"Irgendwie flüchtet dieses Ich"

3. August 2022. In unserer Reihe Streitfall Drama diskutieren zwei Autor:innen mit unterschiedlichen ästhetischen Ansätze, wie ein Stück heute beschaffen sein sollte, welche Formen zeitgemäß sind und welche politische Funktion die Dramatik einnehmen kann. In dieser Folge begrüßen wir Helgard Haug (Rimini Protokoll) und John von Düffel.

Moderation: Michael Wolf

3. August 2022. Wie wird aus einem Stoff ein Theatertext? Gegenwärtige Schreibweisen finden sehr unterschiedliche Antworten auf diese Frage. Während das Drama sein Material in Geschichten organisiert, misstrauen postdramatische Ästhetiken der Ansicht, dass sich prinzipiell jedes Thema mittels Figuren und Konflikten verhandeln ließe. Sie suchen stattdessen stets nach neuen Formen, die oft auch die Grenzen der Bühne neu ausloten. Mit der Regisseurin und Autorin Helgard Haug (Rimini Protokoll) und dem Dramatiker und Dramaturgen John von Düffel begrüßen wir zwei der einflussreichsten Vertreter:innen beider Seiten. In der Diskussion schätzen sie die Potenziale ihrer Ansätze ein, stoßen auf Unvereinbarkeiten und überraschende Berührungspunkte.

Helgard Haug hat am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen studiert. Dort gründete sie gemeinsam mit Stefan Kaegi und Daniel Wetzel das Label Rimini Protokoll, das seit über zwanzig Jahren sehr erfolgreich in verschiedenen Konstellationen arbeitet. Produktionen von Helgard Haug wurden mehrmals zum Theatertreffen eingeladen, zuletzt in diesem Jahr die Arbeit All right. Good night.

John von Düffel arbeitet als Dramaturg am Deutschen Theater Berlin und ist Professor für Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste. Er gehört zu den meistgespielten Dramatikern unserer Zeit. Darüber hinaus hat John von Düffel zahlreiche Romane veröffentlicht.

Die Diskussion als Podcast:


Zur Reihe Streitfall Drama:

Gegenwartsdramatik ist weniger ein einheitliches Korpus von Textverfahren als vielmehr ein Prozess voller Widersprüche. In ihm wird verhandelt, welche Ästhetiken als produktiv gelten und sich durchsetzen. Eine Vielzahl unterschiedlicher Poetologien und Schreibpraxen konkurrieren derzeit miteinander. Die Gesprächsreihe "Streitfall Drama" stellt diese vor und bereitet den Kontroversen um das Schreiben von Stücken eine Bühne. Jeweils zwei Autor:innen mit einander widersprechenden Positionen diskutieren darüber, wie ein Stück heute beschaffen sein sollte, welche Formen zeitgemäß sind und welche politische Funktion die Dramatik einnehmen kann.

Weitere Folgen:

Szene oder Fläche – wie ein Text Form annimmt mit Moritz Rinke und Thomas Köck

Beschreiben oder Befreien – Ein Gespräch über politische Dramatik mit Dominik Busch und Kevin Rittberger

Aushandeln oder Erzählen – Wenn Privates politisch ist mit Anne Habermehl und Ilia Papatheodorou (She She Pop)

Gestalten oder Vernichten – Welchen Zielen die Sprache dient mit Caren Jeß und Lydia Haider

Schreibtisch oder Körper – Wo Text ensteht mit Yael Ronen und Marta Górnicka

Bühne oder Gesellschaft – Wo das Stück spielt mit Theresia Walser und Falk Richter

 

Streitfall Drama ist eine Kooperation mit dem Literaturforum im Brecht-Haus, gefördert vom Deutschen Literaturfonds.

