Das ham wir nicht verdient!

von Christian Rakow

Bochum, 6. Dezember 2008. "Nein", sagt eine Passantin in der Fußgängerzone, die Nokia-Werksschließung Anfang dieses Jahres sei eigentlich kein Thema mehr in der Stadt. Die kleine Bochum-Umfrage im Fernseher auf dem Bühnenkühlschrank ruckelt. Aber jetzt gebe es natürlich die Opel-Krise. Und – so mag man beifügen – die weltweite Rezession naht. Es wird also schon irgendwie passen, was Regisseur Frank Abt mit seinem Nokia-Projekt "Connecting People" gut zwei Stunden lang über die entfremdete Arbeitswelt und die abwandernden Industrien zu erzählen hat.

Ab ins Banalitätenkabinett!

Aber nichts passt an diesem Abend im Theater unter Tage, dem Bunker für theatrale Experimente im Bochumer Schauspielhaus. Zwischen Bücherwänden sitzend, blicken wir auf eine Einbauküche, in der drei junge Schauspieler (Karin Moog, Leopold Hornung, Marco Massafra) gefühlte zwanzig Kilo unbeschlagenes Recherchematerial (von Dirk Schneider) beherzt wegrezitieren. Ein ehemaliger Betriebsrat erläutert hastend die Produktionsabläufe bei NOKIA, während die Interviewerin an seinen Lippen klebt: "Hui, ja, toll!"

Wenn die Erinnerung nahe rückt oder es irgendwie persönlich werden soll ("Eine indiskrete Frage: Haben Sie schon einen neuen Job?"), wird seichteste Klassik für den melodramatischen Effekt eingespielt. Später dringt man tiefer ein ins Banalitätenkabinett der aufgesetzten Gesten. Zu Regensounds rücken die Drei unter einem Mülltonnendeckel eng zusammen (lies: Wir sind im Regen stehen gelassen worden; aber wir rücken – nun ja – eng zusammen). Bloß keine Scheu vor der Tautologie!

Ran an den Belustigungs-Brei!

Spätestens wenn die nach Osteuropa drängenden Unternehmer im schwarzrotgoldenen Flitterkostüm oder im John-Travolta-Night-Fever-Tanzdress unter Vodafone-Luftballons jubilieren und ihre üblichen Statements für Innovationsfreude und gegen Elitenneid abspulen, erstickt sich das Dokumentarprojekt im sämigen Brei des Belustigungstheaters. Zum Abschluss, nach langwierigen Umbauarbeiten für eine dann sehr kurze Reprise, sitzen wir auf Holzbänken bei Brezeln und Bier und lauschen dem ersten prägnanten, weil literarisch durchgearbeiteten Text: "In der Brötchenhölle" von Günter Wallraff. Die Darsteller stecken dazu unter einem blonden Wuschelkopf. "Ich bin Günter Wallraff, was gibt's da zu lachen?!" Geflüsterte Antwort einer Zuschauerin: "Scheiß Frisur".

Marx' bekanntes Diktum, demnach sich Geschichte stets als Farce wiederhole, ist anscheinend einem großen, unguten Teil der Gegenwartsdramatik zum Universalrezept für zeitgeschichtliche Fallstudien verkommen. Von der Ohne-Geld-Komödie "Genannt Gospodin" (vor Jahresfrist an selber Stelle) angefangen bis zum Kinkerlitzchen-Dokumentarspiel von Abt und weit darüber hinaus regiert im Stadttheater das breite Grinsen des Als-ob, wann immer Stoffe mit einer gewissen gesellschaftspolitischen Dimension angepackt werden. Was meinte noch einmal der Betriebsrat zur blitzschnellen Abwicklung seines Bochumer Werkes? "So abgespeist zu werden, auf diese Art und Weise – das haben die Leute nicht verdient".

