Das Grauen von Graun

23. Juli 2022. Die deutschsprachige Bevölkerung Südtirols musste sich ab 1939 entscheiden, im faschistischen Italien zu bleiben oder nach Nazideutschland umzusiedeln. Nach dem Krieg stellte ein Staudammprojekt im Ort Graun die Menschen noch einmal vor die Entscheidung "Gehen oder Bleiben". Vor diesem Hintergrund spielt Marco Balzanos Roman, dessen Uraufführung die Tiroler Volksschauspiele Telfs eröffnete.

Von Martin Thomas Pesl

Unterwasser-Atmosphäre im Stadl: "Ich bleibe hier". © Victor Malyshev

23. Juli 2022. Christoph Nix bleibt nicht hier. Er hat es nicht lang ausgehalten in Telfs. Schon nach seiner ersten Festivalausgabe der Tiroler Volksschauspiele 2021 sah es nicht so aus, als würden sich "unser hochgeschätzter Herr Professor", wie er hier genannt wird, und die Geschäftsführerin Verena Covi noch grün. 2023 folgt auf den streitbaren Anwalt, Clown, Hochschullehrer und Autor als Intendant Gregor Bloéb, Tiroler und Volksschauspieler.

Noch ist Nix aber da und präsentiert zur Eröffnung diesen Sommer eine Uraufführung: Lorenz Leander Haas, Jahrgang 1996 und derzeit Regiestudent an der Ernst Busch, inszeniert "Ich bleibe hier" nach dem Beststeller des Italieners Marco Balzano. Mit Felix Mitterers "Verkaufte Heimat", der letzten Erfolgsproduktion in Telfs vor der kurzen Ära Nix, teilt der Abend ein genuin (süd-)tirolerisches Thema: die so genannte große Option. Ab 1939 konnten Angehörige der deutschsprachigen Bevölkerung wählen, ob sie im faschistischen Italien bleiben oder nach Nazi-Deutschland ausgesiedelt werden wollten.

Südtiroler Identitätskonflikt

Balzano verhandelt die Historie anhand seiner Ich-Erzählerin Trina, Lehrerin im Südtiroler Dorf Graun. Trina heiratet den Bauern Erich, hat mit ihm zwei Kinder. Selbst, als die beste Freundin und die Tochter die Flucht wählen, der Sohn sich freiwillig Hitlers Armee anschließt, ist dem Paar klar: Es will bleiben, hier in Graun ist alles, was es hat.

IchBleibeHier c Victor Malyshev 2Familienaufstellung in der Stubn © Victor Malyshev

Wiltrud Stieger ist eine erstaunlich spröde, harsche Trina. Wenn sie berichtet, spricht sie Hochdeutsch, im Dialog wechselt sie ins Tirolerische. Sie muss den Abend tragen – eine schwierige Aufgabe, in die sie zunehmend hineinwächst. Eingangs, während die Premierengäste nach einer kuriosen Eröffnungsveranstaltung mit Männergesangsverein, Reden über Feminismus und einem apokalyptischen Wolkenbruch endlich in den urig-windschiefen Kranewitter Stadl eintreten und auf zwei Seiten der Bühne Platz nehmen, wartet das Ensemble sitzend in neutraler Nichtauftrittspose, nur Stieger steht schon mit dem Gesicht zur Wand auf dem Podium.

Touristenattraktion: Der Kirchturm des gefluteten Dorfs im See

Es ist aus Holz wie die ganze Scheune hier, doch bläulich-grünes Licht und Blubberklang geben ihm anfangs und zum Schluss den Anstrich einer Unterwasserwelt. Passenderweise, denn Graun ist der Ort mit dem Turm im See. Im Zuge eines vor dem Krieg begonnenen Staudammbaus ließ die italienische Regierung 1950 das Dorf fluten. Die Bevölkerung wurde mit mageren Entschädigungen abgespeist und umgesiedelt. Den Glockenturm ließ man aus Denkmalschutzgründen (oder weil es billiger war) stehen, er ist Touristenattraktion und Mahnmal menschenverachtenden Kapitalismus – den Peter Cieslinski in zwei Kurzauftritten mit Hut, Krawatte, Zigarre und einem vergleichsweise geradezu aggressiv deutschen Deutsch karikierend personifiziert.

