Siegfried taucht ab

16. Juli 2022. Verschwisterung statt Bitch-Fight, elegante Wasserbassin-Choreografien statt krampfiger Slow-Motion-Fechtereien und ein melancholischer Drachentöter: Ferdinand Schmalz und Roger Vontobel suchen neue Zugänge zur Nibelungensaga und gewinnen die Erkenntnis, dass die -friede ähnlich unter den alten role models leiden wie die -hilden.

Von Steffen Becker

Ferdinand Schmalz` "hildensaga. ein königinnendrama" bei den Nibelungenfestspielen Worms in der Regie von Roger Vontobel © David Baltzer

16. Juli 2022. Der Dom zu Worms ist eine so detailreiche Kulisse, dass man auch beim wiederholten Besuch Neues bemerkt. Zum Beispiel die Inschrift "Dich hat das Schwert mir geschenkt" – und das zu den Nibelungenfestspielen, die traditionell damit enden, dass alle vor dem Dom in Schwerter stürzen. Die Entdeckung wird erleichtert durch die Abwesenheit von LED-Geballer früherer Sagen-Ausgaben. Regisseur Roger Vontobel setzt 2022 auf die Linie. Mehr Saga, weniger Show und Stars, die gelangweilt in den Kulissen die Tantiemen zusammenkehren. 

Innere und äußere Rüstungen

Dafür fährt er eine junge Truppe auf, die heiß darauf ist, Burgund niederzubrennen. Vorrang gibt das Stück von Ferdinand Schmalz – "hildensaga. ein königinnendrama" – dabei den Frauen. Für Schmalz ist es nicht der Bitch-Fight zwischen Brünhild und Kriemhild, wer von beiden den Dom zuerst betreten darf, der die Metzel-Maschinerie in Gang setzt. Er setzt drei Nornen ein – Schicksalsgöttinnen im Stil von tätowierten Undercut-Vokuhila-Babes – die den Faden viel früher aufgreifen: Beim ersten Besuch von Siegfried auf Island. Er freit Brünhild, sie ist bereit. Sie legen ihre inneren und äußeren Rüstungen ab.

Hildensaga1 805 DavidBaltzerKein Ausweg aus den vorgestanzten Rollen: Felix Rech als Siegfried und Gina Haller als Kriemhild in Palle Steen Christensens spektakulärem Wasserbassin-Szenario © David Baltzer

Aber es ist eine Illusion, aus den vorbestimmten Rollen als Herrscherin und Held einfach so herauszutreten. Umso dringlicher warnen die Nornen Brünhild vor der Verbindung. Es bleibt beim flüchtigen Kuss – und einem in seiner Männlichkeit gekränkten, weil zurückgewiesenen Siegfried. Die "natürliche" Geschlechterordnung sieht anderes vor – die Zähmung und Vergewaltigung Brünhilds im Auftrag König Gunters. Im Gegensatz zur Originalsaga nimmt Siegfrieds Gattin Kriemhild bereits an diesem Punkt den Ausgang aus ihrer Rolle als liebende Trophäe für den verdienten Drachentöter. Selbst gedemütigt, weil ihr Angetrauter sie nachts verlässt, um eine Andere sexuell zu demütigen, solidarisiert sie sich mit Brünhild. Gemeinsam intrigieren sie, auf dass die Burgundische Elite von der Schwachstelle ihres Helden erfährt und ihn eliminiert.

Zweckgemeinschaft und Zweisamkeit

Roger Vontobel inszeniert das nicht als naheliegenden Rachefeldzug im Wahn. Seine Figuren sind Opfer und Täter zugleich, vor allem aber Gefangene der ihnen auferlegten Rollen. Das arbeitet er heraus mit einem ausgeruhten wie vielseitigen Ensemble. Genija Rykova überzeugt als Brünhild, die wütend, ohnmächtig, kalt und begehrend zugleich sein kann. Gina Haller in der Kriemhild-Rolle startet als Glamour-Girl, das durch die Empathie mit Brünhild zu einer Entschlossenheit und Härte findet, die sie selbst überrascht.