 

Connecting People – ein Nokia-Projekt
von Frank AbtRegie: Frank Abt, Interviews: Dirk Schneider, Kostüme: Julia Ries, Dramaturgie: Dietmar Böck.
Mit: Karin Moog, Leopold Hornung, Marco Massafra.

www.schauspielhausbochum.de

 

Wir schauten uns von Frank Abt zuletzt Die innere Sicherheit und Sterne über Mansfeld in Hamburg an, außerdem wohnen. unter glas in München.

 

 

Kritikenrundschau

Dass sich Regisseur Frank Abt in "'Connecting People' noch einmal mit dem Nokia-Fall beschäftige, sei "gewiss löblich – kommt aber wohl ein paar Monate zu spät", glaubt Sven Westernströer von der Westdeutschen Allgemeinen (online 7.12.). Man merke der Inszenierung, in der alle Seiten zu Wort kämen, an, wie sehr Abt "händeringend darum bemüht ist, aus den ohnehin längst bekannten Argumenten für oder gegen die Schließung etwas theatralisch Wertvolles oder Erhellendes herauszukitzeln, ohne in Rührseligkeiten zu driften". Die Schauspieler brächten "all die Textberge gekonnt herüber, ohne die Turbo-Kapitalisten aus Finnland in ihrem unmoralischen Tun anzuprangern", allerdings hätte man sich doch "mehr Biss und Bitterkeit" gewünscht. "Abt möchte nirgendwo anecken, also verliert er sich in einer Reihe ungefährlicher Szenen, die nah an der Banalität vorbei schrammen." Fazit: "gut gemeint – aber leider nicht gut gemacht".

Rainer Wanzelius
zitiert in der Westfälischen Rundschau (online 7.12.) den ehemaligen Betriebsrat Rainer Gerk, der im Publikum saß: "Ja, sagt er nach der Vorstellung, so war sie, die Nokia-Welt. Er sieht sie und sich richtig widergespiegelt." Allerdings geht die Inszenierung nicht illusionistisch abschildernd vor: "Wenn vom Lötofen gesprochen wird, wird die Kaffeemaschine aus dem Wohnen unter Tage-Fundus benutzt." Illusionieren dürfe hier nur einer: der Nokia-Vizepräsident Arja Suominen, der "aus dem Bildfenster eines Riesen-Telefons" zur Ex-Belegschaft spreche. In "Connecting People" gehe es nicht bloß um Nokia, sondern "um Arbeit schlechthin. Um Arbeit und Ausbeutung. Um Arbeit, die krank macht. Um die sozialen Aspekte von Arbeit. Und um die psychischen und sozialen Aspekte von Arbeitslosigkeit." Allerdings sei es auch "ein Sehnsuchtsabend, eine Sentimentalität. Nokia, das war einmal."


In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (9.12.) warnt Andreas Rossmann das Theater davor, sich mit einer Zeitung zu verwechseln. So dicht es der Wirklichkeit auch auf den Fersen sei – diese sei immer schneller. Dringlicher als das "Nokia-Projekt" wäre inzwischen sowieso ein "Opel-Projekt" oder "WAZ-Projekt". Zumal für ersteres von Frank Abt auch keine "szenische Form" gefunden worden sei. In der von Kristo Sagor geführten Keller-Spielstätte des Bochumer Schauspielhauses ließe Abt "drei junge Schauspieler, begleitet von sentimentaler Klassik und unterbrochen von Video-Einblendungen, hampelnd und haspelnd Gespräche nachstellen und Wortmeldungen rezitieren": "dünnes Kabarettkonfetti". Später wurden Bier und Brezeln gereicht, und die Schauspieler hätten reihum eine Lockenperücke aufgesetzt und Günter Wallraffs Reportage "In der Brötchenhölle" vorgetragen ("heulen lassen"). Im Kontakt mit einem ehemaligen Nokia-Betriebsrat bliebe der Titel "Connecting People" "nicht bloße Ironie, das Theater aber blasser Abklatsch einer Wirklichkeit, vor der es hilflos die Waffen streckt."