Kaum sind also erst die Faschisten, dann die Nazis überstanden, heißt es wieder gehen oder bleiben. Trina und Erich kämpfen, bis ihnen, nun ja, das Wasser bis zum Hals steht. Es ist eine bewegend bittere Erzählung über die Machtlosigkeit von Worten, aber auch die Vielschichtigkeit von Geschichte. Der große Gewinn dieser bemüht originaltreuen Bühnenfassung ist die Möglichkeit, die Figuren miteinander tirolern zu lassen. Im Dialekt streitet es sich einfach besser zwischen Mutter und Sohn – Elena-Maria Knapp überzeugt unter anderem als führertreuer Junior Michael –, zwischen Tochter und Vater – mit Luis Auer ist ein Telfser Urgestein dabei – und zwischen Eheleuten: Edwin Hochmuth hat als Erich meist die eine Aufgabe, Übles ahnend den Blick abzuwenden und bittere Wahrheiten in die Ferne zu stellen, aber die erfüllt er perfekt.

Tirolerische Tableaus

Indes macht die Grande Dame des Tiroler Landestheaters, Eleonore Bürcher, in der Rolle von Trinas Mutter ihr eigenes Ding: Das Gesicht ganz Würde, bearbeitet sie ihr Strickzeug, verliert nie ein Wort zu viel und sagt doch alles, wenn sie etwa dem frisch uniformierten Enkel zweimal fest auf die Schultern klopft. Aus dieser unbeholfenen Geste spricht der innere Kampf zwischen Stolz und Befremdung.

IchBleibeHier c Victor Malyshev 4Eleonore Bürcher als Trinas Mutter © Victor Malyshev

Regisseur Haas arbeitet mit wenigen Lichtstimmungen, spärlichem Sound, dafür vielen Pausen und vielsagenden Blicken, die die Spieler:innen einander zuwerfen. Statt rascher Szenenwechsel formieren sie sich langsam zu kleinen Tableaus. Leider raubt das dem Abend einen Drive, den er besonders im ersten Teil nötig hätte. Oder es mag den etwa 120 delirierenden Zuschauer:innen in der verschwitzten Enge des stickigen Stadls manches gedehnter erschienen sein, als es war. Wie auch immer: Alle blieben hier. Und das heißt auch was.

 

Ich bleibe hier
nach dem Roman von Marco Balzano, Deutsch von Maja Pflug
Dramatisierte Fassung von Christoph Nix, Sven Kleine und Lorenz Leander Haas
Uraufführung
Inszenierung: Lorenz Leander Haas, Ausstattung: Uschi Haug.
Mit: Luis Auer, Eleonore Bürcher, Peter Cieslinski, Edwin Hochmuth, Elena-Maria Knapp, Wiltrud Stieger.
Premiere am 22. Juli 2022
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.volksschauspiele.at


Kritikenrundschau

"Eine großartige Inszenierung vom jungen Regisseur Lorenz Leander Haas mit kongenialen Darstellern", jubelt Hubert Berger in der Kronen Zeitung (25.7.2022). "Das Volkstheater ist wieder zurück nach Telfs gekommen."

"Trina (eine souveräne Wiltrud Stieger) ist es, die bleibt. Ebenso wie die Frage nach dem Wasserstand, der ständig steigt", heißt es in der Tiroler Tageszeitung (25.7.2022). "Hier bleibt das Stück Balzanos Text nahe. Vielleicht zu nahe. Da und dort hätte man sich eine pointiertere Auswahl gewünscht." Gewisse Längen ließen sich so kaum umschiffen. "Erfolg wird das Stück dennoch haben. Ausverkauft ist die Produktion ja immerhin schon."