Das Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Rollen und Darstellerinnen-Charaktere ist das Herzstück der Inszenierung. Ab- und Herantasten, Miss- und Zutrauen, Zweckgemeinschaft und Zweisamkeit – Kriemhild und Brünhild durchlaufen ein von der Chemie der Schauspielerinnen getragenes Wechselbad. Es schaukelt sich immer an der Frage auf, ob frau das System total zerstören oder für sich nutzen soll.

Hildensaga3 805 DavidBaltzer Das System zerstören oder für sich nutzen? Die "Hilden" Kriemhield (Gina Haller, links) und Brünhild (Genija Rykova) im Clinch © David Baltzer

Bei Autor Schmalz und Regisseur Vontobel ist es vor allem Brünhild, die erfahrenere Frau, die intensiv hasst. Kriemhild sieht nur keinen anderen Ausweg aus ihren Schicksalsfäden, als ihr darin zu folgen. Auch das ein interessanter Perspektivwechsel, der diese Nibelungenvariante so sehenswert macht.
Aber auch die Männer fallen nicht hinten herunter. Sie leiden im „königinnendrama“ ebenso an ihren Rollen. Allen voran Felix Rech als melancholischer, fast schüchterner Siegfried, der sich wahrscheinlich für Brünhild entschieden hätte, wenn seine Pflichten es ihm nicht verboten hätten. Franz Pätzold spielt den schwachen König Gunter gerade nicht als Witzfigur, sondern als ausgebremsten bunten Vogel mit queerer Note: Entnervt von dem dynastischen Reproduktionsdruck als Herrscher. Lediglich der Pragmatiker Hagen (cool und gar nicht mal fies: Heiko Raulin) versteht durch und durch, dass man all diese Rollen braucht, sonst fällt das ganze Konstrukt auseinander.

Die Bühne als Wasserlandschaft

„hildensaga. ein königinnendrama“ überzeugt damit als Drama mit engem Bezug zum traditionellen Stoff – der diesen nutzt, um die langen Linien der Gewalt in Geschlechterbeziehungen hervorzuheben. Der sie zusammenbindet zu einem packenden Abend. Dessen Verpackung zudem spektakulär ist. Das Bühnenbild besteht aus einem Wasserbassin inklusive Tauchbecken. Beeindruckend ausgestaltet (von Palle Steen Christensen), behutsam eingebettet in die Domszenerie – und mit handfesten Vorteilen bei den Kampfszenen. Abtauchen, großflächiger Whirleffekt, Leiche wird hochgeschwemmt: elegante Lösung, um krampfige Slow-Motion-Fechtereien zu vermeiden. Und an Leibern klebende klatschnasse Kleidung erhöht natürlich auch den Sexyness-Faktor.

Die inhaltliche Aussagekraft des Bühnenbilds bleibt allerdings dünn. Unterspülte Gesellschaft, wackliger Grund, fließendes Rollenverständnis – die sich aufdrängenden Ansätze passen situativ, aber nicht zur durchgehenden Gestaltung der Bühne als Wasserlandschaft. Aber egal – sieht gut aus. Und auch darum geht es ja bei einem Spektakel wie den Nibelungenfestspielen.

 

hildensaga. ein königinnendrama
Von Ferdinand Schmalz
Regie: Roger Vontobel, Bühne: Palle Steen Christensen, Kostüme: Ellen Hofmann, Musik und Komposition: Matthias Herrmann/Keith O’Brien, Dramaturgie: Thomas Laue.
Mit: Genija Rykova, Gina Haller, Sonja Beißwenger, Lia von Blarer, Susanne-Marie Wrage, Werner Wölbern, Felix Rech, Franz Pätzold, Heiko Raulin, Joshua Seelenbinder, Nicolas-Frederick Djuren, Mario Adorf (als Videoprojektion).
Premiere: 15. Juli 2022
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.nibelungenfestspiele.de

Kritikenrundschau

"Der Text, das hochkarätige Ensemble, die imposante Bühne – eine nahezu perfekte Mischung", jubelt Mareike Gries auf Deutschlandfunk Kultur (16.7.22). Als einzigen minimalen Makel dieses "fantastischen Theaterabends“ empfindet die Kritikerin Mario Adorfs finalen Videoauftritt als mythische Riesin Angrboda: "Die gigantische Adorf-Angrboda ist fast etwas zuviel des Guten – wobei 'gut' diesen Theaterabend nur unzureichend beschreibt."

