Überfall

11. September 2022. Der ukrainische Regisseur Stas Zhyrhov macht mithilfe dokumentarischen Materials erfahrbar, was Krieg aus Menschen macht. Ein Abend, der sich in emotionale Gemengelagen und innere Abgründe wühlt, über Hintergründe aufklärt und seinen Werkstattcharakter ausstellt.

Von Esther Slevogt

"Sich waffnend gegen eine See von Plagen" an der Schaubühne Berlin in der Regie von Stas Zhyrhov © Gianmarco Bresadola

11. September 2022. "Wann hab ich denn schon mal die Gelegenheit, einem Menschen die Kehle durchzuschneiden, so hab ich gedacht…" Mit diesen Worten erklärt am Telefon ein Mann, der wahrscheinlich ein russischer Soldat ist, einer Frau, die wahrscheinlich seine Frau ist, wie und warum er in den ersten Tagen des Krieges einen jungen Ukrainer ermordet hat.

Material aus dem Krieg

Der Satz stammt aus abgehörten Telefongesprächen russischer Soldaten, die darin Angehörigen, Ehefrauen meist, von begangenen Gräueltaten in der Ukraine berichten, als wären es Urlaubserlebnisse. Material, das der ukrainische Sicherheitsdienst gesammelt hat. Jetzt wird es eingespielt in einen Theaterabend, der dieses und anderes dokumentarisches Material verwendet, um daran erfahrbar zu machen, was der Krieg aus Menschen macht. Und aus Künstlern, ukrainischen Künstlern, die der Krieg plötzlich vor die Entscheidung stellte, ob und wie sie ihr brutal überfallenes Land verteidigen sollten.

Auf der Bühne steht ein langer Tisch. Dahinter erhebt sich eine riesige Leinwand, auf der im Laufe des Abends weiteres Material zu sehen sein wird: Filme, Fotos, Texte. Auf dem Tisch sind Dosen gestapelt, die wie Filmdosen aussehen. Allerdings sind sie orange, als wollten sie das Werkstatthafte und Materialbasierte dieses Abends betonen und gleichzeitig überhöhen. Orange war auch die Farbe der Revolution im Herbst 2004, die ein bedeutender "Nationbuilding"-Schritt der Ukraine war – ein Prozess, den abzubrechen als ein wesentliches Motiv für den russischen Überfall auf die unabhängige Ukraine gelten kann.

(Post)sowjetische Biografien

Drei großartige Schauspieler tragen den Abend, der vom ukrainischen Regisseur und jungen Leiter des Kyiver Left Bank Theaters Stas Zhyrhov und dem Dramatiker Pavlo Arie verantwortet wird. Und in dem man viel erfährt, auch von den komplexen historischen Hintergründen dieses Krieges. Da sind die beiden ukrainischen Schauspieler Dmytro Okiink und Oleh Stefan sowie Holger Bülow, der zum Ensemble der Schaubühne gehört. Okiink und Stefan erzählen auf ukrainisch, wer sie sind und woher sie kommen. Stefan, der 1965 noch als Bürger der Sowjetunion geboren wurde, wo er als Russe galt und entsprechend StefanOW hieß, schildert seinen Werdegang von Sowjetbürger zum preisgekrönten ukrainischen Schauspieler, der er heute ist. Okiink, der 1990 auf der Krim geboren wurde, steht für die postsowjetische Generation – aber auch seine ukrainische Identität wuchs erst in Folge eines Prozesses, den er jetzt hier, wie zuvor schon Stefan, ebenso witzig wie hochverdichtet in einem Monolog in ukrainischen Sprache erzählt.

Dann kommt Holger Bülow, der sich in die Rolle des ahnungslosen Tors und Simplizissimus begibt, der unbeleckt von jeglicher Kriegs- und Krisenerfahrung in den Probenprozess mit den Kollegen aus der Ukraine stolpert, wie diese zuvor in den Krieg. Am Ende schraubt er sich in einer virtuosen, wie atemberaubenden Performance mit Texten aus Pavlo Aries dostojewskihaftem "Tagebuch des Überlebens" in die Rolle eines hadernden Künstlers hinein. Ein Künstler, der es trotz der Nachrichten über Krieg und darin verübte Kriegsgräuel der Invasoren nicht vermag, zur Waffe zu greifen, um sein Land zu verteidigen. Dem Bülow zwischen den Zeilen auch nicht immer ganz humanes Verhalten attestiert – und den dieser Widerspruch fast in den Wahnsinn treibt.