In der Rundschau (25. Juli 2022) sah Lia Buchner eine "große Ensemble-Leistung". Haas inszeniere in "wunderbar leisen Tönen", sein Ensemble folge ihm mit sparsamsten Mitteln. Diese Uraufführung komme "ganz ohne großen Zirkus aus", findet die Rezensentin. Dies sei ein "großes Geschenk" für das Premieren-Publikum.

Haas inszeniere "Ich bleibe hier" "als etwas holzschnittartiges Kammerspiel", resümiert Ivona Jelčić im Standard (25. Juli 2022). "Ein entschiedener Zugriff auf den Stoff hätte manche Längen erspart", ist sich die Rezensentin sicher. Bisweilen vermisse man auch "die Energie eines gut aufeinander abgestimmten Ensembles".

 

Kommentare  
Ich bleibe hier, Telfs: Behäbig
Die allseits schon bekannte Geschichte wird linear und gleichförmig erzählt.
Der Rhythmus langsam, schwer und behäbig. Vorhersehbar.
Das Spiel, Sprache und Geste immer eins zu eins.
Auch die Szenenwechsel werden mit dieser Haltung "vollzogen".
Bedeutungsschwangere Blicke wollen von einer Spannung erzählen.

Das Bühnenbild ist in die Holzwände des Spielstätte eingebaut und realistisch komplettiert mit Holztischen und Holzstühlen. Die Kostüme sind ebenfalls naturalistisch.

Der Abend ist lang und langweilig.

Heutiges (Volks)theater könnte und müsste so viel mehr sein.
Ich bleibe hier, Telfs: Flow
(...) "Mit einer Haltung vollziehen"- was ist denn das für eine Sprache.

In Telfs inszeniert ein junger talentierter Regisseur und das Ensemble, das sich vorher nicht kannte, entwickelt eine Spiellust, eine Liebe zueinander und die spürt man, die fühlt man, gelegentlich nennt frau/man das Flow.

Die Kritik im Südkurier und Krone ist enthusiastisch, alle Vorstellungen sind ausverkauft, es gibt keine Karten mehr, und wenn das bleiben, das restare, ästhetisch bei Platzhirschen als lang und langweilig empfunden wird: hat das Ensemble wunderbar gearbeitet, denn Dummheit ermüdet dem Dummer, der ich Betrachter seiner selbst aufführt, oder so ähnlich....

Es lebe das Spiel und die Neuen Volksschauspiele.

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Anmerkung der Redaktion: Dieser Kommentar wurde in gekürzter Form veröffentlicht, da Teile davon nicht unserem Kommentarkodex entsprachen. Dieser ist hier nachzulesen: https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=12&Itemid=41
Ich bleibe hier, Telfs: Verneigung
Eine beeindruckende Inszenierung eröffnet am 22.7.22 die Tiroler Volksschauspiele in Telfs. Die erzählte Geschichte entwickelt geradezu eine Sogwirkung, da das authentische Spiel der Darsteller und die feinsinnige Inszenierung die Zuschauer emotional erreicht und mit der Handlung verbindet.
Wieviel Leid kann ein Mensch tragen, fragt man sich, da ihr Leben von Verlust und widrigen Umständen bestimmt ist.
Als die Protagonistin Trina erfährt, dass ihre geliebte Tochter mit Verwandten nach Nazideutschland gegangen ist, versinkt sie in ihrem Schmerz. Der Rest der Familie geht zur Tagesordnung über. Dieser Moment ist genial in Szene gesetzt, untermalt von einem Rocksong, der diesen Moment aus der Zeit reißt und das ewige „das Leben geht weiter“ spürbar macht – grausam und pragmatisch zugleich.
Der 25-jährige Regisseur Lorenz Leander Haas inszeniert mit der Weisheit und Sensibilität eines lebenserfahrenen Menschen – das Stück berührt in Innersten ist aber niemals sentimental oder larmoyant. Ich verneige mich vor dem gesamten Ensemble und sage danke für diesen wunderbaren Abend.
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