"Zischt man? Ist Skandal?"

8. Dezember 2008. Friedrich Schiller, dessen "Die Räuber" Haare-Ausreißen, Augenrollen und Frühgeburten provozierte, Gerhart Hauptmann, der mit seinen "Webern" den höchstwohlgeborenen Zorn des Kaisers erregten, der skandalöse Ibsen mit seinen Leichen im Bürgerkeller, Frank Wedekind der Obszönling, Brecht der kaltherzige Anarchist – sie alle machten Skandal auf dem Theater. Derartiges, heißt es, hat es nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem deutschsprachigen Theater nicht mehr gegeben. Oder vielleicht doch?

Das ist eine der Fragen, mit denen sich Bernd Noack in seinem Buch "Theaterskandale von Aischylos bis Thomas Bernhard" beschäftigt. Noack ist in die Archive gestiegen und fündig geworden. Er hat Dramatiker, Regisseure und Journalisten getroffen, befragt und vernommen. Was macht einen Skandal auf dem Theater aus? Was bedarf es, um Skandal zu erregen? Welche Rolle spielen die Medien? Wie kommt es, dass sich wohlanständige Bürger, wenn Skandal ist, benehmen, als hätte der wilde Wullewatz sie in den Hintern gebissen?

Dabei geht Noack durchaus über Thomas Bernhards "Heldenplatz" und die Fuhre Mist vorm Burgtheater hinaus. Er besichtigt den Aufruhr um Volker Löschs "Weber" in Dresden, beobachtet, was passierte, als Michael Thalheimer den "Woyzeck" bei den Salzburger Festspielen im Blut waten ließ oder rekonstruiert die Versuche, mit Spiralblock und Ekeltheater die Aufmerksamkeit des Publikums zu gewinnen. Genauso würdigt Noack die Spitzenleistungen der Kulturpolitik: wie der linken Scala im Wien der fünfziger Jahre von einer unheiligen Koalition aus Kommunisten, Sozialisten und Konservativen das Lebenslicht ausgeblasen wurde. Wie das Schiller Theater in Berlin 1993 der hochmögenden Inkompetenz einer Stadtregierung zum Opfer fiel. Und wie es Christoph Marthaler als Intendant in Zürich erging.

Wir danken dem Residenz Verlag in Salzburg für die Erlaubnis, einen Auszug – das leicht gekürzte Gespräch mit Jürgen Flimm – aus Bernd Noacks Buch auf nachtkritik.de zu veröffentlichen.

(jnm)


Jürgen Flimm: "Da kommt eben Zugluft auf"

 

Herr Flimm, was ist eigentlich ein Theaterskandal?

Der Theaterskandal ist eine Störung der bislang eingeübten Sichtweisen.

 

Und Sie haben sich als Regisseur sicher das eine oder andere Mal an derartigen "Störaktionen" beteiligt …

Einer meiner größten Theaterskandale war im Jahr 1982, "Hoffmanns Erzählungen" an der Hamburger Staatsoper. Das Stück haben wir umgedeutet, aber nicht verdreht, sondern gesagt: E.T.A. Hoffmann war ein Alkoholiker und ein Womanizer, auch ein toller Komponist – alles, was ein romantischer Künstler in sich vereint. Wir hatten einen großen Raum, der war leer, bis auf Schränke, in denen er Sachen gesammelt hat – Spazierstöcke, Schmetterlinge. Hinten war ein großes Fenster. Und dieser Hoffmann lag im Bett, drumherum lauter leere Weinflaschen. Offensichtlich war er schon betrunken, bevor es überhaupt losging. Den Hoffmann hatte Neil Shicoff gespielt und gesungen – damals ein ganz junger Sänger, heute Weltstar – der das Konzept mitgemacht hat. Dann entstieg während der Ouvertüre dem Bett ein sehr schönes Mädchen, augenscheinlich nur mit einem T-Shirt bekleidet, stand noch eine Weile mit Blick auf Hoffmann am Fenster und verschwand dann. Und da war unten schon die Hölle los. Dann wehten diese Geschichten, die der Hoffmann auf Druck der Gesellschaft immer erzählen musste, durch das Fenster, durch die Türen in den Saal hinein und wehten wieder hinaus.

