"Meine Schuld, meine Mordsgeduld"

29. August 2022. Wie bringt man Tschechows berühmtes Schwestern-Trio, das sich "nach Moskau" sehnt, heute auf die Bühne angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine? Dušan David Parízek rekurriert in seiner Inszenierung auf die aktuelle Situation – mit Figuren, die den Großteil ihres Lebens schon hinter sich haben und resigniert darauf zurückschauen.

Von Jens Fischer

"Drei Schwestern" in der Regie von Dušan David Parízek am Theater Bremen © Jörg Landsberg

29. August 2022. Das romantisch verklärte Weh und Ach spätfeudal sich langweilender Nichtsnutze der vorletzten Jahrhundertwende als die Schmerzlarmoyanz eines sich selbst ermüdenden Bürgertums im Hier und Heute herzurichten, das ständige Wegwollen aber nie Wegkommen mit Birken und Samowar zu garnieren sowie der Liebe Lustschübe wehmütig verwehen zu lassen: Das war ein sicherer Repertoire-Hit.

Und jetzt? "Ich lass mir den Tschechow doch nicht von Putin wegnehmen", hatte Kulturstaatsministerin Claudia Roth in einem Interview ausgerufen. Das Theater Bremen schließt sich dem an. Statt eines Boykotts russischer Texte angesichts von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine brachte es "Drei Schwestern" zur Premiere. Aber die von verworrenen Sehnsüchten paralysierte Melancholiekomödie kann heutzutage nicht nur für ein bisschen lebensgefühlige Selbstbespiegelung genutzt werden.

Im Bewusstsein des eigenen Scheiterns

Regisseur und Bühnenbildner Dušan David Parízek hat den Spielort denn auch als riesigen Probenraum herrichten lassen, in der Mitte prunkt ein Würfel für Schattenspiele und Overhead-Projektionen, aber auch zum Ausleben von Zerstörungswut. Die Textfassung sucht mit etlichen Zitaten anderer Werke nach Situationen, in denen sich die "russische Seele" offenbart und vielleicht etwas über den jetzt vielfach erstaunt konstatierten Hang zur Unterwürfigkeit erzählt. Dazu wird auch gleich ein Song des Liedermachers Bulat Okudschawa angestimmt: "Ach, der erste Krieg – da ist keiner schuld, / Und beim zweiten Krieg – da hat einer Schuld, / Doch der dritte Krieg – ist schon meine Schuld / ist ja meine Schuld, / meine Mordsgeduld."

Zwei gravierende Setzungen gibt es. Die drei Schwestern sind in der Vorlage in ihren Zwanzigern, in Bremen werden sie von mehr als doppelt so alten Schauspielerinnen verkörpert. Das Nach-Moskau-Seufzen als Nach-Heimat-Streben scheint also folgenlos geblieben zu sein, der Ausruf wird ironisch zum Schmerzensschrei zerstückelt – "nach Mosk – au – aua". Bei den Schwestern regiert die Trauer um das vergeudete Leben. Gespielt wird es als Rückschau. Also im Bewusstsein des eigenen Scheiterns. Szenen leuchten wie Erinnerungsmomente auf, werden feinsinnig erkundet, in verzweifelter Leidenschaft ausgelebt oder höhnisch kommentiert, etwa das Macker-Verhalten der Männer.

Schwestern1 805 JoergLandsbergTrauer um das vergeudete Leben: Verena Reichhardt, Peter Fasching, Alexander Swoboda, Lisa Guth (hinten), Irene Kleinschmidt und Anna Zaorska © Jörg Landsberg

Irritierend: In "Drei Schwestern" gibt es nur zwei Schwestern. Die Premiere war für Mai 2020 geplant und wurde wegen Corona mehrmals verschoben. Inzwischen ist die Mascha-Darstellerin leider schwer erkrankt. Die Inszenierung beerdigen wollte das künstlerische Team genausowenig wie die Kollegin ersetzen. Ihre Texte übernehmen nun die anderen beiden Schwestern und die Souffleuse. Dass das kein Regiegag ist, erschließt sich allerdings nicht aus der Aufführung, sondern nur durch die Lektüre des Programmheftes. Als Notlösung ist der Umgang mit der Leerstelle aber nicht zu sehen, da der lässig performative Duktus des Abends so einfach nur weitergedreht wird.

