Durchgepeitscht und abgeperlt

1. September 2022. Wenn der Regisseur Benny Claessens ins Theater lädt, wird es laut. Diesmal werden sogar die Fenster aufgerissen, damit sich die Zürcher Nachbarschaft an der Weltuntergangs-Disco im Theater Neumarkt erfreuen kann. Und drinnen? Da legen die Götter eine kleine Welt in Trümmer.

Von Valeria Heintges

"White Flag" in der Regie von Benny Claessens @ Philip Frowein

1. September 2022. Bevor die Welt untergeht, mach doch einfach noch mal Party. So könnte man, nur leicht verkürzt, den Abend "White Flag" von Regisseur Benny Claessens am Theater Neumarkt zusammenfassen. 

Naja klar, da gibt es schon noch ein paar Zwischentöne und Extraszenen. Und auch reichlich viele dramaturgische Ideen, die das Ganze in gedankliche Höhen schreiben. Unter "Die Gött:innen wagen den Aufstand gegen die bestehende Ordnung: Sie versuchen, männlich konnotierte Begriffe wie Stärke, Genialität und Heldentum neu und anders zu betrachten" geht es nicht. Aber wer die Fakten nimmt und das Gesehene zu deuten versucht und ein bisschen kondensiert, der könnte sagen: Bevor die Welt untergeht... Siehe oben. 

"Are you okay?"

Etwas ausführlicher sieht die Sache so aus: Auf die lange Bühne des Neumarkt hat Stefan Britze einen langen, schmalen Raum gestellt, von dem das Publikum, das an der langen Kante sitzt, zunächst nur einen kleinen Ausschnitt zu sehen bekommt. Von dem kann man schließen, dass der Raum auf allen Seiten, auf Wänden und Decke mit rosa Flokati bespannt ist. Den Beweis muss mal wieder die Live-Kamera erbringen. Die zeigt zunächst die spannenden Gesichter der Sänger von schmaz – dem schwulen Männerchor Zürich. Die 25 Männer sind einer nach dem anderen in den Kasten gestiegen und singen jetzt unter der Leitung von Ernst Buscagne Nicos "These days" von zu vielen Veränderungen, denen die Sängerin mit Rückzug begegnet. 

Es folgt ein Gespräch unter den drei Performer:innen, Tänzer:innen, Akteur:innen: Challenge Gumbodete im grünen, langen Tüllkleid, Benjamin Abel Meirhaeghe im weißen mit zurückhaltend bunten Flecken und Teresa Vittucci im hellgrünen Oberteil, lila Schärpe und hohen weißen Strümpfen. Sie essen Perlen, die sie wieder auskotzen. Genug des Reichtums, weg mit dem Luxus, so könnte man das wohl deuten. Und her mit tiefgreifenden Gesprächen im Stil von "I did this and this and this, but actually I did that and that and that" (Originalzitat!). Gut, da geht es jemandem nicht so doll. Aber fürsorglich fragen sie sich immer wieder "Are you okay?" und antworten adäquat mit "Yes, I am okay". Danach wechseln sie ins Café, ein kleines Eck mit ein paar Stühlen. Dort rufen sie mehrfach "Entschuldigung" und peitschen sich ohne Peitsche. Das Bild mag hinken, aber so sieht es aus, wenn sie mit den Armen wedeln und so in die Hände klatschen, als träfen sie sich selbst. 

Krawall im Abendrot

Das Licht ist jetzt abgedimmt, auch die Live-Kamera kann nur noch trübe Bilder zeigen. Die Gedanken fischen auch ein wenig im Trüben. Man wundert sich, weil man die Göttinnen nicht sieht oder zumindest nicht assoziiert. Dunkel wird es auch in den Liedern, die schmaz jetzt singt: Schuberts "Im Abendrot" und "Nachtmusik". Schöne Lieder, sehr schön gesungen, schmaz setzt Glanzpunkte. 

White Flag - Erstaufführung Theater NeumarktRegie: Benny ClaessensDramaturgie: Tine MilzMusik & Komposition: Nid & SancyBühne: Stefan BritzeKostüme: Teresa VerghoIm Glashaus: Die Performer:innen im Bühnenbild von Stefan Britze © Philip Frowein

Die Götter (oder wer die drei sein sollen) demolieren ihr Flokati-Zuhause, reißen alles ein, bis nur noch die Gestänge übrigbleiben. Dazu hämmern Tranceklangteppiche von Nid & Sancy. Und zwar zum ersten Mal so ohrenbetäubend, dass man froh ist um das Paar Ohrstöpsel, das man mit der Eintrittskarte bekam, begleitet von den Worten: "Die sind ernst gemeint". Wer da nicht zugegriffen hat, wird es bereut haben. Dazu werden, damit es auch die ganze Straße mitkriegt, noch die Fenster geöffnet – der Restaurant-Pächter in den unteren Etagen hat schon vor Monaten die Flucht ergriffen. 