Die Leute haben geschrien, waren außer sich. Diese vornehmen Hamburger, die zeigten die italienische "Leck-mich-am-Arsch"-Geste, rollten die Programmhefte zusammen zu Verstärkern für ihre "Buhs" – es war unglaublich. Und als wir rauskamen beim Bühnenausgang, kam mir eine Frau entgegen, die hat mich angeschrien: "Herr Flimm" – und jetzt kommen wir zum entscheidenden Punkt – "warum nehmen Sie uns unseren Hoffmann weg?" Also der Hoffmann gehört nicht der Kunst oder der Rezeption oder dem Ausdruck der Zeit, sondern der Hoffmann gehört ihnen.

Und dieses Muster wiederholt sich. Die Zeiten verändern sich, es kommen genauere Leseweisen hinein in die Geschichten, man geht die Stücke von verschiedensten Perspektiven an. Und wir haben damals gesagt: Der Hoffmann, um den geht es, der muss ins Zentrum.

Wenn Sie das heute so machen würden – und jetzt kommen wir zum zweiten Punkt, den ich höchst interessant finde – hätten Sie einen Riesenjubel und wahrscheinlich wäre es schon so ein bisschen alte Moderne.

 

Das ist ja nun gerade mal 20 Jahre her …

Ja, aber heute wäre das eine absolut durchgesetzte Veranstaltung. Der wunderbare Götz Friedrich hat damals gesagt: "Zu früh!" Wahrscheinlich war das wirklich irgendwie eine Generation zu früh. Dasselbe ist dem Zadek passiert mit dem berühmten "Othello". Der Zadek ist ja den "Othello", den ich damals schon für eine ganz wesentliche Aufführung gehalten habe, ganz frei von Interpretation angegangen. Er hat sich auf die Probe gesetzt und hat die Schauspieler einfach losspielen lassen. Daraus ist eine radikale Aufführung geworden, die aber schmutzig war, völlig weg war von irgendeinem westdeutschen Shakespeare-Rezeptionsmuster der 50er Jahre. Ich glaube, dass die Aufführung ganz nah an Shakespeare war, weil sie höchst theatralisch war. Während wir Deutschen ja unseren romantischen Shakespeare pflegen, hat Zadek den theatralischen Shakespeare gezeigt. Mit wunderbaren Schauspielern, mit ganz großen komischen Szenen, mit der Mattes, dem Wildgruber, toll!

Und was haben die Leute gerufen? "Zadek – Scheiße". Weil er sie in ihren Rezeptionsmustern massiv gestört hat. Heute würde diese Aufführung Jubelstürme erleben. Verglichen mit den Dekonstruktivisten von heute könnte man sagen: Ja, das passt, das passt genau ins Bild der Zeit.

 

Aber was ist da in dieser relativ kurzen Zeit eigentlich passiert? Wenn man an heute denkt, an Gosch und den "Macbeth" etwa, der auch keine richtige Empörung mehr hervorruft; auf den Titelbildern sieht man die blutverschmierten Körper – die Gewöhnung ist doch erstaunlich.

Nein, die Gewöhnung ist nicht das Ding, es sind die Moden. Man kann ja nicht sagen, dass das Theater authentische Kunstwerke produziert, das sind ja nur Übersetzungen in Moden, die Interpretation vom Regisseur ist ja nichts anderes. Und die Moden wechseln natürlich. Die kommen und gehen. Wenn man mal bei dem herausragenden Gosch bleibt und Sie lesen jetzt, was er mit "Onkel Wanja" gemacht hat, dann ist das ja ganz rührend, wie er da zurückgeht.Da sitzen alle auf der Bühne, machen ein bisschen Klickklack-Klickin klack; am Schluss, wenn alle verreisen, dann macht es Pling-pling für die Kutsche – und da ist man auf einmal wieder bei Peter Brook und bei dem szenischen Minimalismus gelandet.