Verena Reichhardt ist als Olga eine großartig sarkastische Komödiantin. Sie intoniert "Ich will keine Schokolade / Ich will lieber einen Mann", ahmt Tiktok-Teenie-Tänze nach und springt den begehrten Werschinin in geiler Emphase an: hinreißend komisch. Irene Kleinschmidt gibt die Irina einsam vergrübelt in ihrer Hoffnungslosigkeit. Alle anderen bekommen ein Solo, womit Parízek wohl Facetten seiner Sicht auf den "russischen Menschen" andeutet.

Selbsttäuschung. Realitätsverlust, Trägheit

Der Schwestern Bruder Andrej (Peter Fasching) haut im Arbeitsbienen-Kostüm reichlich Ekel übers schreckliche Parasitenleben seiner erbärmlichen Beamtenexistenz heraus, schwärmt von Freiheit – und tut nichts dafür. Steht daher wohl für Besitzstandswahrung, Rückzug ins Private, Selbsttäuschung, Realitätsverlust und Trägheit. Neu erzählt wird Soljonyjs (Martin Baum) Liebelei, in Bremen verfolgt er herztosend den Baron Tusenbach (Matthieu Svetchine), macht dabei vogelartige Flatterbewegungen, kann aber natürlich nicht abheben – aus Unruhe erwächst Selbsthass. Werschinin (Alexander Swoboda) spricht zeitgeistig korrekt "ich fühle, dass ich als Mann schuldig bin", bezeichnet sich angesichts seiner Speckröllchen am Bauch aber auch als erschlafft und unbrauchbar. Auf die Frage, ob Krieg seiner Identitätsverwirrung helfen könnte, antwortet er: "Ja, das würde mir gefallen, Teil der Geschichte zu sein."

Schwestern2 805 JoergLandsbergEinsam vergrübelt: Irene Kleinschmidt als Irina © Jörg Landsberg

Alle Figuren verzweifeln irgendwie an der Differenz zwischen ihrem aufgeblähten Selbstverständnis und der jämmerlichen Realität – das könnte als Analogie gemeint sein zu Russlands Weltmachtstolz, der mit der geopolitischen und ökonomischen Wirklichkeit kollidiert. Was für hegemonialen Nationalismus empfänglich macht. In der Inszenierung wie in Putins Kriegspropaganda geht es um die Aktivierung der Vergangenheit. Um ein Zurück ins 19. Jahrhundert, das prachtvolle Kaiserreich. Schuldig fühlen sich dabei die Schwestern, hatten sie einst doch nur Macho-militärische Mannsbilder in Uniform angehimmelt, diese gefährliche Sehnsucht nach starker Führung tut Irina nun als "kranken Scheiß" ab.

Beckett-Figuren am Bühnenrand

Natascha (Lisa Guth) ist anders. Sie sitzt schon zu Beginn mit eisiger Miene da wie Putin. Erst biedert sie sich an, bald ist ihr Schatten größer als ihr Gatte Andrej in natura. Ein Fall von Klassismus. Die aus einfachen Verhältnissen kommende Frau wurde am Hofe der Schwestern verlacht. Die Wut darüber lebt sie nun destruktiv aus, erniedrigt und kränkt andere, überrollt alle haustyrannisch mit ihrem Machthunger.

Am Ende sitzen Olga und Irina am Bühnenrand wie zwei Beckett-Figuren: "Wir leben. Müssen leben. – Warum, wofür? – Leben. Müssen. Leben müssen. – Erinnern müssen." So könnten sie ewig weitereden und der Zeit beim Vergehen zuschauen. Immer wieder gibt es diese sinnbildlichen Momente. Und reichlich komische und traurige dazu. Aber eben stets Momente nur. Insgesamt ist die Inszenierung mangels Stringenz und Konsistenz leider etwas zu lang geraten. Wozu Parízek aber das blendend aufgelegte Ensemble gecoacht hat, ist beeindruckend genug für einen sehenswerten Abend.

