Apropos Wüste

24. Juni 2022. Das Wort "Solastalgie", eine Erfindung des Umweltphilosophen Glenn Albrecht, bezeichnet den Schmerz, wenn sich unsere Welt zum Schlechten verändert oder verschwindet. In ihrer letzten Performance wandeln THE AGENCY wie Avatare in einem Computerspiel durch die Zeit nach der Zeit – wenn der Planet endgültig zerstört ist. 

Von Martin Jost

"Solastalgia" von THE AGENCY in der Lothringer 13 Halle München © Philip Frowein

24. Juni 2022. Der Wüstensand wird dargestellt von Kalziumkarbonat-Granulat und da sind wir schon mitten im Thema. Die weltweite Sandkrise ist nur ein Beispiel für unseren rücksichtslosen Umgang mit endlichen Ressourcen. Die Performance-Gruppe THE AGENCY benutzt für "Solastalgia" lieber Kalziumkarbonat, als echten Sand anzukarren. Runde 21 Tonnen CaCO3 – was nach mehr klingt, als es aussieht. Es reicht für eine Sandinsel in der Mitte der Halle, in die die Performer:innen bequem etwa knöcheltief einsinken können.

Eine Welt nach der Klimakatastrophe

THE AGENCY haben in der Lothringer 13 Halle "Nurturæl" kuratiert. Die Ausstellung befasst sich mit möglichen Formen des Überlebens und Zusammenlebens in einer Welt nach der Klimakatastrophe. Sie zeigt zwei Video-Arbeiten von Kanako Azuma, einen Film von Sarah Doerfel, ein Objekt von Nile Koetting und, im größten Raum, die Installation "Solastalgia", die THE AGENCY auch als Kulisse für die gleichnamige Performance nutzt.

Im Ausstellungstitel "Nurturæl" steckt ein Wortspiel mit drei Bedeutungen: to nurture im Sinne von ernähren oder versorgen; Nature; sowie "real" als Gegensatz zu fiktiv. Das wissen wir aus dem 70-seitigen Reader zur Ausstellung, den man von der Lothringer-13-Website herunterladen kann. Das Konvolut ist Ausstellungskatalog, Protokoll einer Gesprächsreihe im Vorfeld der Ausstellung sowie Dokumentation einiger Inspirationen für die Arbeit "Solastalgia". Seine Mischung aus International Art English und Theory kann sowohl abschrecken als auch anregen. Wir jedenfalls hätten ohne ihn ziemlich in der Wüste gestanden. Schon weil alles auf mehreren Ebenen etwas bedeutet. Zum Beispiel steht das Kalziumkarbonat nicht bloß für Sand. Es ist auch ein Abfallprodukt unserer Bemühungen, das Klimagas CO2 unschädlich zu machen und so unseren Raubbau an der Atmosphäre einzuhegen. Und ja, das wissen wir, weil der "Nurturæl"-Reader auch Texte über Kalziumkarbonat enthält.

Solastalgia3 Philip Frowein uDie Challenge mit der Natur © Philip Frowein

In der Wüste liegen drei Figuren in Embryostellung, komplett in Ballonseide eingewickelt. Aus den Lautsprechern tobt minutenlang ein Sandsturm. Auf die Stroboskopblitze folgt Donner. Die Nebelmaschine rödelt, als gäbe es kein Morgen. Der Nebel steht für Wüstenstaub und die Sicht bleibt die ganze Vorstellung über schlecht. Nach einigen verzerrten Radiotönen über die Katastrophen der Zukunft hören wir eine Stimme sagen: "Solastalgia will prepare you for the loss of your world." Was wir sehen, ist ein Computerspiel. Challenge Gumbodete, Kate Strong und Liina Magnea sind die Avatare, die im Spiel zur Verfügung stehen. Die drei sind aufgestanden und präsentieren sich roboterhaft-eckig in wechselnden Kraftmeierposen der unsichtbaren Spieler:in. Die weibliche Stimme aus den Lautsprechern stellt sich vor: "I am nature, your game supervisor."

Fünf Trauerphasen im Computerspiel

Das Wort "Solastalgie" hat der Umweltphilosoph Glenn Albrecht 2003 geprägt. Es bezeichnet den Schmerz, wenn sich unsere Umwelt – unser Zuhause – zum Schlechten verändert oder verschwindet. In der Performance "Solastalgia" ist es der Name des Computerspiels, für das sogar ein retro-styliges Werbeplakat im Hof der Lothringer 13 klebt. Die Stimme von "Nature" zählt von Zehn herunter, während das erste Level lädt. Es heißt "Denial". Die fünf Level entsprechen den fünf Phasen der Trauer nach Elisabeth Kübler-Ross. Die Avatare stapfen durch den Sand. Das Knistern ihrer Kostüme übertönt fast die Gameplay-Musik. Sie bewegen sich eckig und redundant, eben wie Figuren in einem Computerspiel. In diesem Level hoffen sie noch auf das Beste und fahren Auto. Spielerisch stehen sie dafür hintereinander und rütteln mit dem ganzen Körper.

Zwischendurch hören wir einen Werbespot für "Blue Skies", eine Gute-Laune-Pille gegen "Ecosystem Distress Syndrome". Und eine Hitzewarnung: Es könnte tagsüber 70 Grad warm werden "in der zentraleuropäischen Wüste". Apropos Wüste, auch so ein Wort, das im Metatext für etwas anderes steht als im Alltag. Die Anthropologin Elizabeth Povinelli sagt in einem Interview im Reader: "I am not discussing actual deserts [...] but rather how the desert is deployed as a symptom and a figure of the collapse of a form of governance." Heißt das konkret, wo eine Gemeinschaft sich nicht auf den Abschied vom Auto verständigen kann oder sich keinen Kohleausstieg verordnen lässt, bleibt nur verbrannte Erde?