Schaubühne am Lehniner Platz "Sich waffnend gegen eine See von Plagen" Ein Projekt von Stas Zhyrkov und Pavlo Arie. Regie: Stas Zhyrkov, Bühne: Jan Pappelbaum, Kostüme: Dagmar Fabisch, Musik: Bohdan Lysenko, Dramaturgie: Pavlo Arie und Maja Zade , Licht: Erich Schneider. Mit: Holger Bülow, Dmytro Oliinyk, Oleh Stefan.Premiere am 10. September 2022Orange ist die Farbe der Revolution – hier im Bühnenbild von Jan Pappelbaum © Gianmarco Bresadola

Ukrainischen Theatermachern, die das anders entschieden und in den Krieg zogen, sind wir zuvor mehrfach begegnet – in Videos, aber auch in Monologen von Dmytro Okiink, Oleh Stefan und Holger Bülow, deren Material teilweise aus Interviews via Videocall während der Proben stammt. Wir hören von Wowa Krawtschuk, Serhij Korschikow, Olex Krawtschuk und Wowa Kovbel, der inzwischen als verschollen gilt. Wir erfahren ihre Geschichten und Gedanken zum Tod an der Front, sehen sie in Bildern als Soldaten und in Rollen, die sie zuvor einmal spielten. Eingespielt werden auch Videos eines einstigen Puppenspielers, der sich Max "der Spanier" nennt, der aus dem Schützengraben lakonische Kommentare auf Facebook postet, während im Hintergrund Schüsse und Explosionen zu hören sind. Das befremdet immer wieder, weil es der Kriegs-Propaganda manchmal doch gefährlich nahekommt.

Innere Abgründe

Dass das ein durchaus gezielt herbeigeführter Effekt ist, wird spürbar, je weiter sich der Abend in die emotionalen Gemengelagen und inneren Abgründe hereinwühlt, die dieser Krieg, seine Umstände, aber auch seine Propaganda auslösen, von Zynismus bis zu ohnmächtiger Verzweiflung. Aus dem Dokumentarischen hat sich der Abend irgendwann verabschiedet. Am Ende stehen die drei Schauspieler in eine Art Schrank gepfercht, mit dem Bühnenbildner Jan Pappelbaum das Zimmer skizziert, in dessen Wände Holger Bülow als Alter Ego von Pavlo Arie zuvor dessen Gedankenströme aus den ersten Kriegstagen flüsterte und schrie und seine ganze Zerrissenheit so darin fast einmassierte. "Sich waffnend gegen eine See von Plagen" ist der Abend überschrieben, der dann davon erzählt, wie unterschiedlich die Wahl der Waffen ausfallen kann. Und dass Kunst davor schützen kann, in den Widersprüchen der Welt den Verstand zu verlieren.

 

Sich waffnend gegen eine See von Plagen
Ein Projekt von Stas Zhyrkov und Pavlo Arie
Übersetzung aus dem Ukrainischen von Sebastian Anton
Regie: Stas Zhyrkov, Bühne: Jan Pappelbaum, Kostüme: Dagmar Fabisch, Musik: Bohdan Lysenko, Dramaturgie: Pavlo Arie, Maya Zade, Licht: Erich Schneider, Video: Eric Dunlap.
Mit: Holger Bülow, Dmytro Okiink und Oleh Stefan.
Premiere am 10. September 2022
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.schaubuehne.de

 Kritikenrundschau

"Zwar wechseln die Spieler ihre Stimmungen von Ironie zu Trauer, doch inhaltliche Zwischentöne finden sich nie", schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (12.9.2022) in einem Text der mit "Spiel wird Kampf: Ukrainisches Kollektiv nutzt Schaubühne als Waffe" überschrieben ist. Bald würden sie Spieler "Verlautbarungen von den Kollegen im Krieg, die zwar Tod und Verwundung beklagen, aber ihren 'heldenhaften' Waffendienst keinen Moment infrage stellen" repetieren, so die Kritikerin. "Wer, wie Oleh, dann doch 'nur' im Theater steht, schaut traurig auf und tröstet sich damit, dass er die Trommel schlägt für diese 'Helden'." Dazu gehöre dann auch, dass staatlich abgehörte Telefonate russischer Soldaten eingespielt würden, die ihre Gräueltaten an ukrainischen Zivilisten preisen würden. "Schlimm, keine Frage, aber auch schlicht Propagandamaterial des ukrainischen Sicherheitsministeriums. So köchelt man am Krieg."