 
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mehr debatten

Kommentare  
Streitfall Drama (3): etwas mehr Unterschiede
Sehr freundliche Gesprächsteilnehmer*innen waren bemüht, verbindendes (!) der Spielweisen zu benennen. Ein Konsens lautete: Gesellschaft soll reflektiert werden, kritische Aufklärung über Gegenwart soll stattfinden. Künstlerisches "leben und leben" lassen bei diesem Unternehmen auch Konsens. Hat doch jede Form ihre Berechtigung. Sei es das dramatische Theater mit der erzählten Kunstfigur, dargestellt durch eine/n professionelle/n Schauspieler*in. Sei es das postdramatische Theater mit der Integration von Alltag auf der Bühne mittels der Expert*innen. --- Etwas mehr Untersuchung der Unterschiede der künstlerischen Strategien hätte die Diskussion jedoch, denke ich, noch erkenntnisreicher gemacht. Manche Fragen waren im Konsens totgeparkt!! So war der Begriff des Spiels im dramatischen Theater immer impliziet gleichgesetzt mit realistischem, mimetisch "glaubhaftem" 1zu1-Spiel. Was es schwer habe gegenüber dem unvermittelten, direkten, authentischen Experten aus der Wirklichkeit. Das ist eine richtige Frage. Aber: Es gibt im Schauspiel so viel mehr an Spielweisen. Egal wie unterschiedlich auch mein dramatisches Ausgangs-Material ist, es ist kolossal abhängig von dem Regie-Zugriff. Schillers Räuber von Michael Thalheimer inszeniert, sind anders als die RÄUBERINNEN von Leonie Böhm. Eine mögliche Dea Loher-Aufführung von Ersan Mondtag wird anders sein als eine von Daniela Löffner. Gott sei Dank, ist Schauspiel heute extrem vielfältig. Das ist ein großer Reiz. Sei es für die pure sinnliche Unterhaltung (!) des Publikums oder/und die Wahrnehmungs-Facettierung durch verschiedene Perspektiven auf denselben Gegenstand (das Stück). --- Was alles im ALS OB-Schauspiel aber gemein hat - und das ist das Alleinstellungsmerkmal gegenüber der Performance: Es wird so getan ALS OB im Spiel. Das Spiel ist gemacht. Dem zugrunde liegt etwas artistisches. Und: Es besteht eine Distanz (!) zwischen dem Machenden und dem Gemachten. Dieses Wissen hat auch Einfluss auf die Wirkung auf das Publikum. Es ist ein Unterschied, wenn ich weiß, das da auf der Bühne ist quasi ein Ready made (ein Experte) oder es ist ALS OB, erfunden, kreiert. Beides ist faszinierend. Aber eben unterschiedlich. Im Unterschied liegen die jeweiligen Potentiale des Anderen verankert. --- Gesprochen für die erzählte Figur des dramatischen Theaters, ist festzustellen: Es ist ein magischer, mitunter komischer (!), empathischer Spielvorgang, wenn ich mich in eine fremde Rolle hineinzusetzen versuche. Wie weit komme ich mit diesem Versuch? Wo sind die Grenzen? Auf jeden Fall, ist es eine spannende Form der Auseinandersetzung mit einem anderen, mir fremden Subjekt. Das muss auch gar nicht aufgeführt werden. Dieser Prozess hat für sich alleine eine Kraft. Wie etwa auch beim Psychodrama, wo ich bewusst Anteile eines anderen Menschen als Hilfs-Ich einzunehmen versuche. Das (humanistische) Versuchs-Spiel der Hineinversetzung ist eine Untersuchung, eine Auseinandersetzung. Bekannterweise war auch für Brecht der Probenprozess mindestens so wichtig wie die Aufführung später. --- Für einen zusehenden Menschen im Kunsttheater kann es berührend sein, distanziert zu betrachten oder/und vergnügt zu verfolgen, wie ein/e Artist/in eine Rolle spielt, zu verkörpern versucht, vorführt, karrikiert, vertritt oder oder oder. Es kann entlastend sein für das Publikum: zu sehen, dass da oben auf der Bühne mit der Wirklichkeit GESPIELT wird. Bewusst und aus der Distanz heraus. Da oben findet neugierige Umkreisung im Spiel statt, Investition von Phantasie und Einfühlungsvermögen und artistische Modulation von Stoffen. Kurz die Phänomene des Spiels und des ALS OB sind komplex und mystisch und reizvoll. Das hätte ich gerne komplexer vom Dramaturgen von Düffel und dem Moderator besprochen gesehen.
Streitfall Drama (3): Reines Wunschdenken
Unglaublich, dass jemand behaupten kann, dass Ich befände sich im Verschwinden oder auf dem Rückzug, angesichts all dieser narzisstischen PolitikerInnen weltweit. Reines Wunschdenken aus einer verschollenen Blase, die sich mal Theater nannte.
Streitfall Drama (3): International
Mich bewegt schon lange die Frage, warum deutschsprachige Stücke international praktisch nicht aufgeführt werden und auch nicht bekannt sind. Was auch für die Autoren gilt. Die Zeiten von Thomas Bernhard, Tankred Dorst, Franz Xaver Kroetz oder Peter Handke scheinen sehr lange her zu sein, Elfriede Jelinek ist zumindest nicht unbekannt (wird aber nicht aufgeführt). Sibylle Berg dagegen, in Deutschland eine bekannte Marke, findet außerhalb Deutschlands fast nur in Goethe-Instituten statt. Die meisten anderen schaffen nicht einmal mehr das.
Ich glaube, das sollte eigentlich zu denken geben, aber das Thema wird völlig ignoriert. Wenn man es in Theaterkreisen anspricht, erntet man nur ratlose Blicke, aber keine Antworten. Ähnliches geschieht, wenn man nachfragt, warum die in Deutschland beliebten Dramatisierungen von Romanen oder Filmen jenseits der Grenzen eher Seltenheitswert genießen und dort immer noch auf relativ klassisch gebaute Stücke mit Figuren und Handlungen gesetzt wird.
Streitfall Drama (3): Wirkung
Wahrscheinlich sind die Texte aus der Perspektive anderer Länder zu irrelevant und dementsprechend schlecht, um dort gespielt zu werden. Sie spiegeln lediglich eine deutsche Arbeitsweise wieder und haben außerhalb dieses Theaterkulturkreises so gut wie keine Wirkung.
Streitfall Drama (3): Zeit, Ort und Sprache
#3: Da haben sie aber großes Glück, wenn Sie beim ansprechen dieses Themas ratlose Blicke aus Theaterkreisen ernten! da hat sich ja dann in den letzten 20 Jahren echt schon was bewegt: Von selbstgewisser Ignoranz bis ratlosem Unverständnis ist es für einen Menschen nur ein kleiner Schritt - ein großer hingegen für Theaterkreise - Leute, ich bitt euch, weckt mich, wenn mal einer der in Theaterkreisen Inszenierungs- und Verbreitungszuständigen sich herablässt, auch nur eine ernsthafte kritische Selbstbefragung zu dem Thema öffentlich zu machen - damit ich ein zukünftig mögliches Theater nicht verpasse...