Kommentare  
Abts Nokia-Projekt: für Ex-Nokianer unbezahlbares Geschenk
Das ist leider ein großer Unsinn, was Sie schreiben, Herr Rakow. Als Ex-Nokianer, also Betroffener also, kann ich Ihnen sagen, daß dieser Abend für mich und meine Kollegen ein unbezahlbares Geschenk gewesen ist. "Abgespeist" fühle ich mich eher durch eine Kritik, der es vollkommen wurscht ist, was diejenigen, um die es doch geht, von diesem Abend halten. Wie kann man nur so borniert sein, nicht zu erwähnen, daß die Premiere ein großer Erfolg war. Hätten Sie sich die Mühe gemacht, noch ein wenig sitzen zu bleiben und zuzuhören, was wir Zuschauer danach zu sagen hatten, würden Sie nicht so eklattant am eigentlichen Ereignis vorbei schreiben. Einfach dumm.
Trotzdem Grüße,
E. Henschel
Abts Nokia-Projekt: Wo war der Kritiker am 7.12.?
Die Kritik auf die neueste Inszenierung von Frank Abt in Bochum wirft bei mir zunächst nur eine Frage auf: wo war Christian Rakow am Abend des 07.12.08?
Im Theater unter Tage offensichtlich nicht, denn sonst hätte er von einem einzigartigen Theaterabend berichten können, bei dem der Zuschauer, der beruflich nicht unbedingt dem Kulturbetrieb angehört, von dort abgeholt wurde, was heute soziale Realität genannt werden muss.
Die schwierig nachzuvollziehenden Mechanismen und Abhängigkeiten einer globalisierten Arbeitswelt sind im Theater selten zu sehen. Anders formuliert: werden selten sichtbar gemacht. Warum? Gerade das, was uns in dieser Zeit so essentiell beschäftigt, gehört auf die Bühne, und zwar beispielsweise so, wie Frank Abt dies in Bochum so feinsinnig geschafft hat. Er tritt in den Hintergrund und holt dafür das ans Licht der Öffentlichkeit, was vielleicht Herr Rakow nicht unbedingt sehen mag, nämlich Menschen, die am heutigen ökonomischen und sozialen Druck zerbrechen.
Frank Abt aber zwingt uns, hinzusehen, auch dann, wenn es nicht unbedingt ästhetisch ist oder „literarisch durchgearbeitet“. Und geht noch weit darüber hinaus: er holt uns selbst behutsam auf die Bühne und setzt uns zusammen an einen Tisch. Hut ab vor so viel Mut.
Bemerkenswert, dass gerade die Kritik von Herrn Rakow das ganze Dilemma dieses Themas so sichtbar werden lässt, denn was für den einen Alltag und Leben ist, ist für den anderen „ein Banalitätenkabinett“.