"Rund zehn Interviews haben Zhyrkov und Arie geführt und eine handvoll davon zu schlaglichtartigen Erzählungen vom Wahnsinn des Krieges verdichtet", schreibt Patrick Wildermann im Berliner Tagesspiegel (12.9.2022). Der Abend sei "eindringlich, frei von Pathos inszeniert", werde "mit Standing ovations gefeiert" und lasse die Zerrissenheit derer spüren, die sich gegen den Kampf im Schützengraben entschieden, so der Kritiker.

In ihrer Dokumentarinszenierung arbeiteten sich Stas Zhyrkov und Pavlo Arie "durch den Horror des Krieges in ihrer Heimat", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (13.9.2022). Er zitiert aus seinem Premieren-Gespräch mit dem Regisseur: "Wir machen keine Propaganda, wir erzählen von den Gefühlen der Menschen. Alles, was wir zeigen, ist die tägliche Realität dieses Krieges", so Zhyrkov laut SZ. Als Waffe habe Zhyrkov im Krieg und beim Wiederaufbau das Theater gewählt. In der Inszenierung zeige schon das sparsame Bühnenbild von Jan Pappelbaum, "dass hier keine Show, sondern eine Suche nach der Wahrheit stattfindet". Zur Ehrlichkeit des Regisseurs gehöre, dass er die Verrohung der eigenen Seite, seiner Freunde und Theaterkollegen, nüchtern festhält: "Das hat der Krieg aus uns gemacht." Oleh Stefan und Dmytro Oliinyk müsse man dabei "für die komödiantische Kraft und die Leichtigkeit ihres Spiels bewundern: Die Welt ist schrecklich, lass uns ein paar Witze machen".

"Auseinandersetzungen dieser Art findet man natürlich in der klassischen Dramenliteratur. Hier aber führt sie ein Mensch von heute, einer, der Schauspiel studiert, in Komödien und Dramen aufgetreten ist," schreibt Tom Mustroph in der taz (15.9.2022). Das macht es für ihn anders, direkter "und verstörender zugleich".

 

Kommentare  
Sich waffnend, Berlin: Bezugname auf Hamlet
Die Kritik macht wirklich sehr neugierig auf den Abend, dessen Titel aber dann doch die vierte Zeile des, wie ich zu glauben geneigt war, noch immer berühmtesten Monologs aller Zeiten in der Schlegel-Übersetzung zitiert. Die Bezugnahme auf Hamlet verstehe ich im Licht von Frau Slevogts Beschreibung vollkommen.
Sich waffnend, Berlin: Werkstattcharakter
Die Monologe der ersten drei Viertel des Abends sind künstlerisch so karg, dass dagegen selbst die faktenreichen Dokumentartheater-Abende von Hans-Werner Kroesinger opulent wirken. Erst im Lauf des Abends wird das Frontal-Theater mit seinen langen Infoblöcken häufiger durch kleine Clowns- und Slapstick-Einlagen unterbrochen.

Doch dieser „Comic Relief“ kommt oft im völlig unpassenden Moment. Ein Beispiel:
Der kurze Part mit Front-Berichten von Wowa Kovbel, bis Februar ein Kollege der ukrainischen Spieler, wird mit der lakonischen Einblendung abgebunden, dass er seit zwei Monaten verschollen sei. Auf den eingespielten Fotos ist eine besondere Bühnenpräsenz zu spüren. Eine bedrückende Vorstellung, dass wir diesen Schauspieler wohl nie mehr live auf einer Bühne erleben werden. Doch diesen Moment macht die Produktion dadurch kaputt, dass sofort weiter geplappert und gewitzelt wird und die albernste Passage des Abends folgt.