#4: Ja, das ist dann wahrscheinlich Kunst, wenn ein Text aus irgendeinem Grunde auch in anderen Ländern als so relevant wahrgenommen würde, dass er dort trotz aller dortigen kulturpolitischen Theater-Schwierigkeiten gespielt würde. Vermutlich würde sich so ein Text auf MenschlichesAllzumenschliches konzentrieren, das unabhängig von Zeit, Ort und Sprache in und zwischen Menschen in vergleichbaren, verallgemeinerbaren Situationen wirkt und das daher grenzüberschreitend erfahrbar und erinnerbar ist... is aber nur so eine dummedumme unwichtige und nur so zufällig dahergeredete Idee...
Streitfall Drama (3): Theaterschwierigkeiten
Theaterschwierigkeiten gibt es auch vermehrt hierzu Lande. Aber warum nicht deutsche Texte in Frankreich, Italien oder Spanien. Obschon, Milo Rau schrieb mir: Deutsche Texte seien in seinem Theater in Belgien nicht durchsetzbar!
Streitfall Drama (3): Deutsche Texte nicht transportierbar?
Danke an Martin Baucks und Kunst und Freiheit für die Antworten! Da würde mich natürlich sehr interessieren, was Rau als Grund dafür sieht, dass deutsche Texte in seinem belgischen Theater nicht durchsetzbar seien. Vielleicht kommen wir endlich diesem Phänomen auf die Spur, das ich etwas unheimlich finde, weil es so schwer zu fassen ist. Da gibt es also ein Land mit unvergleichlich reicher und vielfältiger Literatur-, Theater- und Debattenkultur, aber dessen Stücke sind nicht über die nationalen Grenzen zu transportieren, und das Problem selbst wird praktisch nicht debattiert? Sehr kurios.
Streitfall Drama (3): wenig Anlass zu Belehrung
In diesem "Land mit unvergleichlich reicher und vielfältiger Literatur-, Theater- und Debattenkultur" ist es nicht möglich, Filme, wie in zivilisierten Ländern, meinetwegen untertitelt, in der Originalfassung zu zeigen. Und, nebenbei, bei einer Stuttgarter deutsch und englisch übertitelten Koproduktion in polnischer Sprache, dem Höhepunkt der vergangenen Spielzeit, blieb das Theater halb leer. Es gibt also wenig Anlass, die Belgier zu belehren.
Streitfall Drama (3): Kulturjournalistische Eitelkeit
#7: Ich nehme an, ein vorhandenes, real wahrnehmbares Problem zu debattieren, widerspräche dem neo-(kultur)journalistien Ehrgeiz - um nicht zu sagen, neo-(kultur)journalistischer Eitelkeit, Debatten im öffentlichen Raum zu KREIEREN... (was auch hier schon als vermeintlich zeitgemäße journalistische Aufgabe von Theaterkritik von nk-Mitarbeitern so gesagt/geschrieben wurde, wenn ich mich recht entsinne...) und dafür Reichweite auf- und auszubauen...
Streitfall Drama (3): Deutsche Befindlichkeiten
Ich fürchte, deutsche Gegenwartsdramatik ist auf dem internationalen Markt nicht durchsetzbar, weil sie eine Form von narzisstischer Nabelschau ist, die - positiv formuliert - eben exakt die deutschen Befindlichkeiten widerspiegelt. Und die entsprechen eben nicht den Sorgen und Problemen der z.B. Spanier oder auch Skandinavier. Offenbar ja noch nicht einmal denen der Belgier.

Das subventionierte deutsche Theatersystem ist einzigartig in der Welt. Aber so langsam müsste man mal darüber reden, ob es sich nicht gerade dadurch (eben weil es kommerziell nicht erfolgreich sein MUSS) in eine merkwürdige Richtung entwickelt hat, fernab von alldem, was Menschen heute beschäftigt oder von dem sie wissen wollen.

Ich halte es für keinen Zufall, dass Deutschland eben keine Autoren wie Yasmina Reza hervorgebracht hat. Also Autoren, die sowohl künstlerisch als auch kommerziell erfolgreich sind.
Streitfall Drama (3): Nationaler Text?
@7 Nun, es handelte sich um einen Text, der Milo Rau sehr gefiel, zu den Themen „Hass, Ökologie und kriegerische Auseinandersetzungen“ im weitesten Sinne und er erwiderte, dass der Text für Gent eben im niederländischen flämischen Raum funktionieren müsse. Der Text ist national nicht gebunden und ich hingegen erwiderte meinerseits: Ein deutscher Text sei nur solange deutsch, wie man ihn nicht übersetze. Patt. Es gab dann noch einen Vermittlungsversuch an eine Berliner Bühne. Danach verlief die Sache im Sande. Alltag für Autorinnen und Autoren.
Streitfall Drama (3): Unterschied?
#10: Woher nehmen Sie die Sicherheit, dass Deutschland keine solche AutorInnen hervorgebracht hätte?
Wäre für Sie ein Unterschied denkbar zwischen einLandhateine/nAutor/in hervorgebracht und in einem Land ist ein/e AutorIn, die von ihm hervorgebracht wurde auch bekannt gemacht? U.a. durch journalistische, verlegerische, oder theaterleitende Arbeit z.B.
Oder halten Sie Hervorbringung und Bekanntmachung für unterschiedslos?

