"Vermenschlichung ist mir zuwider!"

15. September 2022. Ich spiele, also bin ich – und wenn ich nicht spiele, wer oder was bin ich dann? Und bin ich dann überhaupt noch? Das Theater St. Gallen eröffnet die Spielzeit mit zwei komödiantischen Kurzstücken von Theresia Walser.

Von Erich Nyffenegger

"Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm / Nach der Ruhe vor dem Sturm" von Theresia Walser am Theater St. Gallen © Toni Suter | t+t Fotografie

14. September 2022. Was soll das eigentlich für ein merkwürdiger Sturm sein, der da durch die Titel der beiden Kammerspiele von Theresia Walser bläst, also in "Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm" und "Nach der Ruhe vor dem Sturm"? Die Antwort hat freilich vergnügliche Seiten, wenn sich drei Schauspieler – offenbar in Vorbereitung auf eine Talk-Runde im Rundfunk – darüber in die Haare kriegen, ob und wie man Hitler darstellen sollte.

Alle drei sind dieses Wagnis schon eingegangen. Wobei jeder für den jeweils anderen und dessen Verkörperung bestenfalls Spot übrig hat. Dabei verkörpern die drei unterschiedliche Schauspielertypen, die wiederum drei Generationen zuzuordnen sind. Eine kleine Hitler-Hitparade im Wandel der Zeit.

Hämlet oder Hitler?

Da wäre der abgehalfterte Franz Prächtel, der irgendwie dem Regietheater nachhängt, wobei er Regisseure aus Prinzip verachtet. Sein Hitler muss mit der überheblichen Abwertung vom verbissen-neurotischen Peter Söst – ebenso schizophren wie köstlich von Marcus Schäfer gespielt – klarkommen, der immer wieder deklamiert, den Hitler nicht als Menschen dargestellt zu haben. "Die Vermenschlichung von Hitler ist mir zuwider!" Zwischen den beiden steht der junge, Ulli Lerch, der bald gesteht, dass es bei ihm zum Hitler-Darsteller nicht gereicht hat, sondern nur zum Goebbels. Das empört den Prächtel, der prächtig blasiert von einem glänzend präzise aufspielenden Bruno Riedl verkörpert wird und sich in seiner Divenhaftigkeit gern von den anderen hätte bedienen lassen. Selbst bei der Forderung nach einem schlichten "Hahnenwasser" neigt er zum Deklamieren und tut sich schwer damit, dass jüngere Generationen den Hamlet ans Englische angelehnt lieber "Hämlet" aussprechen.

Strohfeurige Wortgefechte

Zu der Sorte gehört Lerch – hübsch multi-grimassierend dargestellt von Julius Schröder – der nicht so recht weiß, wie er sich zu den zwei Älteren positioniert. Denn: Kann man eigentlich jemandes Darstellung von Hitler als grauenvoll loben? "Ich kann doch nicht sagen, dass ich Ihre Darstellung als Hitler schrecklich fand, oder?" Im neckischen Diskurs der drei Schauspieler in der Rolle von Schauspielern entbrennen zunächst strohfeurige Wortgefechte, vorerst noch auf Haltung bedacht, bald aber entgleist und roh. Dabei ist Julius Schröder als Lerch oft der bessere Hitler, auch wenn’s nur ein Goebbels ist.

In diesem Setting entfaltet Theresia Walsers Text nach und nach das klischierte Bild von Schauspielern, deren innerste Motivation die Selbstdarstellung auch ohne eine Bühne ist. Und damit unterstellt sie, dass es sich mit normalen Menschen im Leben auch nicht viel anders verhält. Bei Walser ist es manchmal einfach nur hübscher ausformuliert, etwa mit Sätzen wie "Man braucht einen Regisseur, damit die Kollegen ihre Rollen nicht überschätzen".

ruhe 3 Toni Suter uUnterschiedliche Karrieren: © Toni Suter | T+T Fotografie

Der zweite Teil des Abends zeigt wiederum Schauspielerpersönlichkeiten, diesmal zwei Frauen älteren Semesters. Mit dem Blick auf unterschiedliche Karrieren. Die eine, Irm König – mit hinreißender Arroganz von Birgit Bücker starrsinnig ausgemalt, auf 36 Jahre "Glücksschiff" im Fernsehen zurückblickend. Die andere, nicht weniger ernüchtert, Liz Hansen als Theaterschauspielerin, die das Auftreten im seichten Fernsehen als Sakrileg am Beruf empfindet.