Es kommt noch was anderes hinzu, was ich früher immer meinen Studenten erzählt habe: Gucken wir uns mal "Clavigo" von Kortner an. Also so rum: Nehmen wir mal an, wir beide würden uns das ansehen und Sie würden mich fragen: Warum zeigen Sie mir das überhaupt? Dann würde ich sagen: Das war 1962 ein Riesenskandal am Hamburger Schauspielhaus. Und dann suchen wir den Skandal. Und finden ihn nicht! Und Sie fragen: Was war jetzt daran so aufwühlend, was war das? Und es war wahrscheinlich so etwas Banales, dass Thomas Holtzmann, der den Beaumarchais gespielt hat, während er sprach, gegähnt hat. Weil Kortner, schlau wie er war, eine Szene in die Nacht gelegt hatte, und der völlig übermüdete Mann, der seine Probleme auf die Reihe kriegen muss, kann vor Müdigkeit kaum noch sprechen. Das, glaube ich, war der Skandal.

Das finde ich ja so sehr interessant: Der Skandal verschwindet ja. Peter Zadek war letztens mal bei mir zu Besuch und da hab ich ihm gesagt: Dein "Othello", der wäre heute absolut zentral im Mainstream. Und mit der Zeit wissen Sie es nicht mehr: Warum gab es damals so eine Aufregung? Die Rezeption ändert sich eben und sie ändert sich immer schneller. Die Rezeption verändert die Moden. Dabei meine ich den Begriff Mode nicht negativ. Mit Mode meine ich eine zeitgenössische Ausdrucksform.

 


Es ging ja bislang um Skandale, die etwas mit der Interpretation bekannter Texte zu tun hatten. Wenn man aber den Stückskandal nimmt, wie er einmal etwa mit Ibsen oder Hauptmann vorkam: da fällt einem für die Nachkriegszeit doch nicht viel mehr als "Stellvertreter", Fassbinder und Bernhard ein und dann ist schon Schluss …

Halt, da gab es noch etwas ganz Wichtiges! Und zwar den Kroetz. Das war in München absolut radikal, diese ersten Stücke an den Kammerspielen. Ich war damals Assistent dort, "Heimarbeit" und so … Da wurde ja auf der Bühne onaniert und all dieses Zeugs. Ich weiß noch, ich saß beim Pförtner, und da kam der Heinz Baumann, der Schauspieler, und auf einmal rief einer draußen vor der Tür: "Da kommt die Sau!" Der Baumann hatte aber gar nicht mitgespielt in dem Stück. Aber das war denen egal. Der Schauspieler war einfach die Sau. Also der Kroetz war damals immer ein Skandal … und da gibt’s noch ein paar andere. Handkes "Publikumsbeschimpfung" zum Beispiel. Das Publikum hat ja für bare Münze genommen, was die da oben erzählt haben. Das war ganz merkwürdig, wie die Leute auf der Bühne angefeindet wurden.

Aber die Auseinandersetzung um ein neues Stück Literatur, um eine andere Aufarbeitung eines Themas oder die Benennung von bisher nicht Gesagtem ist ja normal: "Madame Bovary" war sicher ein Skandal, "Effi Briest" auch. Das waren unerhörte Geschichten, weil da plötzlich eine andere Perspektive sichtbar wurde. Ebenso war auch "Nora" einer.

 

Ist denn der Skandal in unserer "aufgeklärten" und eher abgestumpften Zeit überhaupt noch möglich?

Es ist nicht die Frage, ob er möglich ist, das klingt danach, als könnte man ihn produzieren. Man kann Aufregung produzieren, aber nicht den Skandal im ästhetischen Sinn. Der Skandal – für mich – ist das, was die Perspektive der Zuschauer empfindlich stört, aber dabei eben gleichzeitig zu Neuem beiträgt. Das ist der seriöse Skandal. Und der Skandal, den man produzieren kann – das ist ja überhaupt nicht schwer. […]

 

Fehlt dem Theater in unserer Zeit der Skandal?

Ja, er ist leider abhanden gekommen. Die Überschrift über das Theater, das wir momentan haben – und das meine ich jetzt gar nicht negativ – heißt "Anything goes". Es gibt keinen verbindlichen Kanon des Interpretations-, des textexegetischen Theaters mehr. Diese verbindliche Interpretationsebene gibt es nicht mehr. Man kann es machen wie der Gosch, der, nicht mit dem "Macbeth", aber mit dem "Wanja", in einer richtigen Zadekschen Tradition steht. Zadeksche Tschechow-Aufführungen sind ja auch legendär, die waren ja auch Brüche, totale Brüche mit diesem ganzen Atmosphären-Gesumme, das dem Tschechow bis dahin anhaftete. Auch die "Wildente" von Zadek war so ungewöhnlich.