Medea, Medusa und Billy Joel

So, und nun sitzen die drei in ihrem demolierten Daheim – und bekommen erstmal Kinder. Dazu knüllen sie herumliegende Stoffbahnen, gebären sie – und erschlagen sie dann mit einem Stein. Manche Stoffballen werden auch ersäuft, erdrückt oder erstochen. Das gescheite Programmheft redet von Medea, "die ihre Kinder erschlägt und danach erlöst wird". Ah ja, wird sie? Es redet auch von Medusa, "die ihr Blut wie Korallen im Meer weiterleben lässt (frei nach Hélène Cixous)". Wer's weiß, ist schlau. Wer’s auch noch sieht und erkennt, beinahe ein Genie. 

Also klar, man könnte das weiterführen. Dass da allerlei geschraubt behauptet wird, aber wenig klar erkennbar auf der Bühne gezeigt. Dass hingegen das Gezeigte kryptisch und ziemlich halbgar wirkt. Klar wird aber jedem und jeder dies: schmaz singt "So it goes" von Billy Joel, in dem sich einer deutlich zu spät seinem geliebten Menschen öffnet. Und dann geht die Post ab. Die Musik hämmert zum Wändewackeln, die 25 schmaz-Herren schwingen das Tanzbein. Die drei Akteure zeigen ein bisschen Vogueing und tragen einen Anklang von Modesammelsurium, schließlich entstand der Tanzstil in Anlehnung an das Gehabe von Models auf Laufstegen, deren Posen sich Homosexuelle für ihre Zwecke anverwandelt haben. Diese Party dauert lange 23 Minuten. Man sieht sie aber immer weniger, weil die Bühne ordentlich eingenebelt wird. Party feiern ist ja schön, Party gucken aber eher langweilig, wenn man auf dem Stühlchen gerade mal mit den Zehen und dem Oberkörper wippen kann, aber schon bei der Oberkörper-Masche den Nachbarn mächtig nervt. 

Also, eben, das gibt es zu sehen: Bevor die Welt untergeht, mach doch einfach nochmal Party. Sagte ich doch. 

White Flag
Regie: Benny Claessens, Chorleitung: Ernst Buscagne, Musik/Komposition: Nid & Sancy, Bühne: Stefan Britze, Kostüme: Teresa Vergho, Voice-over: Brandy Butler, Julien Gosselin, Live-Kamera: Urs Berliner, Florian Hinder, Dramaturgie: Tine Milz.
Mit: Challenge Gumbodete, Benjamin Abel Meirhaeghe, Teresa Vittucci und schmaz – schwuler männerchor zürich.
Premiere am 31. August 2022 
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
Theater Neumarkt in Koproduktion mit Opera Ballet Vlaanderen, präsentiert im Rahmen des Zürcher Theater Spektakels

theaterneumarkt.ch

 

Kritikenrundschau

"Was wird hier erzählt?" fragt Theresa Hein im Online-Magazin Republik (1.9.2022) und antwortet: "Eine Satire auf die Banalität des menschlichen Daseins, die an der Oberfläche bleibt, aber bild- und tongewaltig ist". Problematisch sei, dass man vom Inhalt nur etwas verstünde, wenn man das Programmheft gelesen habe. "Bei einem guten Theater­abend ist das egal, denn was beeindruckend genug ist, bedarf keiner Erklärung. Im Falle von 'White Flag' ist es unglücklich, weil die einzelnen lustigen und schrecklichen Einfälle (banale Gesprächs­fetzen, so was Ähnliches wie Geburt und Kindermord) zu oft wiederholt werden, insgesamt zu lange dauern und sich deshalb das Gefühl einstellt, was die Performance nicht von selbst auszudrücken vermag, sei noch ins Programm­heft gepresst worden."

"Sie [die Performance] ist laut, viele Akteure sind auf dem Plan und die Bilder sind wuchtig", berichtet Kaa Linder im SRF (online 2.9.2022). Damit all dies wirken kann, bräuchte es schlicht mehr Platz, findet die Kritikerin. "Starke Brüche, starke Bilder", das seien die Merkmale dieser Performance, "die sich jeder Sehgewohnheit entzieht". Über weite Strecken zelebriere sie Teilnahmslosigkeit, um direkt danach "große Emotionen los zu treten". "So ließe sich die Inszenierung des belgischen Wunderkindes Benny Claessens bei aller Verwirrung und Überforderung beim Zugucken am ehesten verstehen: Als Ode an die Zärtlichkeit und die Zerbrechlichkeit menschlichen Dasein", fasst die Kritikerin ihren Eindruck zusammen.

"White Flag" ist Anti-Agitationstheater mit einem allerdings bösen, kruden Kern, um den herum sich die Sehnsucht nach einer umfassenden Zärtlichkeit herausbildet", beschreibt Egbert Tholl den Abend in der Süddeutschen Zeitung (online 2.9.2022). Die drei Performer:innen agierten "als Göttinnen oder antike Heldinnen, die ihre Kinder töten oder sonst wie Blut vergießen, das vom rosa Flokati aufgesogen wird". Daraus entstehe der Traum eines Neubeginns, bei dem sich alle tanzend die Tränen wegwischten. "Zauberhaft seltsam", ist dieser Abend für den Kritiker.

 

 

Kommentare  
White Flag, Zürich: So true
„Party feiern ist ja schön, Party gucken aber eher langweilig“ - so true : )
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