Entsprechend bissig sind die Dialoge. Zwei Frauen, die sich mehr ankläffen als unterhalten. Bis sie sich doch noch auf einen gemeinsamen Nenner einigen können – nämlich die Pimmel-Perspektive, als das sie ein Theater der Männer geißeln. Und eine wunderbar zänkisch-zickende Diana Dengler sagen lässt: "Hinter uns liegen Jahrtausende wunderbarer Pimmel-Dramatik, keine Frage. Aber irgendwann, verstehen Sie, irgendwann ist es zu viel!"

Ungezähmte Spielfreude

Was uns die Inszenierung von Anja Horst und Jonas Knecht mit dem Text von Theresia Walser eigentlich sagen möchte? Dass Schauspieler auch nur Menschen sind und Menschen irgendwie Schauspieler. Und wir allesamt in unserer Absonderlichkeit auch nur unseren Job machen. Wichtig ist lediglich, wie man von der Bühne abgeht. Wahrscheinlich ist der strukturarme Text von Theresia Walser einfach zu schwammig, um sich einen stimmigen Reim auf die ganzen Parabeln des Abends zu machen. Und so bleibt die Aussage der Stücke wenig konturiert. Metaphern auf alles und nichts. Die Kargheit der Bühne in der vollbesetzten Zweitspielstätte Lokremise unterstreicht das Unbestimmte der Dialoge dabei noch.

Nur gut, dass sich eine verhältnismäßig kleine Stadt wie St. Gallen mit weniger als 80.000 Menschen ein Schauspiel-Ensemble mit derart hoher Qualität leistet. Denn die dünne, wahrscheinlich auf Selbstreflexion ausgelegte Schauspieler-Nabelschau hätte mit schwächeren Darstellern furchtbar schief gehen können. So aber gelingt der Abend als ein Reigen ungezähmter Spielfreude darstellerischer Kraft – auf schwachem Textfundament. Lustig zwar, aber lange nicht so tief, wie Theresia Walser sich das am Schreibtisch vermutlich ausgedacht hat.

 

Ein bisschen Ruhe vor dem Sturm / Nach der Ruhe vor dem Sturm
von Theresia Walser
Inszenierung: Anja Horst, Jonas Knecht
Ausstattung: Franziska Rast, Dramaturgie: Anita Augustin, Regieassistenz: Sina Wider.
Mit: Birgit Bücker, Diana Dengler, Julius Schröder, Marcus Schäfer, Bruno Riedl.
Premiere am 14. September 2022
Dauer: 1 Stunde 55 Minuten, eine Pause

www.theatersg.ch

Kritikenrundschau

Bereits in Walsers Originaltext wirke die Auseinandersetzung ein wenig hölzern, schreibt Valeria Heintges im St. Galler Tagblatt (16.9.2022 | €). "Die Tendenz unterstreicht die St. Galler Aufführung mit dem etwas klischierten Spiel der Akteure in ebenso klischierten Kostümen." Wenn nach der Pause die Damen das Wort hätten, zeige sich der Antagonismus weniger klischeehaft, "auch spielen Birgit Bücker und Diana Dengler die beiden Damen sehr genau. Daher wirken die Pfeile, die sie verbal aufeinander abschiessen, eher maliziös und nicht so prätentiös wie bei den Herren".

"Der Doppelabend, rasant inszeniert von Chefdramaturgin Anja Horst und Schauspieldirektor Jonas Knecht, bietet amüsante Einblicke in einen Theateralltag, in dem die Bühne mehr Jahrmarkt der Eitelkeiten als moralische Anstalt ist", resümiert Peter Surber im Kulturmagazin Saiten (16.9.2022). "Ein Ort, wo es auf den richtigen Abgang eher ankommt als auf die innere Haltung."

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