#11: Ein deutscher Text bleibt auch übersetzt ein deutscher Text. Er ist dann halt ein übersetzter deutscher Text. Niemand käme auf die Idee, einen ins Deutsche oder Flämische übersetzten Osborn einen deutschen oder flämischen Text zu nennen... Der Übertragungsleistung haftet der sprachliche Text-Ursprung zwingend an; haftet nicht, ist er der Übertragung auch nicht wert - das macht die kulturelle Brückenfunktion von Übersetzung aus. Ein wackliges Patt m.E. Warum schickt man Milo Rau, der ein inszenierender Autor und Intendant ist, einen Text - ob national gebunden oder nicht - mit der BitteHoffnungIllusion, er würde ihn inszenieren (lassen)?
Streitfall Drama (3): Verengung des Blicks
Danke für die Erläuterung bzgl. Rau und Gent. Da scheint mir fast schon eine quasi identitätspolitisch akzentuierte Verengung des Blicks vorzuliegen, im Sinne von: Ein Deutscher kann mit seinem deutschen Stück doch nicht verstehen und bedienen, was Flamen wollen oder brauchen ... Abgesehen davon, dass dies dem Europa der Gegenwart ein zweifelhaftes Zeugnis ausstellt, glaube ich, dass dies Unsinn ist. Weltweit streamen Menschen Filme und Serien internationaler Herkunft. Warum können da Grenzen, Kulturen, Ethnien, Religionen usw. übergreifend Geschichten, Inhalte, Probleme, Charaktere, Themen usw. verstanden werden, am Theater aber werden nationale, kulturelle, ethnische Grenzen errichtet? Warum wird bildende Kunst international verstanden und rezipiert? Warum sehen Menschen in den USA oder Japan oder Argentinien deutsche, italienisch, österreichische, französische, englische Opern?
Zu Yasmina Reza: Deren Werke wurden im deutschen Sprachraum u. a. von Luc Bondy oder Jürgen Gosch inszeniert, also von unbestritten großen Künstler. Bondy wiederum war auch ein großer Botho-Strauß-Regisseur. So wie Peymann ein großer Bernhard- und Handke-Regisseur war. Mit welchen (deutschsprachigen) Autoren werden aktuell wichtige deutschsprachige Regieleute assoziiert? Welche Autoren werden von deutschsprachigen Regisseuren mit aufgebaut? Mir fällt auf Anhieb niemand ein. Es wirkt fast, als würden sich Regie und Dramaturgie immer weniger gern von Autoren stören lassen. Man bleibt in der Theaterbubble lieber ganz unter sich und baut sich die Stücke selbst (oder das, was man für Stücke hält). Möglicherweise hat hier eine Verengung der Perspektive stattgefunden, die eventuell auch für so manches gegenwärtige Problem des Theaters - bis hin zu sinkenden Auslastungszahlen - verantwortlich ist.
Streitfall Drama (3): Theatersysteme
Es ist nicht unbedingt nur eine Frage der Stücke, sondern auch eine der Theatersysteme. In Frankreich oder England mit seinen tourenden Companies, die Gastspielhäuser ensuite bedienen, braucht es "Hausnummern", also bekannte Titel. In Osteuropa mit einem Stadttheatersystem finden auch unbekanntere, übersetzte Stücke, die im Repertoire gezeigt und vermittelt werden, nach und nach ihr Publikum. Dass darunter durchaus eine Anzahl von Stücken aus Deutschland sind, zeigt ein Blick auf die Spielpläne.
Streitfall Drama (3): Restaurativ
Visconti argumentiert voll restaurativ. Er scheint nicht mitgekriegt zu haben, dass die Bubble, die er sich zurückträumt, niemand mehr will. Strauss, Handke, Bernhard, alles Boulevardautoren, die keinem wehtun und die mittlerweile verstaubter sind als die Weimarer Klassik. Der Laden läuft nicht einmal mehr mit Shakespeare, außer man rechnet die Zombie- und Sekten-Aufführungen, die die Theater zu Hinterstübchen runtergebläht haben, dazu. Den Deutschunterricht, der den Spielplänen den Rücken stärkte, gibt es nicht mehr. Die Jugend interessiert sich nicht für Schulbänke, sondern für die Strasse.
Streitfall Drama (3): Deutsche Sprache
@12 Es ist kein deutscher Text, sondern ein in deutscher Sprache geschriebener Text. Und warum man Lust hat sich inhaltlich auszutauschen, muss man nicht erklären.

Definieren Sie „deutschen Text“.
Streitfall Drama (3): Völkerverständigung
#16: Mache ich gern: Ein deutscher Text ist ein im geopolitsch deutschsprachigen Raum in deutscher Sprache verfasster Text von einem Menschen, dessen Muttersprache undoder neben seiner/ihrer ursprünglichen Muttersprache gleichberechtigt erlernt, die deutsche Sprache ist.

Wenn was dramaturgisch behandelt wird- ein Text, der inszeniert werden soll, wird zwangsläufig dramaturgisch behandelt, muss man vermittelnd schon den Beteiligten am beginnenden Probenprozess erklären, warum genauer man Lust hat(te), sich inhaltlich auszutauschen. Andernfalls wird es freundschaftlich intendiert behandelt, aber nicht dramaturgisch intendiert. Aus freundschaftlicher Behandlung enstehen auch viele Theaterarbeiten. Für meinen Geschmack eher zu viele... Aus im erweiterten Sinn Liebesdienst gegenüber konkreten Theatermenschen kann ein/e AutorIn Liebesbriefe schreiben oder ähnliches - aber keine Stücke, die dann auch über die Zeit tragen können. Auch ganz diverse unbekannte Darstellerpersönlichkeiten über deren Zeit des Berufes/der Berufung tragen können...

