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Hans-Thies Lehmann gestorben

Hans-Thies Lehmann 2010 Bild: Screenshot der Aufzeichnung einer Vorlesung an der Uni Hamburg

Der Theoretiker des postdramatischen Theaters

17. Juli 2022. Der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann ist tot. Das wurde nachtkritik.de aus dem persönlichen Umfeld Lehmanns bekannt.

Demnach verstarb der Theaterwissenschaftler am gestrigen Samstag nach langer schwerer Krankheit in Athen, wo er die letzten Jahre mit seiner Frau, der Theaterkritikerin Helene Varopoulou, lebte.

Bekannt wurde Lehmann als Theoretiker des "postdramatischen Theaters". Seine gleichnamige Publikation aus dem Jahr 1999 gilt weit über den Bühnenkontext hinaus als bahnbrechendes Standardwerk: Sie beschreibt und analysiert die Entwicklungen und Umbrüche des westlichen Theaters seit den 1960er Jahren und benennt einen  Paradigmenwechsel hin zu einer performancenahen Form.

Lehmanns Buch Tragödie und dramatisches Theater aus dem Jahr 2013 knüpft unter anderem an diese epochale Studie an und skizziert eine Theorie der Tragödie von der Antike bis in die Postmoderne, in deren Mittelpunkt die Frage nach der Gegenwärtigkeit des Genres steht. Zudem forschte und publizierte der 1944 in Ehringshausen geborene Theaterwissenschaftler, Germanist und Komparatist intensiv zu Bertolt Brecht und Heiner Müller.

Zusammen mit Andrzej Wirth arbeitete Lehmann am Aufbau des Studienganges für Angewandte Theaterwissenschaft an der Universität Gießen mit, den Wirth 1982 gründete und aus dem Regisseur:innen und Performance-Kollektive wie René Pollesch, Hans-Werner Kroesinger, She She Pop oder Rimini Protokoll hervorgegangen sind. Zu Lehmanns Schüler:innen gehören auch Nicola Nord und Alexander Karschnia von  andcomany&Co.

Von 1988 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2010 lehrte Hans-Thies Lehmann als Professor für Theaterwissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Gastdozenturen führten ihn außerdem an die Universitäten von Amsterdam, Paris, Wien, Krakau, Tokyo, Kaunas und Charlottesville.

Hans-Thies Lehmann wurde 77 Jahre alt. Die Beerdigung findet am kommenden Dienstag in Athen statt. In Berlin ist eine Trauerfeier für den Herbst geplant.

(cwa / Wikipedia)

 

Medienschau

Im Interview mit Gabi Wuttke erinnert sich der Theatermacher und Dramaturg Alexander Karschnia im Deutschlandfunk Kultur (17.7.2022) an seinen Lehrer und Mentor Hans-Thies Lehmann: Über den enormen Erfolg seines 1999 erschienen Buchs "Postdramatisches Theater" sei Lehmann damals selbst verblüfft gewesen. "Heiner Müller war seit ein paar Jahren tot, es gab ein bisschen das Gefühl, dass man nicht wußte, wohin es geht. Und dann kam dieses Buch und hat wirklich etwas aufgerüttelt (...) Was Sie bestimmt von allen hören werden, die bei ihm studiert haben, oder indirekt bei ihm studiert haben: Was er uns damals geliefert hat, war eine Art theoretische Waffe. Auf einmal hatte man einen Begriff für das, was man da machte." Lehmann sei auch international ein gefeierter Popstar gewesen. Dabei war er, erinnert sich Karschnia, ein sehr verbindlicher Mensch, "der etwas Gütiges hatte". Ausgezeichnet habe ihn besonders "die Demut des Theoretikers vor der Praxis."

"Er war der Übervater des postdramatischen Theaters. Seine große Bedeutung beruhte darauf, dass ihm gelungen war, was den meisten seiner Kollegen verwehrt bleibt: Seine Theorien, die er als Theaterwissenschaftler zuerst in Gießen und danach in Frankfurt entwickelte, haben den Weg in die Praxis gefunden", so Hubert Spiegel in der FAZ (20.7.2022). Lehmann sei ein "Traditionenabschüttler" gewesen, "der den um sich greifenden Überdruss am klassischen Theaterkanon nicht nur theoretisch begründen und legitimieren konnte, sondern dabei zu­gleich selbst einen Forderungskatalog formulierte".

 

 

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Samstags im Wochenendseminar, in einer Villa in Dahlem, draußen der Frühling, sprachen wir über den Dreck unter den Fingernägeln Antigones, ihre frenetische Lust auf Erde (Terroir), eine Sichtachsenverschiebung, die später meine praktischen Fragmentsplitter des Tragischen nachhaltig beinflusste, ohne dass ich glaube, dass wir irgendwie über Dasselbe gesprochen haben - so ist sie, die Postmoderne, die grad wieder dramatisch wird! R.i.P.
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Als ich in weißem Krankenzimmer der Charité
Aufwachte gegen Morgen zu
Und die Amsel hörte, wußte ich
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Hatte ich keine Todesfurcht mehr. Da ja nichts
Mir je fehlen kann, vorausgesetzt
Ich selber fehle. Jetzt
Gelang es mir, mich zu freuen
Alles Amselgesanges nach mir auch.

1956

Ein Gedicht, das Lehmann immer sehr geliebt hat - es ist eines von Brechts letzten Gedichten, geschrieben im Krankenzimmer der Charité. Brecht ist dort jedoch nicht verstorben, er ist wieder rausgekommen, hat weiter geprobt (Galileo Galilei) und ist ein paar Monate später zu Hause verstorben.

Wer eine Todesanzeige für Hans-Thies Lehmann unterstützen möchte, kann sich bei der Redaktion melden. (=> an redaktion@nachtkritik.de mailen)
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