Ebenso bruchlos wird auch ein kurzes Audio eingespielt. Angeblich handelt es sich um einen Mitschnitt des ukrainischen Geheimdienstes, nähere Quellenangaben werden nicht gemacht. Handelt es sich bei den Ausschnitten, die vor Menschenverachtung und Zynismus nur so triefen, wirklich um Original-Dokumente russischer Soldaten, die in Telefonaten mit ihren Frauen über Vergewaltigungen und Kriegsverbrechen scherzen?

Interessant wird der Abend, der - wie Esther Slevogt zurecht betont - seinen Werkstattcharakter demonstrativ ausstellt, erst im letzten Viertel. Bis dahin erleben wir Frontal-Theater der drei Männer, die vor einem langen Schneidetisch stehen, auf dem sich Filmrollen stapeln. Erst als es schon fast zu spät ist, macht „Sich waffnend gegen eine See voll Plagen“ einen inhaltlichen und dramaturgischen Quantensprung.

Das mit Abstand stärkste Material, Tagebuchaufzeichnungen des Co-Dramaturgen Pavlo Arie aus den ersten Wochen nach Putins Angriffskrieg auf Kiew, kommt nun zum Einsatz. Holger Bülow sagt diesen Text nicht nur auf, sondern performt ihn und arbeitet die Nuancen und Zweifel heraus. In diesen Schluss-Passagen erleben wir die Eindrücke eines Künstlers, der sich quasi über Nacht mitten in einer militarisierten Gesellschaft im Kriegszustand wiederfindet und mit einer Mischung aus Entsetzen und subtilem Humor darauf reagiert.

Wenn hier noch weiter gebohrt und in Ruhe gearbeitet wird, könnte aus der Werkstatt-Fingerübung im zweiten Anlauf eine spannende Theater-Inszenierung entstehen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/09/11/sich-waffnend-gegen-eine-see-von-plagen-schaubuhne-kritik/
Sich waffnend..., Berlin: Kraft verspielt
Die ersten 15 Minuten sind der stärkste Teil des ganzen Abends, wenn die beiden ukrainischen Schauspieler von sich und vom Aufwachsen in der Ukraine erzählen. Wenn dann der deutsche Spieler dazukommt und über sein Schaubühnen-Schauspielersein, das Aufwachsen ohne Krieg laviert, das Umarmen auf der Probebühne und wie aufregend eine Live-Schaltung in die Ukraine live ist, fängt der Abend rührselig an zu verschwimmen und von da an wird es auch immer unklarer, was sein eigentliches Ziel ist. Dramatisches Nachsprechen von Augenzeugen-Berichten aus dem Krieg (das besonders beim deutschen Spieler sehr gekünstelt wirkt), alberne Spielszenen (die richtige Kriegsausrüstung packen) und schließlich völlig unkommentiert und inhaltlich nicht eingeordnet die abgehörten russischen Telefonate zwischen Soldaten und ihren Angehörigen. Bezeichnend ist, dass der einzige inhaltliche Konflikt zwischen den Spielern ein völlig dämlicher erfundener Streit über ein verschwundenes Butterbrot ist - gibt es keine wirklichen Diskussionen unter den Dreien zu diesem großen Thema?! Die letzte Viertelstunde spielt dann der deutsche Schauspieler mit maximal ausgestellter Emotionalität die Tagebuch-Szenen des Dramaturgen in Kiew zu Kriegsbeginn nach, einmal unterbrochen von einem der ukrainischen Darsteller, der in einer der Szenen wirklich anwesend war. Doch warum? Der Abend hat ohnehin einen völlig unklaren Begriff von kritischer Distanz, Einfühlung und Nähe. Der Schluss ist -pardon- Kitsch, sehr allgemein und pathetisch über das Sterben der Soldaten im Krieg. Black Out und sofort Standing Ovations. Schade - was mir bleibt, sind die ersten 15 Minuten und 2 Menschen, die einen Bezug zu diesem Krieg herstellen, die keine noch so unmittelbare TV-Reportage hat, sondern die von der Kraft des Theaters zeugt. Danach wird diese Kraft im wahrsten Sinne des Wortes "verspielt."
Kommentar schreiben