Hier wird nicht gespielt werden

10. Juli 2022. "Sie werden kein Schauspiel sehen." Die ersten Worte von Peter Handkes "Publikumsbeschimpfung" sind genau so berühmt wie die Uraufführung des Stücks 1966. Das Phoenix Festival, dessen Ziel es ist, verlassene Kulturstätten wieder aufleben zu lassen, produziert im Theater Erfurt eine Neuauflage des berühmten Textes in der Regie von Jakob Arnold: Es gibt Wasser und Wein, Beschimpfung und Gesang.

Von Iven Yorick Fenker

"Publikumsbeschimpfung" von Peter Handke in der Regie von Jakob Arnold im Rahmen des Phoenix-Festivals am Theater Erfurt © Anna Spindelndreier

10. Juli 2022. "Na, bist du auch hier, um dich beschimpfen zu lassen?", fragt jemand. Dann hallt es im Eingangsfoyer des Erfurter Theaterkomplexes. Joshua Hupfauer, Protagonist und einziger Schauspieler des heutigen Abends, hat sich unter das Premierenpublikum gestohlen. Nun hat er begonnen zu sprechen: "Sie werden kein Schauspiel sehen." Mit dem ersten gesprochenen Buchstaben erschafft er den Abend. Er wird ihn von hier an bestimmen. Seine Stimme ist raumfüllend. Der Widerhall verliert sich in dem weitläufigen Theaterneubau. Nach der proklamierenden Vorrede ("Sie werden kein Spiel sehen. Hier wird nicht gespielt werden.") verteilt er oberflächliche Komplimente ("Sie sehen bestechend aus!"), die messerscharf vorgetragen und in Sekundenbruchteilen adressiert sind. Die Souveränität seines schauspielerischen Vermögens ist beeindruckend, und in der Traube der Besucher:innen hebt sich die Stimmung, während die Spannung steigt. Es ist klar, wie der Titel verspricht, dass da noch etwas kommen wird.

Prolog für das Publikum

Zum Beginn also, ganz werkgetreu ohne großen Auftritt: die Vorrede des Sprechstücks von Peter Handke, in dem es gegen und für das Theater geht und das 1966 von Claus Peymann in Frankfurt uraufgeführt wurde. Diese erste Inszenierung und die Aufnahme des Hessischen Rundfunks sorgten damals gleichzeitig für Aufregung, Protest und Begeisterung und sind schließlich legendär geworden. Oder um es anders zu sagen: Diese Inszenierung ist mit ewiger Tinte in die (deutschsprachige) Theatergeschichte eingeschrieben. Im letzten Jahrhundert reichte es noch, aus den (vermeintlichen) Bühnenkonventionen herauszutreten und in Richtung Bühnenrampe zu sprechen, statt zu spielen. Heute ist diese Pose schon fast Postdramatik-Kitsch.

Joshua Hupfauer sagt: "Nun sind sie voreingenommen", dann führt er die Zuschauer:innen die Wendeltreppe hinunter und, nach mehreren Abbiegungen, schließlich auf die Hinterbühne, wo ,inmitten von an den Wänden lehnenden Bühnen- und Requisitenteilen, mehrere gedeckte lange Tafeln stehen. Es gibt Wasser und Wein, jede:r schenkt sich etwas ein und macht sich bereit.

Publikumsbeschimpfung3 805 Anna Spindelndreier uJoshua Hupfauer und Technikteam an den Tafeln der Publikumsbeschimpfung © Anna Spindelndreier

Aber warum nimmt sich das Phoenix 2.0 Festival, als einzige Eigenproduktion neben Gastspielen, die "Publikumsbeschimpfung" vor? Gerade in der Musiktheater-Bastion Erfurt, wo es das Schauspiel schwer hat, sich zu behaupten, sollte es doch darum gehen, Publikum für das Sprechtheater zu gewinnen, nicht es zu beschimpfen.

Das Festival hat sich vorgenommen, sich für das Schauspiel einzusetzen, zahlreiche Workshops im Programm zeugen davon. Gelingt dies aber auch mit diesem Besserwisser-Text, der sich immer wieder in den ewig gleich vorhersehbaren, neunmalklugen Nuancen verliert?

