegen ihrer bisherigen Erfahrung trotzdem funktionieren könnte. Oder die trotz ihrer Erfahrung eben nicht mehr das Theater als solches meinen, sondern ihren eigenen Erfolg an und mit diesem Theater, an dem sie - gut bezahlt in der Regel - beschäftigt sind.

Langhoffs einstige Lösung des Absetzens, die wir ja heute oft erleben, ohne dass das explizit so genannt wird, ist gewiss eine elegante Marktlösung für dieses Beispiel-Stück. Die Frage ist: Wie kam Langhoff zu dem Stück und warum ist es ihm nicht während der Proben aufgefallen, dass das nix so richtig wird?

Wir sind also unterschiedlicher Ansicht, was die Instanzen betrifft, die über die Tauglichkeit eines NEUEN Dramentextes für Theater ENTSCHEIDEN:

Für Sie sind das die Dramaturgen und Dramaturginnen.

Und für mich sind das Schauspieler und/oder Schauspielerinnen auf der Probebühne, die bereit sind, bei plötzlich auftretenden Körperblockaden beim Textlesen/-sprechen, die aus mangelndem Verständnis kommen, dem Autor/der Autorin des Textes Fragen zum Text - und zu nix sonst - zu stellen.
Für Sie ist das für Theater unnützer Umstand.
Und für mich ist genau das der kürzeste und wahrhaftigste Weg zu einem Theater, das ich meine.

Freundliche Grüße an Sie ebenfalls
Lange Nacht der Autor*Innen, Berlin: Fischer Fritz in Leipzig
FISCHER FRITZ heute Abend in Leipzig hat mich sehr überzeugt. Ein aussergewöhnlicher Text der Gegenwartsdramatik von Raphaela Bardutzki, narrativ, situativ, Figuren. Klug inszeniert mit drei Spielerinnen. Zurecht großer Applaus.
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