 

Drei Schwestern
von Anton Tschechow
Regie und Bühne: Dušan David Parízek, Kostüme: Mara Zechendorff, Licht: Joachim Grindel, Musik: Peter Fasching, Dramaturgie: Viktorie Knotková.
Mit Verena Reichhardt, Peter Fasching, Irene Kleinschmidt, Anna Zaorska, Lisa Guth, Matthieu Svetchine, Martin Baum und Alexander Swoboda.
Premiere am 28. August 2022
Dauer: 2 Stunden 25 Minuten, keine Pause

www.theaterbremen.de

 

Kritikenrundschau

Die Inszenierung habe Längen, das Bühnenbild überzeuge nicht und die Bezüge zum Ukraine-Krieg seien eher bemüht, findet Katrin Ullmann von Deutschlandfunk Kultur (28.8.2022). Dušan David Parízeks Regie verliere sich in vielen Themen.

"Der Sound hat die Inszenierung zugänglicher gemacht, manchmal sogar richtig unterhaltsam. Auch die schauspielerische Leistung hat das eher träge Stück belebt", so Christine Gorny von Bremen Zwei (29.8.2022). "Irgendwann werden die vielen Kunstgriffe aber doch anstrengend.“ Es bleibe ein zwiespältiger Eindruck: "Inhaltlich haben die Bremer 3 Schwestern Tschechow auf jeden Fall moderner und diverser gemacht, aber fürs Publikum auch verwirrender."

Eine "gelungene Inszenierung" hat Jan-Paul Koopmann für die taz (31.8.22) gesehen. Die Weltlage – mithin die aktuellen "Verhältnisse" – hätten sich "eingeschrieben in die Produktion – subtil zwar, aber eben doch so, dass es einem über die zweieinhalbstündige Aufführung keine Ruhe lässt", schreibt der Kritiker. Zudem präsentiere sich das Bremer Ensemble "in Höchstform".

Kommentare  
Drei Schwestern, Bremen: Probe vor Publikum
Sie sind gefürchtet: Die ersten Durchlaufproben auf der Probebühne, wenn sich die Spieler*innen im unbarmherzig vom Arbeitslicht ausgeleuchteten, markierten Bühnenbild in aus zusammengewürfelten Fundus-Probenkostümen durch die bisher nur separat gearbeiteten Einzelszenen quälen nach dem Motto: Hauptsache durchkommen, egal wie. Rhythmus, die größeren Bögen, fließende Szenenübergänge, die klarere Konturierung des Inszenierungsganzen etc. ergeben sich häufig erst während der Endproben, im Originalbühnenbild und -licht samt finaler Kostümierung.
Als Zuschauer*in konnte man während des gestrigen, die Spielzeit eröffnenden Premierenabends den Eindruck gewinnen, einer solchen ersten Durchlaufprobe beizuwohnen, den wunderbaren Spieler*innen bei ihrer Arbeit aber auch ihrem Leiden zuzusehen und zugleich dem geschundenen Stadttheaterbetrieb bei der Suche nach seiner eigenen, mehr denn je in Frage stehenden Zukunft, die er noch immer hofft, in der Auseinandersetzung mit über 120 Jahre alten Texten zu finden. Eigentlich eine typisch tschechow‘sche Konstellation: tragisch und unfreiwillig komisch in einem.