"Freilichttheater vom Feinsten" gibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (18.7.2022) zu Protokoll. Das hat aus Sicht der Kritikerin nicht nur mit der imposanten Waterworld-Bühne von Palle Steen Christensen, dem und Ferdinand Schmalz' "geschmeidig zeitgemäßen Version des Nibelungenstoffes" sondern auch mit dem Regiekonzept von Roger Vontobel zu tun, das "bei allem Schauwert den Inhalt des neuen Nibelungen-Stücks nicht verwässert". Vontobels Inszenierung sei intim, elegant und schauspielfokussierter. "Das kommt der Sache ebenso zugute wie der Cast aus hervorragenden Theaterleuten, etwa vom Wiener Burgtheater, vom Schauspielhaus Bochum, von der Schaubühne Berlin. Kein Star- und Promitheater also diesmal in Worms. (Der Kollege von der Bunten zeigte sich vorab schon ganz enttäuscht.) Stattdessen ein exzellentes Ensemblespiel." 

Von einem "wirklich großen Wurf" spricht Ursula May in der Sendung HR2-Kultur (18.7.) mit Blick auf Ferdinand Schmalz' Version des Dramas, das sie u.a. seiner sehr klugen und witzigen Dialoge wegen überzeugte, aber auch durch den Perspektivwechsel, der den Stoff ganz neu beleuchte. Auch Bühne, Regie und Ensemble gibt sie Bestnoten ("spektakulär", "intensiv", "mitreißend".)

Kerstin Holm lobt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.7.2022) eine "großartige Gesamtleistung", auch wenn sie bemängelt, dass der Personenregie am Ende die Ideen ausgehen. Indem Autor Ferdinand Schmalz die Geschichte von Eroberung, Verrat und Treue aus der Sicht der Protagonistinnen Brünhild und Kriemhild erzähle, "falle ein weiblicher Blick auf die Machtspiele der Männer, die ganze Weltgegenden in Schutt und Asche legten", wie die Kritikerin aus der Eröffnungsrede von Ministerpräsidentin Malu Dreyer zitiert, die insbesondere an den gegenwärtigen Krieg in der Ukraine er­innert habe. "Dazu komme die Erfahrung der Flutkatastrophe im Ahrtal vor einem Jahr, deren Betroffene sie am Vortag besucht habe. Das verleiht der Wasserwelt, in die der Regisseur Roger Vontobel die Nibelungensage verlegt, eine existenzielle Dimension."

"So eine stimmige, künstlerisch anspruchsvolle und schauspielerisch überzeugende Premiere hat es in der 20-jährigen Geschichte der Wormser Nibelungenfestspiele noch nie gegeben, " schreibt Volker Oesterreich in der Rhein-Neckar-Zeitung (18.7.2022) und spricht von einem Triumph für alle Beteiligten. Sie haben aus Sicht dieses Kritikers Worms zur Theaterhauptstadt Deutschlands gemacht.

Kommentare  
Hildensaga, Worms: Erstaunlich
Dass der Abend mehr ist als unterhaltsames Sommertheater abseits der Metropolen und sich auch eine weitere Anreise lohnt, ist vor allem einem erstaunlich starken Ensemble zu verdanken. Regisseur Roger Vontobel, seit dieser Spielzeit Schauspieldirektor in Bern, zuvor Hausregisseur in Bochum und Düsseldorf, arbeitet mit oft recht jungen Spieler*innen zusammen, die große Häuser schon seit einigen Jahren mitprägen.

Palle Steen Christensen hat vor die Fassade des Wormser Doms einen metertiefen Pool gesetzt, in dem sich das Ensemble nach Herzenslust austoben kann. Das Becken eignet sich ebenso für eindrucksvolle Tauchgänge wie für Flirt-Spiele zwischen Siegfried (Felix Rech) und Brünhild (Genija Rykova), mal wird es zum Party-Pool bei der Siegesfeier am Hof von Burgund, mal düstere Moor-Landschaft.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/07/31/hildensaga-ein-koniginnendrama-nibelungenfestspiele-worms-kritik/
Hildensaga, Worms: Wassertemperatur im Bassin?
Wie warm ist das Wasser im Bassin während der Aufführung?
Kommentar schreiben