Und dann gibt es die hochbegabten jungen Leute, Falk Richter zum Beispiel. Der versucht sehr inhaltlich zu arbeiten; dann gibt es den Nicolas Stemann, der viel Gas gibt. Der fährt mit einem schweren Motorrad über die Texte. Aber das geht auch, ist auch hochinteressant. Also Sie sehen, da wird es jetzt schwierig: Der Skandal ist nicht mehr das Überraschende, sondern der Skandal ist eigentlich das, was man ein bisschen schon erwartet. Wenn man reingeht, ist irgendwie längst alles klar: Aha, Thalheimer, wieder 70 Minuten und auch Blut … alles im Schnelldurchgang.

Ich finde den Weg ein wenig bedauerlich, weil das Spannende, das Unerwartete verloren geht. Das erlebt man ja fast schon nicht mehr, dass man sagt: Ah ja, so geht das ja auch! Warum habe ich so nie darüber nachgedacht? Also der Skandal als Vorbild, als was Neues, das fand ich immer sehr aufregend. Zum Beispiel Neuenfels’ "Aida" in Frankfurt. Da war so was los. Die Leute haben mit Klorollen geschmissen, auf Trillerpfeifen gepfiffen. Ich hab mich mit einem fast gehauen, "Nazi" hab ich den beschimpft. Der hat mich verklagt, aber der Staatsanwalt hat das abgewiesen. Das war ein Skandal, weil der Neuenfels auch den Text genau angeguckt, befragt hat. Nicht einfach einen an die Rampe gestellt hat und alle sind begeistert. Riesenskandal: Das war sicher für die Geschichte der Opern-Ästhetik unverzichtbar.

Diese Skandale machen ja neue Türen auf – und da kommt eben Zugluft auf. […]

 

Über eines stolpert man in diesem Zusammenhang immer: über das Publikum. Gut angezogene, honorige Herrschaften, Stützen der Gesellschaft, Bildungsbürger – plötzlich rasten die aus wie auf dem Fußballplatz …

[…] Ich weiß die richtige Antwort auch nicht wirklich, warum die Menschen sich so aufregen können. Anscheinend trifft man da ganz tiefe Geschichten, reißt ganz tiefe Wunden. Es gibt immer wieder diese Debatten, in denen es um Werktreue geht. Ich habe mal zu einem Mann in einer öffentlichen Diskussion gesagt: Sagen Sie, wann haben Sie das Stück zum ersten Mal gesehen? Und da hat der gesagt, dann und da – es ging um das "Käthchen von Heilbronn" von Kleist. Da hab ich gesagt: Kann es nicht sein, dass Sie diese Initiation, die Sie erfahren haben mit Käthchen und Kleist – kann man ja um Mozart, Wagner und viele andere erweitern – wiederhaben wollen? Da hat er ein wenig nachgedacht und gesagt: Das stimmt. Und da ist der Punkt, dass die erste Berührung, die Initiations-Berührung mit bestimmten Erscheinungen von Kunst, insbesondere mit der theatralischen Kunst – die ja, wenn sie gut gemacht ist, in den Magen fährt –, dass das irgendwie wie der Beginn einer schweren schönen Krankheit und einer großen Liebe ist – und dass diese Ordnung gestört wird, und man dadurch viel verliert. Ich kann es mir nur so erklären. Die Leute verlieren, was sie lieben. Der große Schritt, der da manchmal getan wird, der verletzt. Und das macht die Sache ja auch so schwierig. Ich habe durchaus Verständnis für eine solche Verstörung. Und ich glaube, dass das beim Publikum auf jeden Fall auch etwas mit einer bestimmten Sozialisation, ganz sicher etwas mit dem Verlust von Heimat zu tun hat …

 

Aus: Bernd Noack
Theaterskandale von Aischylos bis Thomas Bernhard,
Salzburg, Residenz Verlag 2008,
255 S., 22 Euro.

 

 

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