Dass in Osteuopa durchaus Übersetzungen deutscher Texte gespielt werden, hat vor allem was mit Festival-Kuratorien und dem Einfluss der Goethe-Institute bis in die Theaterverlage und politisch intendierte Theater-Förderstrukturen hinein zu tun: Man weiß nie genau, wann hier die kulturelle Empfehlung in deutschen geopolitischen Kontrollwahn kippt... - sowas darf man aber nicht sagen, neiiiiiin, die deutschen Instrumente der Völkerverständigung sind unfehlbar. Nämlich.
Streitfall Drama (3): gesprochene Sprache
Es geht um gesprochene Sprache. Man denkt in gesprochenen Worten, falls man einen Theatertext verfasst. Man notiert sozusagen gesprochene Worte, ähnlich wie Musiker Noten notieren. Nun ist die Musik scheinbar universell. Ich wurde eines besseren belehrt, als mir ein Korrepetitor der komischen Opfer sagte: Die Töne, die ihre Romafrauen singen, gibt es auf meinem Piano nicht. Auch die Musik scheint nicht vollkommen universell zu sein. Aber eines ist doch klar, falls ein gesprochenes deutsches Wort ins italienische übersetzt wird, ist es kein deutsches gesprochenes Wort mehr, sondern ein italienisches oder spanisches oder französisches oder oder oder…,…von daher greift ihre Definition zu kurz. Der Sound macht die Musik und nicht die ursprüngliche Sprache, falls sie übersetzt wurde. Darüber hinaus bin ich Bürger der EU und schreibe selbstverständlich zumindest europäische Texte. Außerdem kommen viele Texte wohl ganz gut ohne eine deutsche Dramaturgie aus. Man kann als AutorIn und RegisseurIn eigene Texte gut ohne Dramaturgie direkt an die SchauspielerInnen vermitteln. Da lassen sich Wege durchaus sinnvoll verkürzen. Eine kulturelle Festlegung auf die Muttersprache oder angenommene oder erlernte Zweitsprache ist aus der Zeit gefallen und im europäischen Rahmen nicht mehr relevant.
Streitfall Drama (3): Ein Gleichnis
Ein Mann macht an einem heißen Tag mit einem Blinden einen Spaziergang. Der Mann sagt: "Ich könnte jetzt etwas kalte Milch gebrauchen." Der Blinde erwidert: "Ich weiß, was kalt bedeutet, aber was ist Milch?" Sagt der Mann: "Milch ist eine weiße Flüssigkeit." Sagt der Blinde: "Ich weiß, was Flüssigkeit bedeutet, aber was ist weiß?" Sagt der Mann: "Weiß ist die Farbe der Federn eines Schwans." Sagt der Blinde: "Ich weiß, was Federn sind, aber was ist ein Schwan?" Sagt der Mann: "Ein Schwan ist ein Vogel mit einem gekrümmten Hals." Sagt der Blinde: "Ich weiß, was Vogel bedeutet, aber was ist gekrümmt?" Darauf nimmt der Mann etwas ungeduldig den Arm des Blinden, krümmt ihn am Ellbogen und sagt: "Das ist gekrümmt." Darauf der Blinde: "Aua! Aber jetzt weiß ich, was Milch ist."
Das Gleichnis wird mal einem nach Gott befragten Rabbiner, mal dem nach der Relativitätstheorie befragten Albert Einstein in den Mund gelegt. (Die Quelle der hier zitierten Variante ist Christian Hesse: Was Einstein seinem Papagei erzählte.)
Streitfall Drama (3): Sound der Umgangssprache
#18: Hmm. Ich finde, dass der Sound der Ursprungssprache auch den Sound der Übersetzung bestimmt - abgesehen davon, dass die Sprachmusik eine besondere Musik ist, die nicht immer mehrheitlich gesungen wird wie in der Oper. Der ober- und untertonreiche Sound der gesprochenen Sprache isr weit mehr mit Bedeutungsrahmen versehen, als die notierte Musik, die über einen Text gelegt wird.
Falls din gesprochenes deutsches Wort in Italienische übersetzt wird, verliert es trotzdem nicht den Zusammenhang, in dem es geschrieben wurde und auch nicht seine Genese. Was selbstverständlich auch für fremdsprachige Wörte gilt, die in die deutsche Umgangssprache eingang gefunden haben oder für Französische Wörter etwa die ins Italienische übersetzt wurden.
Ich habe nicht von DEUTSCHER Dramaturgie gesprochen. Um als AutorIn an professionelle SchauspielerInnen für Probenarbeit zu gelangen, müssen Sie entweder gleichzeitig DramaturgIn, Regisseurin oder SpielerIn sein. Sind sie das nicht, kann von GUTER Vermittlungsmöglichkeit textinhärenter Dramaturgie keine Rede sein.
Die erlernte Muttersprache oder GLEICHZEITIG mit der Muttersprache erworbene Zweitsprache IST eine Festlegung: Die eigene Kindheit ist niemals aus der Zeit gefallen. Zu keiner Zeit. Und nirgends auf der Welt. Ich gebe Ihnen jedoch recht, das solche schlichte Wahrheit im europäischen Rahmen nicht mehr relevant ist. Das wird auch zum Schaden des europäischen Gedankens werden, wenn dies nicht bereits der Fall ist. Ohne Festlegung gibt es keine Emazipation. Von gar nichts.
Streitfall Drama (3): Europäische Dramaturgie
Es werden nicht nur Worte übersetzt, im besten Fall, sondern auch Gestus, Haltung und Psychogramme, beziehungsweise seelische Manifestationen. Falls es für die Entsprechungen in anderen europäischen Sprachen gibt, ist es sinnlos die Übersetzung auf eine Sprache rückführen zu wollen. Wir benötigen mindestens eine europäische Dramaturgie, wenn nicht sogar eine globale. Und in der spielen nationale Sprachen eine untergeordnete Rolle.
Streitfall Drama (3): Internationalität
Man kann die Diskussion auch umdrehen: Wieviele aktuelle, also neue Theaterstücke aus Großbritannien, Frankreich, Italien, Polen, Tschechien, Albanien usw. landen denn auf deutschen Bühnen? Es sind eher geschmeidige, "allgemeinmenschliche" Stücke wie die von Florian Zeller (demente Eltern) und Y. Reza (Stress unter Eltern). In Großbritannien werden, auch in den regionalen Theatern, z. B. Stücke über Rassismus, Einwanderung gespielt. Die kommen meist nicht zu uns. Also Stücke, die Probleme des jeweiligen Landes verhandeln (wobei es natürlich auch bei uns Rassismus gibt). Das sagt nichts aus über die Qualität der Stücke!
Streitfall Drama (3): Selbstverständnis
#21: Da gebe ich Ihnen recht, was die Übersetzungsleistungen anlangt, das meinte ich ja auch mit den Ober- und Untertönen z.B. und das mit den Worten losgelöst vom szenischen Zusammenhang, haben Sie zuvor ja so in die Diskussion eingebracht - Nun schreiben Sie aber von seelischen Manifestationen ebenso - und die gehören eben zu den muttersprachlich kodierten Festlegungen, die eben auch die geopolitischen, zur kindlichen Lebenszeit gehörenden, Prägungen enthalten. Da zu unserer Lebenswirklichkeit schon lange lange Zeit Einwanderungs- und Fluchtbewegungen gehören, sollte eine globales historisches Denken ohnehin zum Beruf des Dramaturgen gehören. Das benötigen nicht "wir" (wie definieren sie dieses "Wir"?) explizit, sondern der Beruf in seinem Selbstverständnis...