Zum Schluss sei noch eine Frage erlaubt: worin sieht die Gegenwartsdramatik ihre Aufgabe? Frank Abt hat diese Frage in seiner Inszenierung auf spannende und neue Art beantwortet. Er bringt eine Dimension ins Theater, die gerade dort nicht fehlen darf. Zu teuer, nicht wettbewerbsfähig und ersetzbar – das sind Attribute, die heute nicht nur gewerbliche Produktionsstätten treffen können, sondern gerade dann auch das Theater (und seine Kritiker), wenn es die Menschen – Connecting people – nicht mehr verbindet und bewegt.
Abts Nokia-Projekt: das Theater ist keine Talkshow
Liebe Betroffene, liebe Bewegte,
ich glaube nicht, dass es Herrn Rakows Problem ist, dass er sich nicht mit dem Problem jener Menschen beschäftigen mag, "die am heutigen ökonomischen und sozialen Druck zerbrechen", sondern dass es ihm um die Umsetzung des Nokia-Stoffes geht, die er für unangemessen hält, weil sie ein eigentlich wichtiges Thema nur von der banalen Seite anpackt und lustig in Szene setzt, was einer ernsthaften Auseinandersetzung bedürfte. Es geht doch gar nicht darum, dass er das Thema oder das Problem von Nokia unerheblich fände. Nicht "Alltag und Leben" der Nokia-Leute, sondern die ästhetische Aufbereitung des recherchierten Materials zum Theaterabend bezeichnet er als banal.
Dass man überdies die Erwartung hat, im Theater auf Ästhetisches zu stoßen, ist doch selbstverständlich! Dafür ist es doch THEATER - und keine politische Talkshow oder Recherchesendung oder Betroffenen-Versammlung oder Leitartikel, sondern KUNST!!! Deshalb ist es auch völlig berechtigt, im Theater "literarisch durchgearbeitete" Texte zu erwarten.
Nokia-Projekt: Was aktuell passiert...
Darf man auch als Nichtbetroffener bzw. Nicht-Bewegter Banalität mit Realität verwechseln (s.o.)???
Hier helfen keine verschwurbelten Sätze und auch keine ins Künstliche überhöhte Darstellung. Das, was da aktuell passiert, wird nie ästhetisch werden, sondern bleibt unansehnlich, schmerzhaft und in seiner Alltäglichkeit vielleicht auch banal. So und nicht anders sollte es auch gezeigt werden.
Nokia-Projekt: selten fundierteren Kommentar gelesen
Selten auf Nachtkritik einen fundierteren Beitrag gelesen als den obigen von T. Jetter. Dieses Niveau wäre den professionellen Nachtkritikern durchaus zu wünschen! Wie geht dies eigentlich mit dem vielgescholtenen Goerden zusammen, dem man doch immer eine gewisse Gegenwarts-Verschlossenheit nachsagt? Bei Khuon wirds gelobt, in Bochum übersieht man es! Passt wahrscheinlich nicht in die theaterpolitische Strategie und Hauptkampflinie. Es erweist sich mal wieder: selber hingehen und sich ein Bild verschaffen!
F. Schlinge
Nokia-Projekt: relativ plumpe Meinungsbekundung
der beitrag nummer 2. ist ja nun wirklich alles andere als fundiert. ich, der die inszenierung nicht gesehen hat, kann dem beitrag in keiner art und weise entnehmen, WARUM der/die T. Jetter diese inszenierung so ganz wunderbar findet. es bleibt bei einer relativ plumpen meinungsbekundung. wenn der beitrag fundiert wäre, würde darin stehen, MIT WELCHEN MITTELN oder WIE abt die "soziale realität" ins theater holt. steht da aber nicht...
und mal abgesehen davon: theater ohne "soziale realität" gibt's nicht, oder: was ist eigentlich nicht-soziale realität?
Nokia-Projekt: Was nicht-soziale Realität ist
nicht-soziale realität ist, herr stadelheimer, wenn jemand einem zweiten einen dicken dicken streifen klebeband auf den mund pappt und dann ENDLICH ruhe einkehrt.
Frank Abts Nokia-Projekt in Bo: nur ein Vorwurf
Ich habe dieses Theaterstück auch gesehen, und finde die Intention, die vom Regisseur,dachinter stäckte, als Zeitgemäss und super gemacht. Ich habe auch die Darsteller in Privater Atmosphere getrofen, und gesehen, wie angagiert sie alle, die Sache betrachtet haben.
An den Regiseur, hätte ich nur einen Vorwurf. Warum hat Er alles aufgebaut nur auf Grund von Aussagen von einem freigestelltem Betriebsratsmitglied. Es waren noch 18 andere. Rainer Gerk, hatte gleich einen neuen Job, auf der gleichen Stelle bei der "Nachbarfirma"-Novero. Er konnte schon damals nicht objektiv über alle Ereignisse, andere zu informieren.
Jetzt noch zu "onfray"-Klebeband ist nie eine Lösung, aber passt auch zu Rainer Gerk. Wenn man schon abgesichert ist,da vergisst man auch viel. Heute ist der Kollege auch wieder, bei der Neuen Firma -Betriebsrat. Als Arbeitgeber freundlicher B.R. sollte er nachdenken, und beim nächsten Mall nicht so schnell, kollegen/innen verkaufen.
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