Mother Tongue - Maxim Gorki Theater Berlin
Auch eine Form von Emanzipation
12. September 2022. Mutter- beziehungsweise Elternschaft ist hochpolitisch. Lola Arias' neuester Rechercheabend zeigt die bunte Vielfalt von möglichen Familienmodellen und fragt nach unsichtbar gemachter Care-Arbeit – erfrischend entideologisiert.
Von Christine Wahl
12. September 2022. Sexuelle Aufklärung? In diesem Punkt hat sich die gute alte Bravo unsterbliche Meriten erworben. Das Teenie-Zentralorgan sei es gewesen, in dem sie erstmals nackte Menschen zu Gesicht bekommen habe, erzählt die Performerin Sandra Ruffin in Lola Arias' "Mother Tongue" am Berliner Maxim Gorki Theater.
Startschuss
Aber natürlich geht es auch überirdischer. "Meine sexuelle Aufklärung war die Bibel", berichtet Ruffins Bühnenkollegin Millay Hyatt und landet damit einen satten Lacher im Publikum. Und dann ist da noch Cochon de Cauchemar, die weder das Buch der Bücher noch das Blatt der Blätter als ihr sexuelles Sozialisationsmedium nennt, sondern Schulhof und Neighbourhood unweit von Saint-Tropez, wo Frauen- und Mädchenkörper wie Fleischstücke taxiert würden. Mit Verve springt Cochon auf einen Tisch in der Bühnenmitte und beginnt zu rappen: "Hure, es ist normal, dass mein Finger in deiner Muschi steckt". Die Show ist grandios, der Zuschauersaal tobt: Genau das muss sie sein, die "produktive Fehlaneignung" à la Judith Butler, mit der man derart misogyne und andere pejorative Grußadressen souverän aushebelt.
Das Kapitel "Sexuelle Aufklärung" gibt – gewissermaßen als unabdingbare Voraussetzung des Kinderkriegens – den Startschuss in Arias' jüngsten Rechercheabend, der sich in chronologischen Themenblöcken vom Kinderwunsch über die Geburt bis zum Politikum der Care-Arbeit und des Ämterstresses mit Mutter- beziehungsweise Elternschaft auseinandersetzt. Sieben Performer:innen stehen auf der von Mariana Tirantte entworfenen Bühne, einer Mischung aus Bibliothek, Wohnzimmer und leicht antiquiertem Naturkundemuseum. Klar: Die Reproduktionsgeschichte ist ein Jahrtausende-Projekt. Und die in Argentinien geborene und international arbeitende Theatermacherin Arias will dieses Massiv nun, wie im Programmzettel steht, um eine "Enzyklopädie der Reproduktion im einundzwanzigsten Jahrhundert" ergänzen.
Ein Regenbogen voller Familienmodelle
Wenn man es mit dem Akademismus verströmenden "Enzyklopädischen" mal nicht so eng nimmt und die Betonung eher auf das 21. Jahrhundert legt, hält der Abend dieses Versprechen durchaus: "Mother Tongue" ist eine Begegnung mit Familienmodellen, die sich von lange gültigen Paradigmen – etwa dem der biologischen Elternschaft – gelöst haben, mitsamt ihren bekanntlich ziemlich schwer wiegenden Überbauten. Mit Alice Gedamu taucht der Abend ein in den Status quo von Samenbanken, mit Millay Hyatt begibt er sich auf eine zehnjährige Adoptionsodyssee, mit der in Sambia gebürtigen Nyemba M'Membe streift er Alltagsrassismen einer sich selbst als diskriminierungsfrei definierenden Elternbubble, mit Kay Garnellen erzählt er von trans Vätern. Und mit Ufuk Tan Altunkaya erklärt er schließlich das Modell des "Co-Parenting", einer besonders in Berlin etablierten Praxis, wie Arias, die "Mother Tongue" bereits in Italien und Spanien gezeigt hat und den Abend jeweils länderspezifisch neu recherchiert und konzipiert, in einem Radiointerview berichtete. Wie "Co-Parenting" funktioniert, spielen Ufuk Tan Altunkaya und Kay Garnellen als schwules Paar sowie Sandra Ruffin als toughe Berlin-Mitte-Single-Psychologin – jeweils mit Kinderwunsch – auf der Bühne kurz an: Nach virtuellem Erstkontakt über eine Facebook-Gruppe sitzt man beim gediegenen Biotee mit Hafermilch am Rosenthaler Platz und plant, die Nachteile der klassischen Reproduktionsmedizin umgehend, en detail die Befruchtung via Inseminationsspritze und die anschließende gemeinsame Elternschaft ohne Intimbeziehung.