Im Herzen des Theaters

Das tut es. Denn das, was sich dann an diesen Tafeln entwickelt, ist eine Feier des Theaters und seines Publikums. Natürlich ist die Situation immer noch nicht gelöst. Die Gäste sind noch etwas verhalten und steif, aber diese Spannung ist nicht unproduktiv. Sie entsteht aus den Setzungen des Abends und sie wird getragen von den Sätzen.

Die Inszenierung von Jakob Arnold ist auf allen Ebenen sehr genau, besonders sprachlich ist der Zugriff unaufdringlich, aber klar. So wird zum Beispiel auf die werkgetreue Wiedergabe der NS-Tätersprache in den Schlussmonologen verzichtet (Peter Handke benutzte fürs Finale vor allem Nazi-Vokabular). Dieser Verzicht ist zeitgemäß. Denn antisemitische Narrative provozierend zu benutzen, um über das Theater nachzudenken? Das würde man heute nicht mehr machen. Hier jedenfalls nicht und das ist gut so.

Publikumsbeschimpfung2 805 Anna Spindelndreier uDaniela Gerstenmeyer bringt das Musiktheater in die Publikumsbeschimpfungen © Anna Spindelndreier

Dass der Text für vier Sprecher:innen konzipiert ist und dass diese hier in einem zusammenfallen, so dass jede Aussage, die mit "Wir" beginnt, immer schon das Publikum umfängt, ist die grundlegendste Entscheidung dieser Inszenierung. Die Beste ist die Sitzsituation, die mit dem Text gut zusammengeht und nahelegt, dass dies keine Bühne sei. Obwohl es natürlich immer noch eine ist und gespielt wird. Und irgendwann funktioniert es dann, dass die Qualitäten des Textes, seine Poesie, seine komplexe Komposition zu wirken beginnen. Sich dem zu entziehen ist schwer.

Wirkungsmächtige Unterbrechungen

Nicht nur, weil man immer wieder von Joshua Hupfauer angesprochen oder auch mal beworfen wird, sondern vor allem, weil dieser Abend eine ernsthafte Einladung zum gemeinsamen Nachdenken über das Schauspiel ist, die auch das Musiktheater integriert: Immer wieder tritt die Sopranistin Daniela Gerstenmeyer zwischen die Reflexionstiraden des Sprechtextes, unterbricht sie mit Arien, begleitet von Ralph Neubert am Flügel. Das sind Auftritte, die eindrucksvoll beweisen, wie wirkmächtig Musiktheater ist. Dieser Abend zeigt, was Bühnenkunst als Ganze zu bieten hat.

 

Publikumsbeschimpfung
von Peter Handke
Regie: Jakob Arnold, Bühnen- und Kostümbild: Christian Blechschmidt, Dramaturgie: Hanns-Dietrich Schmidt.
Mit: Joshua Hupfauer (Spiel), Daniela Gerstenmeyer (Gesang), Ralph Neubert (Klavier).
Premiere am 9. Juli 2022
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.phoenixfestival.de

 

Kritikenrundschau

Bald 60 Jahre nach der Uraufführung tauge die "muntere Theater- und Sprachkritik Peter Handkes" nicht mehr für einen Skandal, schreibt Michael Helbing in der Thüringer Allgemeinen Zeitung (11.7.2022). Joshua Hupfauer, von der Folkwang-Hochschule und mit 23 Jahren so alt wie Handke 1966, eigne sich den Text an, komme dem Publikum nahe, "zweifelt und verzweifelt: an uns, an sich". Regisseur Jakob Arnold habe das Stück „klug, sinnlich, heiter verdichtet“. Er inszeniere "gegen Handkes Strich und für ein Theater, das im Wortsinn jeden einzeln anspricht und berührt, mit Augen, gar mit Händen".

Kommentare  
Publikumsbeschimpfung, Erfurt: Satz Nr. 1
Der erste Satz in der Publikumsbeschimpfung lautet:
"Sie sind willkommen.".
Und der gibt dann den Abend vor, oder?
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