PS: Herzliche Genesungswünsche an die erkrankte Kollegin!
Drei Schwestern, Bremen: Das Erbe der Verbannten
Das Zitat von Claudia Roth geht zu weit. Es ist völlig eindeutig, daß das Kiewer Regime für die damnatio memoriae der russischen Literatur verantwortlich ist.
Aus dem Kiewer Straßenbild müssen russische Klassiker wie der Fabeldichter Iwan Krylow, der Poet Alexander Puschkin und der Romancier Lew Tolstoi weichen. Der romantische Lyriker Michail Lermontow (den ich selber übersetzt habe, der Text liegt beim Verlag der Autoren), der wegen seiner Kritik an den russischen Zuständen in den Kaukasus verbannt wurde, muss ebenso verschwinden wie der apolitische und zutiefst humanistische Dramatiker und Prosaist Anton Tschechow.
Bürgermeister Witali Klitschko begründete die Umbenennungsaktion damit, dass dies ein wichtiger Schritt sei, "um die betrügerische Manipulation und den Einfluss des russischen Aggressors auf die Interpretation unserer Geschichte zu verringern".
Das ist revanchistischer Unsinn, den man sich nicht zu eigen machen kann, schon gar nicht wir Deutschen.
Denn das Erbe der Verbannten treten häufig mittelalterliche Fürsten an – Personen, die außerhalb des ukrainischen Nationalistenmilieus niemand kennt. Oder es wurden gleich Agitpropnamen wie »Straße der Helden von Mariupol«, »Melitopoler Partisanenboulevard« und dergleichen gewählt. Aber es gibt jetzt auch statt der nach dem früheren sowjetischen General des II. Weltkriegs benannten Marschall-Malinowski-Straße eine »Straße der Helden des Regiments ›Asow‹«, die einen neonazistischen Truppenteil der ukrainischen Armee verherrlichen soll. (Quelle: R. Lauterbach, Junge Welt).
Frau Roth ist immerhin Kulturstaatsministerin der Bundesrepublik Deutschland. Die deutsche "Haltung" zu dem Konflikt ist bereits (unter anderem Dank der "Grünen") auf einem absoluten Tiefpunkt der Unehrlichkeit und des Hasses angekommen. Sie zerstören die Beziehung der klar denkenden Theaterleute (falls es sie gibt) zu ihren öffentlich Verantwortlichen auf eine nicht wieder gut zu machende Weise.
Drei Schwestern, Bremen: Ganz ok
Ein ganz oker Abend allerdings ist die Leistung des Ensembles aus meiner Sicht mehr als durchwachsen... vor allem Herr Baum scheint nicht nur mit seiner Rolle zu fremdeln, sondern fällt tatsächlich durch mangelndes Beherrschen technischer Grundlagen auf.

Sehr seltsam.

Insgesamt , wie gesagt, ok.
Drei Schwestern, Bremen: Geistige Mobilmachung
Geistige Mobilmachung
Jens Fischer bespricht die Inszenierung von Tschechows „Drei Schwestern“ von Dušan David Parízek am Theater Bremen wie einen Akt der geistigen Mobilmachung. Statt eines „Boykotts russischer Texte angesichts von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine" werden diese propagandistisch verkehrt.
In meiner Übersetzung von Andrea Clemen sagt Werschinin im Vierten Akt: „In früheren Zeiten war die Menschheit mit Kriegen beschäftigt, ihr Dasein war erfüllt mit Feldzügen, Überfällen, Siegen, jetzt ist das alles überlebt und hat eine große Leere hinterlassen, die wir noch nicht ausfüllen können. Die Menschheit sucht leidenschaftlich, und sicher wird sie etwas finden. Ach, wenn es doch bald soweit wäre.“ Bei Parisek wird daraus die Frage, ob Krieg seiner Identitätsverwirrung helfen könnte: "Ja, das würde mir gefallen, Teil der Geschichte zu sein."
Von geradezu unüberbietbarem Zynismus ist es, wenn Kulygin wegen der Verlegung des Artillerieregiments nach Polen (!) zu den Unterleutnants Fedotik und Rode sagt: „Am Ende heiraten Sie noch dort in Polen … Ihre Polenfrau wird Sie umarmen und sagen: ‚Kochanje!' Lacht". „Baby" soll die Polenfrau sagen, dabei musste einem gebildeten Menschen wie Tschechow spätestens seit Kleists „Marquise von O….“ bekannt sein, dass russische Soldaten notorische Vergewaltiger sind.
Die Russen sind Feinde, die russische Seele ist Feindesseele und als solche Target im Cyber-Krieg!
Dass es in der Inszenierung nur 2 Schwestern gibt, macht gar nichts. Mascha ist irrelevant. Die beiden Lehrerinnen Olga und Irina, die den russischen Kindern ihren „göttlichen Funken" austreiben und sie zu „Macho-militärischen Mannsbildern in Uniform" programmieren, reichen für den Pranger aus.
Kommentar schreiben