In so einem Selbstverständnis spielt nationale Sprache eben keine untergeordnete sondern im Gegenteil eine WESENTLICHE Rolle beim Verständnis und bei der Vermittlung eines nationalsprachlich verfasstenTextes.

#22: Das ist m.E. ein außerordentlich berechtigter Kritikpunkt, dass hier die Diskussion ebenso einmal umgekehrt sinnvoll wäre! - Allerdings möchte ich Ihnen, weil ich das von Ihnen als "allgemeinmenschliche" bei Reza oder Zeller Bezeichnete als angeframte Kritik an meiner Einlassung unter Kommentar 5 persönlich nehme, mitteilen, dass ich mit MenschlichAllzumenschliches nicht etwa das meine, was Sie beschreiben.

Sondern konkret meine eben 1. der menschlichen Natur entsprechende Allgemeinmenschliche Zustände wie Altern, Alter, Krankheit, Tod und Sterben, Erwachsenwerden, Jugend, Reifen, Liebe, Verrat, Neid, Eifersucht, Irren, Demütigung, Unterwerfung, Befreiung, Versagen vor Herausforderungen, Mut und Übermut, Feigheit und Lähmung vor Angst etc.
Und zwar dies alles realexistierend meine unter 2. sehr konkreten, von konkreten politischen Klassen-Interessen und Machtverhältnissen geprägten, Bedingungen. Und dazu gleichzeitig als ablesbar real existierend meine in 3. exemplarischen menschlichen, weil auch universal möglich un-menschlichen, Situationen, die für diese jeweiligen Bedingungen (unter 2.) typisch sind...

Das können Situationen in der näheren oder weit zurückliegenden Vergangenheit sein, solche in der Gegenwart oder solche in einer fiktiven fernen Zukunft.

Manchmal sind Situationen in einer weit entfernten Vergangenheit m.E. jedoch genauer für die Beschreibung des Handelns in der Gegenwart als gegenwärtige Situationen.

Weil wir im Schutz der scheinbar sicheren Entfernung das Menschliche/Allzumenschliche näher an unsere Seele heranlassen können als das Gegenwärtige und wir u.U. genau deshalb unsere Gegenwart aus dem künstlichen, künstlerisch erzeugten Abstand besser sehen, beurteilen und bewältigen können. Ohne Bewusstsein von der Gegenwart haben wir als Menschen sowieso keine Zukunft. Und ohne Vergangenheitsbewusstsein (wozu unser Bewusstsein von unserer eigenen wie auch anderer familiärer Sprachprägung gehört) haben wir keine Gegenwart...

Wenn Sie "geschmeidige Stücke" mit so Inhaltsschlagworten wie "Demente Eltern" oder "Stress unter Eltern" belegen können, sagt das vielleicht nichts über die Qualität der Stücke von Zeller oder Reza aus, wie Sie abschließend beteuern. Sehr wohl sagt es aber etwas darüber aus, dass Sie diese Stücke bzw. Allgemeinmenschliches als Verhandlungsmasse der Dramatik für eher nicht qualitätsvoll halten und diese persönliche Haltung sehr wohl auch näher unbegründet gern verallgemeinert wissen wollten.

@#18 und Redaktion:
Für meinen sprachlich stümperhaften Kommentar unter #20 möchte ich mich entschuldigen. Ich hätte ihn nicht kurz vor Beginn einer gestrigen Lesung schreiben und erst recht nicht abschicken sollen.
Streitfall Drama (3): Rückschritt
@22

Ja. Die Zeiten, wo man hierzulande Dario Fo aus Italien, Pinter aus England, Gombrowicz aus Polen und Koltes aus Frankreich spielte scheinen ersatzlos gestrichen zu sein. Was für ein Rückschritt. Wie konnte das geschehen?
Streitfall Drama (3): Erzählkunst zählt
Reza ist eine große Autorin und Zeller kann gut und thematisch interessant schreiben. Ich finde: Theater muss auch das bieten können. Und vielleicht ist das überhaupt die Basis, bevor man sich an die ganz großen politischen Themen heranwagt. Und: Dafür gibt es eben Publikum, davon bin ich fest überzeugt. Und es gibt Schauspieler, die diese dankbaren Rollen spielen können und wollen. Zwei Fliegen mit einem Streich.
Absolut kann ich der Anmerkung betreffend Fo, Pinter usw. zustimmen. Was da an Verlusten in den letzten Jahren stattgefunden hat! Jeder dieser Autoren hat im kleinen Finger mehr an Erzählkunst, Figurencharaktisierung und Fantasie als die meisten der von Regie und/oder Dramaturgie in Do-it-yourself-Manier zusammengestellten "Stücke" der letzten Jahre, die viel zu oft einfach nur ärgerlich sind und auf so vielen Ebenen (Schauspiel! Plot! Thematik! Dialoge!) grandios scheitern (die einzigen Profiteure scheinen die Tantiemenbezieher zu sein). Es ist - meiner Ansicht nach - teilweise unglaublich, an welchen Dilettantismus man sich hier oft gewöhnt hat. Das Aufwachen ist bitter, wenn man dann z. B. eine gelungene Pinter-Inszenierung sieht und erkennt, was alles Theater sein kann - aber auch was definitiv nicht ... Ich bin leider der Meinung, dass dieses inszenatorisch-dramaturgisch bedingte Desinteresse an "echten" Stücken mit "echten" Geschichten und "echten" Figuren für die Vernachlässigung der Dramenliteratur verantwortlich ist. Und auf deutschsprachige Autoren wird zurückgegriffen, weil sie halt billiger sind oder es billiger geben (also mit ihren Texten alles machen lassen, ohne Widerspruch einzulegen). Und ich bin der Meinung, dass die hier von mir geschilderten Tendenzen für einen Teil des Publikumsschwunds verantwortlich sind.
Streitfall Drama (3): Europäische Dramatik
#25: Bei Pinter und der jüngeren britischen/irischen Dramatik sehe ich das weniger problematisch als bei Fo oder beispielsweise Gombrowicz oder Koltes. Das liegt m.E. daran, dass hier in den Mitte bis ende 90er Jahren sich Rowohlt Theaterverlag noch unter der Leitung Corinna Brochers, verdient gemacht hat um die ziemlich fundierte Vermittlung von britisch/irischer Tradition, die die nachfolgenden Schreibgenerationen gut einordnen konnte in das Schreiben nach Pinter und Bond, also Sarah Kane und Martin Crimp etwa. Da wurden die dann auch gespielt in Deutschland, ohne dass die Verbindung zu dramaturgische Verbindung zu Pinter oder Bond abgerochen ist. Am Beginn ihrer klugen Bemühung stand auch die enge Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut, des DT und des Royal Court. Später wirkte sich diese Enge vllt nachteilig aus, weil zu schnell reine Geschäftsbeziehungen standen, die die ursprünglich angedachte intellektuelle gegenseitige Bereicherung dann dominierten und zur Druck-Presse einer dramaturgischen Beliebigkeit führten, die vor allem auf Absatz in den beidseitigen Märkten ausgerichtet war. Wegen der Unterschiedlichkeit der beiden Theatersysteme sind dabei dann bei dem Austausch auch die deutschen AutorInnen gegenüber den englischsprachigen britischen und irischen ins Hintertreffen geraten, weil wir viel mehr Theater und umfangreicheren Spielbetrieb haben in Deutschland als das in GB der Fall war und ist...