Dass in derartigen Modellen – wie in Elternschaft ohnehin – Dutzende gesellschaftspolitischer Fragen kulminieren, an die sich wiederum Aberdutzende entsprechende Diskursfelder knüpfen, liegt auf der Hand. Und das ist jetzt die Stelle, an der dringend gesagt werden muss, was Arias' Abend – im Gegensatz zu vielen anderen, die es zum Thema schon gab – alles nicht tut: Er problematisiert nicht die Reproduktionsmedizin, ist generell nicht sonderlich an Debatten interessiert und reißt die Themen, die er aufwirft, eher lässig an als den Ehrgeiz zu entwickeln, sie umfassend zu beleuchten. Zudem präsentiert sich Arias hier als Regisseurin, der der schmissige Song und die gelungene Pointe nicht weniger wichtig sind als der Gehalt ihrer Produktion.
Form von Emanzipation
Aber "Mother Tongue" schafft etwas anderes, und das ist bemerkenswert: Indem der Abend derart wertfrei relativ neue Familien- und andere Lebensmodelle auffächert – indem er sie einfach zeigt in ihrem Sosein – entideologisiert er das große, beladene Mutterschaftsthema. Bis hin zur Performerin, die nach einer Fehlgeburt und vier gescheiteren In-vitro-Versuchen in einer Art Selbstempowerment von der Bühne ruft, sie sollte jetzt eigentlich in der Kinderwunschklinik sein, stehe stattdessen aber hier auf der Bühne: auch eine Form von Emanzipation; und wahrscheinlich sogar eine ziemlich anspruchsvolle.
Apropos: Oft sieht man in feministisch gelabelten Bühnenperformances Schauspielerinnen, die sich an kanonischen Frauenfiguren abarbeiten, indem sie wortreich erklären, warum sie nicht Ophelia sein wollen und inwiefern das Gretchen eine noch größere Zumutung ist. Sicher richtig, nur bleibt die feministische Selbstkonstitution dort immer eine ex negativo: Frau definiert sich darüber, was sie nicht ist; aus dem Paradigma ausgestiegen wird so allerdings nicht. Lola Arias geht darüber hinaus, und in dieser Hinsicht ist "Mother Tongue" echte Pionierinnenarbeit.
Mother Tongue
von Lola Arias
Regie: Lola Arias, Übersetzung, Dramaturgie und Produktionsleitung Lola Arias Company: Laura Cecilia Nicolás, Bibiana Picado Mendes, Video, Licht und technische Leitung Lola Arias Company: Matias Iaccarino, Bühne und Kostüme: Mariana Tirantte, Musik: Meike Clarelli, Davide Fasulo, Choreografie: Luciana Acuña, Dramaturgie: Johannes Kirsten, Edona Kryeziu.
Mit: Ufuk Tan Altunkaya, Cochon de Cauchemar, Kay Garnellen, Alice Gedamu, Millay Hyatt, Nyemba M`Membe, Sandra Ruffin sowie Aiden, Lorca, Luwana, Mulenga und Zakia (im Video).
Premiere am 11. September 2022
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Paus
www.gorki.de
Kritikenrundschau
Kraftvoll, sympathisch, tief ins Herz fahrend und humorvoll sei Arias’ Dokumentartheaterabend, schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (12.9.2022). Man bekomme etwas vom Empowerment-Schwung ab und werde "in aktivistische Mittäterschaft gezogen", wenn Slogans gemeinsam mit dem Publikum gefeiert würden oder nach einem Zuschauer mit Verbindung ins Justizministerium gefragt werde. Jede der erzählten Geschichten böte ausreichend Stoff für eine mehrstaffelige Netflix-Serie, so Seidler. Dass die Performer:innen öffentlich zu ihrer Geschichte stünden, gehöre zum politischen Anliegen dieser Theaterproduktion: "Damit wird klargemacht, dass Mutterschaft politisch ist, dass kulturelle Tabus und Zuschreibungen noch immer als Naturgesetze verstanden und hingenommen werden und Staaten in die Gebärmutter hineinregieren." Am Schluss gebe es Standing Ovations für den "Mut zum Bekenntnis" und den Mut, die Suche nach dem Lebensglück "durchzusetzen gegen die brutalen Widerstände der Vorurteile und Gepflogenheiten".