Sie kämpfen sich durch den Sand

Im Mittelpunkt des Textes von Povinelli steht ihr Konzept der "Geontopower". Damit beschreibt sie eine Art der Macht oder Gewaltausübung, die darauf baut, dass wir die Welt streng in Belebtes und Unbelebtes trennen. Dieses binäre Denken bedroht nicht zuletzt kolonisierte Gesellschaften. Wenn man zum Beispiel 21 Tonnen Sand im Baumarkt kauft, dann muss dieser Sand irgendwo auf der Welt abgebaut worden sein. Die Nachfrage nach Sand durch die Industrie ist inzwischen so groß und der Rohstoff so rentabel, dass für seine Gewinnung Land zerstört wird, das die Lebensgrundlage für Menschen bildete und darüber hinaus Teil von komplexen Ökosystemen war.

Selbst Kalziumkarbonat ist auf den ersten Blick Abfall. Münchner:innen begegnet es im Alltag als harte Kruste in ihrem Wasserkocher, nachdem sie eine Tasse Wasser gekocht haben. Dabei nutzen es auch Tiere, um Eierschalen oder Perlen zu bauen. Wenn die Meere wärmer werden und gleichzeitig mehr CO2 aufnehmen (Stichwort: Kohlensäure), dann lösen sich die Korallen genau so auf wie die Kruste im Wasserkocher beim Entkalken. Die CaCO3-Kügelchen sehen im goldgelben Bühnenlicht aus wie Maisgries und sie reiben rau, wenn die drei Performer:innen sich durch den Sand kämpfen. Ihr Text kommt aus den Lautsprechern. "Make sure you’re carrying your manual": Das Zitat entstammt Abinadi Mezas Text “Manual for a future desert”. Ein guter Tipp, denn ohne den Reader als Reiseführer hätten wir wenig Zugang zur Performance. Dabei sind die kopflastigen, zum großen Teil englischen Texte nicht gerade ein niedrigschwelliger Dolmetscher für die ebenfalls hauptsächlich englischsprachige Performance.

Solastalgia4 Philip Frowein uEntschlossen, alle Level durchzuspielen © Philip Frowein

Die Level des Computerspiels werden alle mit einem Countdown angezählt. In Nummer zwei, "Anger", gibt es Dialog, wieder aus dem Off. Die Avatare bewegen nicht den Mund dazu, sondern wackeln und zucken im Rhythmus der Silben. Level drei: Depression. Eine Avatarin isst Sand, allerdings so plakativ, dass es wohl eher ein Hilferuf war. Sie behält Challenge Gumbodete dabei ganz genau im Auge. Der reagiert auch, schrubbt ihr den Mund aus und hält sie im Arm. Dann singen alle drei mehrstimmig immer wieder vier Silben. Nach einer Weile verstehen wir: "So-las-tal-gia". Level vier, "Negotioation": Die Avatare zucken und wälzen sich viel durch den Sand, ziehen sich ihre Kostüme über den Kopf, der Sand knirscht, die Ballonseide knistert, die Nebelmaschine staubt, uns kratzt es in der Kehle beim Schlucken. Die Bewegungen sind nicht tänzerisch, sondern trocken und es mangelt ihnen schnell an neuen Impulsen.

Die nach-menschliche Lebensform

"Das Publikum", heißt es im Reader, "ist eingeladen, das Spiel zu betrachten." Warum ist es nicht zu mehr eingeladen? THE AGENCY hat viele immersive Performances realisiert, die auf das Mitwirken ihrer Gäste angewiesen sind. Diesmal stehen rund 50 Zuschauende mit verschränkten Armen locker um die (B)Dü(h)ne herum oder haben sich auf den Boden gesetzt. Das Spiel mit dem Begriff "Spiel" – Performer spielen Avatare in einem Spiel, das mutmaßlich irgendjemand spielt – wirkt wie eine Einladung. Warum darf nicht mal das Publikum die Avatare steuern?

"Nurturæl" ist mit sehr spannenden Ideen aufgeladen und der Metatext ist ein Fundus für wichtige Überlegungen. Ausgerechnet die Performance "Solastalgia" transportiert davon kaum etwas. Die letzte Stufe im Spiel heißt nicht, wie bei Kübler-Ross, "Acceptance", sondern "Incorporation". Die Avatare verschwinden bis zum Applaus durch eine Tür, sie "verkörpern" vermutlich jetzt eine nach-menschliche Lebensform. Uns haben sie leider nicht mitgenommen.

 

Solastalgia
Performance im Rahmen von "The Agency präsentiert: Nurturæl"
Von und mit: Challenge Gumbodete, Kate Strong, Liina Magnea.
Künstlerische Leitung: THE AGENCY Belle Santos, Sofie Luckhardt, Yana Thönnes,
Klanggestaltung: Nile Koetting, Nozomu Matsumoto, Künstlerische Produktionsleitung: Sofie Luckhardt, Technische Leitung, Mitarbeit Bühne: Amina Nouns, Outside Eye: Sarah Johanna Theurer, Künstlerische Mitarbeit: Veronika Müller-Hauszer, Szenographische Unterstützung: Nevo Bar, Sprecherin: Mona Vojacek Koper, Technik, Licht und Sound: Martin Siemann, Joannis Murböck.
Mit Zitaten von: Abinadi Meza, Maggie Nelson, Timothy Morton
Premiere am 23. Juni 2022
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

lothringer13.com

 

Offenlegung: Der Autor ist im Hauptberuf Angestellter der Münchner Volkshochschule GmbH. Deren Gesellschafterin, die Landeshauptstadt München, betreibt den Kunstraum Lothringer 13 und hat das besprochene Werk gefördert.

 

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