Was Fo betrifft mag eine Rolle gespielt haben, dass von den professionellen Rezipienten selten sein duales Arbeiten mit Franka Ramee mit entsprechender Aufmerksamkeit bedacht und als die selbstverständliche arbeitseinheit beschrieben wurde, die es in der Realität war. Erfreulicherweise gibt es in den jüngeren Generationen von Fachpublikum und TheatermacherInnen keine Geduld mehr für solche Frauenarbeit in der Theaterkunst unterschlagenden Fach-Antizipation haben haben. Ein Glück! - Andererseits wissen wir durch diesen Abbruch des Interesses aus moralischer Ungeduld heute wenig bis nichts über die nachfolgende jüngere italienische Dramatik.
Was auch für die jüngere polnische Dramatik gilt. Hier wird seit Jahren in kurativen Motti gedacht: diesesJahrDramatik/Theater aus GeorgienMoldawien... - und nach dem entsprechenden Event fallengelassen... wenige TheatermacherInnen nur halten es danach mit einer Kontinuität im Beobachten und Weiterführen - Ein großer Verlust an kulturellem Austausch bis in die deutsche Dramatik hinein, weil es ja z.B. in Polen schon vor Preußen viele deutsch-polnische Bevölkerungsbewegung gegeben hat und ohne die preußische Geschichte in Polen auch die deutsche Naziherrschaft nicht den Boden für sich und ihre Eroberungspläne durch Zerissenheit so bereitet gefunden hätte! (hier verweise ich immer gern auf Johannes Bobrowski und dessen große Erzählkunst, die uns so viel über diese Geschichte lehren kann, selbst wenn er keine Dramatik geschrieben hat).
Ich vermisse das, ich vermisse das in deutscher Sprache vermittelte Wissen um eine polnische Dramatik nach Gombrowicz und deren Verbundenheitspfade zu ihm z.B....

Was Koltes anlangt, so hat ihm und seinem Werk vllt. die kreiert und hochgehaltene Debatte um das N-Wort geschadet, sodass dem Werk in der Folge eher ausgewichen wird. Was doch sehr bedauerlich ist. Überhaupt weiß man wenig über die jüngeren französische Dramatik und da hilft es wenig, wenn ein Regisseur wie Ostermeier, der auch mit dem F.I.N.D.-Festival jedes Jahr versucht, den deutschen Theater-Blick ins Weite zu führen, Prosawerke mit deren Autoren als Theaterabende inszeniert, sozusagen verstückt... Vielleicht weiß einer unserer gut beschäftigten Übersetzer von u.a. Koltes und Beckett, Simon Werle, darüber etwas zu sagen, welche Linien der Tradition in der französischen Dramatik ohne unser Wissen hier in Deutschland frisch und erneuernd beschritten wurden???
Streitfall Drama (3): Closed Shop
Und zweitens: Fehlt vielen deutschsprachigen Autor*innen eben gerade diese internationale Verzahnung ihrer Arbeiten und damit – ganz inhaltlich – auch ihre jeweilige Bedeutung? Diese Rechnung lässt sich nicht ohne den Betrieben (Stadttheater und Verlage) machen, die nach "innen" produzieren, aber nicht nach "außen". Es fehlt die Einbindung internationaler Theater, internationaler Künstler*innen, internationaler Themen. DIeses System ist ein Closed Shop. WIe soll da irgendwas nach außen dringen? Die deutschen Stadttheater kochen nach wie vor mehrheitlich in der eigenen Suppe und viele der Autor*innen mehr oder weniger gezwungenermaßen (Macht der Dramaturgien und Verlage) auch.
Streitfall Drama (3): Namen
Die Namen, die ich nannte, sind gar nicht wichtig. Die Frage zielte darauf, wieso dieser Austausch heute so nicht mehr stattfindet und ersatzlos gestrichen wurde. Stattdessen gibt es einen Austausch von und innerhalb von Projekten, in den Autoren und Innen marginalisiert sind.
Streitfall Drama (3): theoretischer Überbau
Um einmal wieder zum Hauptthema zurück zukehren: Es ist doch nicht das Ich welches verschwindet. Das feiert bei Instagram und TikTok und in der Politik, an sich gesamtgesellschaftlich fröhliche Urstände. Es ist ein Beruf, der sich mit dem Ich und seiner Darstellung, der Menschendarstellung beschäftigt, der immer mehr verschwindet. Und das nur, weil das Ich und seine Darstellung nicht mehr in den theoretischen Überbau der Theater und Kulturbetriebe passt. Das Ich soll aus dem Kunstbetrieb verschwinden, aus ideologischen Gründen und durch kollektive Formen ersetzt werden. Außerhalb der Kunstbetriebe besteht es selbstverständlich weiter, es wird nur nicht mehr innerhalb der Kunstbetriebe reflektiert, weil es abgebaut werden soll. Deshalb muss eben auch der Beruf der Theaterautorin und des Theaterautors verschwinden oder sich bis zur Unsichtbarkeit dem Kollektiv unterordnen. Autoren und Innen liefern nur noch Spielmaterial, häufig ohne jede eigene Position, marginalisiert bis zur Unkenntlichkeit. Das Kollektiv oder Team dominieren.
Streitfall Drama (3): Gleichwertigkeit
#29: Das finde ich sehr gut beschrieben! - mit kleinen Einschränkungen, die eine Debatte unbedingt lohnten, aber wieder vom hier gesetzten Kern wegführten...