Wenig lerne man an diesem Abend, er sei "eher Infotainment als Aufklärung", schreibt Michael Wolf im Neuen Deutschland (12.9.2022). Das Bühnenbild ahme eine Mischung aus Bibliothek, Archiv und Naturkundemuseum nach, projizierte Überschriften kündigten im Viertelstundentakt ein neues Thema an. Für die Berliner Version des Projekts, das schon in Bologna und Madrid gezeigt worden sei, habe Lola Arias Performer*innen gesucht, die thematisch aus ihren eigenen Biografien schöpfen könnten. Wenn Sandra Ruffin am Ende eines rasanten Monologs dem Publikum entgegen fauche, eigentlich müsse sie in der Kinderwunschklinik sein. aber sie spiele, "für euch!", erkenne man darin ein Gorki-Verfahren: "das direkte Adressieren des Publikums, das Gemeinmachen, das Reklamieren von Authentizität". Als Feinde sorgten hier lediglich "das Amt, die Anatomie oder die Spermienqualität" für Ärger. Politisch sei der Abend somit "erstaunlich unambitioniert".
"Die meisten Episoden sind im queeren Kontext angesiedelt. Ein Fokus liegt auf den rechtlichen Hürden, die etwa ein Transvater, der mit zwei lesbischen Frauen ein Kind hat, überwinden muss und auf den politischen Forderungen nach Verbesserungen des rechtlichen Rahmens", so Katrin Bettina Müller in der taz (13.9.2022). Die Inszenierung habe viel von einem Feature mit O-Tönen, ein Stück Dokumentartheater. Die Zuordnug der Informationen falle nicht immer ganz leicht. Der Abend stelle am Ende eine doch eher fragwürdige Utopie auf die Bühne: "Von Elternschaften, die auf Kollektive von mindestens zehn Menschen verteilt werden sollen. Von Samenspenden und Eizellen, die in allen zugänglichen Banken lagern. Das erinnerte dann eher an Science-Fiction-Szenarien, in denen die Kontrolle der Reproduktion der Anfang des Totalitarismus ist."
Lolia Arias setze ihre Protagonist:innen sehr empowernd in Szene", zu erleben sei ein "sehr Gorki-typisches, autofiktionales Erzählen, das in guter alter, aufklärerischer Tradition auf Horizonterweiterung abzielt". Es sei allerdings "schade, dass Arias Aktivismus so entschieden über Ambivalenz stellt", meint Patrick Wildermann im Tagesspiegel (13.9.2022). Die Regisseurin interessiere sich zudem "nicht für Zwischentöne", wie sie sich in Fragen von Elternschaft, etwa in Gestalt des Ko-Parenting ergäben.
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nachtkritikvorschau
Der Abend geht zwar von dokumentarischem Material aus, ist aber sehr bestrebt, nicht in die Graubrot-Falle zu tappen, die bei diesem Genre droht. Dialoge werden kabarettistisch zugespitzt, wie das Treffen von dem schwulen Deutsch-Türken Ufuk Tan Altunkaya mit der Berliner Sucht-Therapeutin Franzi als seiner potentiellen Co-Parenting-Partnerin bei Hafermilch in einem Berlin-Mitte-Café. Natürlich dürfen auch klassische Songs zum Thema Mutterschaft und Weiblichkeit nicht fehlen: von Madonnas „Like a Virgin“ über Heintjes „Mama“ bis zu Nina Hagens „Unbeschreiblich weiblich“ tanzt das Ensemble die Choreogaphien von Luciana Acuña, eine Strip-Einlage von Trans-Sexworker Kay Garnellen inklusive.
Stärker und dichter wird der knapp zweistündige Abend in seinen Schlusskapiteln. Aus queerfeministischer und migrantischer Perspektive werden die bürokratischen Hürden aufgezählt, die das deutsche Familienrecht in all seinen Verästelungen den Kinderwünschen entgegenstellt, die nicht der Norm der Bilderbuchfamilie entsprechen. Natürlich treffen sie damit einen Nerv beim Gorki-Stammpublikum, das auch nach der zweiten Vorstellung begeistert über dieses Empowerment jubelt. So jung und weiblich wie an diesem Abend ist ein Theatersaal selten besetzt.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/09/13/mother-tongue-lola-arias-gorki-theater-kritik/