Auf einem Keller voller Leichen

10. September 2022. Mit dem Ende des Osmanischen Reiches begann die konfliktreiche Gründung der Türkei. Nuran David Calis leuchtet sie aus, anhand dreier Frauenschicksale. In "Medea 38 / Stimmen" nach Doğan Akhanli am Theater Bonn.

Von Gerhard Preußer

"Medea 38 / Stimmen" von Nuran David Calis nach Doğan Akhanli am Theater Bonn © Thilo Beu

10. September 2022. Was ist das? Fremdartige Historienerzählung, Chronik von Märtyrern und Heiligen? Kommunistische Propaganda?

So fragt sich der Autor selbst. Kurz vor seinem Tod 2021 hat der türkisch-deutsche Schriftsteller Doğan Akhanlı ein Konvolut mit dem Titel "Medea 38 /Stimmen" fertigzustellen versucht. Nuran David Çalis hat nun dieses monumentale Fragment in Bonn auf die Bühne gebracht. Ein zwiespältiges Unternehmen.

Wer im Theaterpublikum kennt sich aus in der jüngeren türkischen Geschichte? Wohl wenige. Aber aus diesem Abend kommt man ganz sicher klüger wieder heraus. Es gibt einen unablässigen Strom von Informationen zu verarbeiten.

Komplexe Fremdheitserfahrungen

Akhanlıs Grundidee ist raffiniert und komplex: Anhand der Biografien von drei türkischen Frauen werden die Verdrängungsmechanismen der türkischen Gesellschaft gezeigt. Den deutsch-antiken Hintergrundvergleich dazu liefert Christa Wolfs Erzählung "Medea.Stimmen" von 1996, in der sie den Medea-Mythos aus feministischer Sicht umdeutet. Medea ist dort nicht die Kindermörderin, sondern die verstoßene Fremde. Die Türkei wie Deutschland wie Korinth, Medea in Korinth wie die Juden in Deutschland wie Kurden und Armenier in der Türkei, so das Beziehungsgeflecht der literarischen Konstruktion.

medea 38 2 805 Thilo Beu uGeschichtsforschung im schwarzen Kubus: mit Daniel Stock, Ursula Grossenbacher und Markus M. Bachmann © Thilo Beu

Alle drei türkischen Frauen, die von Akhanlı vorgestellt werden, haben Verbindungen zur zentralanatolischen Stadt Dersim (heute Tunceli), die im 20. Jahrhundert ein Zentrum der kurdischen Opposition gegen den türkischen Staat war. Zunächst ist es Sakine Cansız, genannt Sara, die "Amazone von Dersim" (1958–2013), eine Mitbegründerin der Kurdischen Arbeiterpartei PKK. Sie wurde verhaftet, saß lange Jahre im türkischen Gefängnis, kam frei. Ihr Verlobter wurde wegen Verrats und abweichender Meinung von der PKK hingerichtet. Sara wurde von der Partei verstoßen, weil sie den Führungsanspruch Abdullah Öczalans und das "Töten in den eigenen Reihen" kritisierte. Schließlich wurde sie 2013 in der Emigration in Paris ermordet.

Kämpferinnen in den Konflikten Kleinasiens

Die nächste ist Sabiha Gögçen (1913–2001), ein Findelkind und eine Adoptivtocher des Staatsgründers Kemal Pascha. Sie wurde eine berühmte Kampfpilotin und war beteiligt an der Bombardierung der Provinz Dersim 1938, als das türkische Militär die alevitisch-kurdische Bevölkerung mit einem Ausrottungsfeldzug angriff. Akhanlı kann belegen, dass sie wahrscheinlich armenischer Herkunft war. So kommen wir zu dem anderen vertuschten Konflikt der Türkei: dem Genozid an den Armeniern 1915.

Die dritte mit Dersim verbundene Figur ist Sekine Evren (1922–1982), die Frau des Putschisten von 1980 und späteren Präsidenten Kenan Evren. Sie weigerte sich, im Präsidentenpalast zu wohnen, weil sie die Machtergreifung ihres Mannes nicht als legal anerkennen wollte. Sie war, das haben Akhanlıs Recherchen ergeben, eine Überlebende des Massakers in Dersim von 1938.

medea 38 1 805 Thilo Beu u"SUSAMAM, ich will nicht schweigen": Ursula Grossenbacher auf der Bühne von Anna Ehrlich © Thilo Beu

Diese drei Biografien werden nacheinander vorgestellt, aber eingeschachtelt in Passagen aus Christa Wolfs "Medea" und Kommentare eines Geschichtenerzählers, eines Meddah, hinter dem sich der Autor verbirgt. Die Gründung des Staates nach dem Ende des Osmanischen Reiches beruht auf der gewaltsamen Türkisierung der verschiedenen Völker Kleinasiens. "Die türkische Republik wurde auf einem Keller voller Leichen errichtet". Diese These wird durch die drei Frauenschicksale illustriert. Während der türkische Staat sich beharrlich gegen eine Aufarbeitung seiner Gründungsschuld wehrt, will Akhanlı einen "transnationalen Erinnerungsraum" schaffen.

Viel Lehrreiches, aber wenig Theater

Regisseur Çalis hat uns immer wieder gelehrt, die Perspektive umzukehren, die Welt aus dem Blickwinkel von migrantischen Familien zu sehen. Als Deutscher armenischer Herkunft hat er eine besondere Beziehung zu diesem Triptychon mit Stifterfigur.

Aber auf der Bühne sehen wir wenig von seiner Inszenierung und hören viel von Akhanlıs Text. Ein schwarzer Kubus steht in der Bühnenmitte, einsehbar durch Fenster, darin: eine Art Büro. Was hier verhandelt wird, wird gleichzeitig unnötig verdoppelt auf einem Videoscreen. Drei Schauspielerinnen (Ursula Grossenbacher, Julia Kathinka Philippi, Linda Belinda Podszus) verkörpern die drei Heldinnen. Schwarz gekleidete Schergen mit Stahlhelm und Genitalschutz brüllen im Chor die Slogans der türkischen Armee. Immer wieder wird die rätselhafte Parole SUSAMAM (deutsch: Ich kann nicht schweigen) an die Wände gepinselt. Schließlich gibt es auf dem Videoscreen auch noch kurze Interviews mit Fachleuten aus der Recherchearbeit der Dramaturgie zu sehen. Sonst versuchen die Schauspieler mit sinnreichen Gesten, heftigen Aktionen und erregter Stimmgebung sich durch das Textmassiv zu graben.

Was ist das nun? Eine bewegende Gedenkveranstaltung für Doğan Akhanlı, eine ausgedehnte Geschichtsstunde über türkische Historie, aber wenig Theater.

 

Medea 38 / Stimmen
von Doğan Akhanli
mit Texten und nach Motiven von Christa Wolf & Euripides & Seneca
Inszenierung: Nuran David Calis, Musik: Vivan Bhatti, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüme: Anna Sünkel, Video: Nuran David Calis, Licht: Thomas Tarnogorski, Boris Kahnert, Dramaturgie: Nadja Groß.
Mit: Christoph Gummert, Lena Geyer, Ursula Grossenbacher, Julia Kathinka Philippi, Linda Belinda Podszus, Markus J. Bachmann, Christian Czeremnych, Paul Michael Stiehler, Daniel Stock.
Premiere am 9. September 2022
Dauer: 2 Stunden 55 Minuten, eine Pause

www.theater-bonn.de

 

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