Meine Erfahrung ist: Das Kollektiv oder Team ist auch nur so stark wie der schwächste Einzelne in ihm. Das ist dem Kollektiv-Gedanken immanent. Und das ist ein Problem in der Kunst - aber auch in der Wissenschaft und Forschung, wenn der Kollektiv-Gedanke das Maß aller Dinge ist in einer Gesellschaftspolitik.

Es ist kein Problem, wenn Kollektivleistung und Einzelleistung als moralisch GLEICHWERTIG gelten in einer Gesellschaft.

Dramatik ist m.E. dazu da, genau diese Gleichwertigkeit im moralischen Urteil über erbrachte intelektuelle, mentale wie materielle Leistung der Gesamtgesellschaft abzufordern.

Tut sie das, verschwindet sie auch nicht. Möglicherweise verschwindet der Autor oder die Autorin in diesem von Ihnen beschriebenen Ich-feindlichen Denk- und Verhaltensmilieu - deren/dessen jeweilige Dramatik tut es nicht. (Was ebenso auf die Erzählliteratur als Sprachkunstform und Dichtung zutrifft) Die gibt es und die Gesellschaft samt ihrer Kultur-, Wissenschafts- und Bildungspolitik muss sich durch die bloße Existenz der aus der Antizipation ausgeschlossenen Werke fragen lassen, WARUM GENAU sie keine Verantwortung für explizit deren Verbreitung übernimmt.

Ein interessanter Diskussionansatz findet sich bei Ihnen durch diesen Satz bezüglich des Ich: "Außerhalb der Kunstbetriebe besteht es (das vermeintlich verschwundene Ich - B.v.m.) selbstverständlich weiter, es wird nur nicht mehr innerhalb der Kunstbetriebe reflektiert." - Das ist philosophisch hochinteressant, was Sie da behaupten! - Denn es bedeutet, dass Kunstbetrieb, Lebenswirklichkeit nicht reflektiert, sondern lediglich politische Ideologie (wie immer die aussehen mag). Mithin wäre der Kunstbetrieb nurmehr ein Polit-Betrieb, in welchem Kunst qualitativ überhaupt keine Rolle (mehr) spielt.

Daraus ergibt sich für mich die Frage, ob Kunstbetrieb in JEDEM Fall als Kunst-Betrieb- unabhängig von Kunst-Qualität, lediglich Werkzeug von politisch intendierter Einflussnahme auf gesamtgesellschaftliche Denk- und Handlungsabläufe ist oder ob dies nur u.a. der Fall ist; als Nebenprodukt eines Kunstbetriebes, der das Individuum in Gestalt des Autor/der Autorin als EINZELproduzent von Kunstwerken aus moralischer Ver-Bildung tendenziell ausschließen will?

PS: Ihre beispielhaften Namen taugten immerhin sehr gut zur näheren Beschreibung eines Mangels an Zusammenhang, der heute behindernde Tatsache geworden ist, deshalb: danke für die Beispiele!
Ich überlege, ob dem Mangel, über dessen Existenz wir uns einig zu sein scheinen, eventuell neu beizukommen wäre, wenn eine Ausgangsposition für Dramaturgen-Ausbildung heute eine zuvor abgeleistete profunde komparativistische Ausbildung wäre?
Streitfall Drama (3): Wie Chagall
Ich überlege, ob ich den Mangel nicht einfach aushalten und auf jüngere Generationen warten sollte, die ihn wieder beheben, denn leider geht es im Theater zu wie in der Musikbranche: Ein Trend löst den anderen ab. Man kann auf Menschen, deren Ich im Kollektiv aufgeht, um gemeinsame Stärke zu demonstrieren, nicht wirklich bauen und vertrauen. Das wusste schon Chagall, der aus seiner Heimat von ein paar geometrischen Figuren vertrieben wurde. Man muss es einfach aushalten, in die innere Emigration gehen und abwarten, wer den Laden demnächst wieder aufbricht. Oder er geht eben unter. Betriebe, die Menschendarstellung vermeiden, um eine kritische Sicht auf das eigene Ich auszuschließen, können nicht nachhaltig sein. Irgendwann kommt jemand und fängt von neuen an, die Persönlichkeiten dieser Kollektive kritisch, vielleicht sogar komödiantisch auszuleuchten.
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